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MichaelKarl

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Veröffentlicht am 26.03.2022

Multum non multa: Ich war übrigens zu der Zeit Direktor der LSE (111)

Über Grenzen
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Der Wissenssoziologe Kurt H. Wolff (Jg.1912) äußerte in Trying Sociology (NY 1974) die Vermutung, dass er „unter Sozialwissenschaftler(n) (…) weniger Interesse an Erlebnismäßigem als an Theoretischem annehme.“ ...

Der Wissenssoziologe Kurt H. Wolff (Jg.1912) äußerte in Trying Sociology (NY 1974) die Vermutung, dass er „unter Sozialwissenschaftler(n) (…) weniger Interesse an Erlebnismäßigem als an Theoretischem annehme.“ (stw702, 13) Bei Lord Dahrendorf (RD, 1929-2009) trifft dies auch für die meisten der nicht mehr überschaubaren Publikationen zu, von ein paar Ausnahmen abgesehen wie in den „Reisen nach innen und außen (DVA 1984) oder in „Europäisches Tagebuch“ (Steidl 1994), etwa einen Rekurs auf die „Wahlheimat Bonndorf“, das Domizil im „Teilort Holzschlag“ (67) oder die Rückfahrten „zu nächtlicher Stunde durch das Jostal und durch Neustadt in unsere Ecke des Schwarzwaldes.“ (135) In seinem achten Lebensjahrzehnt nun also quasi ein dekonstruierter Dahrendorf (Das Patchwork) in „22 Geschichten“ (kurzen, verdichteten Kapiteln), die das 28. Lebensjahr am 1.Mai 1957 (12) „gleichsam (als) Entelechie“ verstehen und auffassen. (Kap.1) Übrigens stand auch der Vater im 28. Lebensjahr, „als ich geboren wurde.“ (35) „Was bleibt, ist ein sehr persönliches Buch der Erinnerungen“, in dem die bekannten Biografie-Highlights dieses eminenten Soziologen für einmal in den Hintergrund treten - mit 38 „mit Rudi Dutschke auf dem Autodach“, mit 42 EG - Kommissar, mit 53 von der Queen zum Ritter geschlagen (Sir Ralf) und mit 64 der Einzug in das britische Oberhaus (Lord Dahrendorf). Da waren die meisten Grenzen längst überwunden und der Hochgelehrte und Weltberühmte verspürte offenbar ein Bedürfnis, zu den nicht eben einfachen Anfängen zurückzukehren. Der Leser registriert eher en passant die Erwähnung von mehreren Suiziden in Dahrendorfs unmittelbarer Umgebung, die die Härten der Zeitläufte nicht zu ertragen vermochten und „freiwillig“ aus dem Leben schieden. Im 2.Kap. („Wurzelsuche“) geht es aber zunächst nur um Ahnenforschung, eine bei Soziologen sonst eher vernachlässigte Disziplin. Cousin Ingo aus Erftstadt ist die treibende Kraft und sammelt Beweise, dass die Dahrendorfs und ihr Anhang u.a. aus dem gleichnamigen Teilort im heutigen Altmarkkreis Salzwedel - der Stadt von Jenny Marx und Friedrich Meinecke - stammen (siehe auch Bild 15) und „einfache, ehrliche Leute“ waren, denen „viel an Ehrbarkeit und Anstand (lag)“, die aber früh aus den Schulen genommen und in Brotberufe gesteckt wurden, was sich erst bei RD geändert habe: „Wir acht (!) in meiner Generation waren allesamt in der Lage zu studieren.“ Der Bruder Frank ist fünf Jahre jünger als Ralf, wird Rechtsanwalt und Stadtverordneter, denn am Ende und schon beim SPD-Vater Gustav, dem MdR, ist „der wirkliche Wurzelgrund der Dahrendorfs“ die Hansestadt Hamburg (31-33), sodass weitere bekannte Hanseaten den Blick kreuzen, wie etwa H. Schmidt (116-18), W. Jens, C. Ahlers, J. Ponto, G. Bucerius, Th. Sommer oder Gräfin Dönhoff (109-12). Mit 21 Lebensjahren wollte RD Journalist werden und ähnlich wie Walser, Enzensberger und andere verdankte er seinem „Ritt auf den Radiowellen“ eine „gewisse Bekanntheit.“ (105) „Ralf ist so unpraktisch“ (28), weiß man in der Familie, aber erst im 16.Kap. ist davon die Rede, „dass ich seit 1947 Universitätsstudent war.“ (124) „Klassische Philologie“ war ein eher hartes Brot, zumal RD „zwischen 1938 und 1947 (…) auf sechs verschiedenen Schulen“ und im ersten Anlauf aufs Abitur ausgerechnet im Fach Englisch an dem durchaus unbedeutenden Wort chimney sweep gescheitert war. „Meine Bildung blieb punktuell, nicht generell. Überhaupt fehlte es mir an Allgemeinbildung.“ (101) Das interessierte den bekannten Gräzisten Bruno Snell indes reichlich wenig, als er von RD die kritische Edition einer Pergamenthandschrift aus dem 11.Jht. verlangte. (128) „Als Professor Bruno Snell mir die Doktorprüfung im Griechischen leicht machen wollte und mir Fragen zur griechischen Mythologie stellte, wäre ich beinahe durchgefallen.“ (101) Kap.3 - 13 handeln v.a. von den Jahren als Schüler, der „Blick auf das Klassenfoto“ zeigt schon in der Volksschule einen Knirps - „Förmlichkeit ist bis heute mein Stil geblieben“ (45) - unter Lederhosenträgern „als einziger“ mit Schlips und Krawattennadel, in den NS-Jahren aber eher aufmüpfig und flegelhaft, ein Tagebuchschreiber, der in der wilden und anomischen Zeit der ersten Kriegsjahre „einen Oberförster (…) Oberfurzer nannte.“ (53) Als „Hordenführer“ erreicht RD es, „als Kandidat() für die Jungenrolle in einem Aufmunterungsfilm (!)“ ausgewählt und bis „in die Endausscheidung in einem Studio in Babelsberg“ zu kommen, wo ein gewisser Hardy Krüger seine Filmkarriere startete. (55) Der 20. Juli (Kap.8) betrifft die Familie ganz unmittelbar, denn der eigene Vater steht am 20.10.44 neben Leber, Reichwein und Maass „vor dem Volksgerichtshof.“ (66) Ab Kap.14 wird der Lebensweg zu einer „Art Sternfahrt zur Freiheit.“ Mit 21 beginnt sie als Journalist (Kap.14) inkl. einer lebenslangen Affinität zur Tagespresse und zum Artikelschreiben - „die Faszination des gedruckten Wortes, die eitle Freude, den eigenen Namen als Autor zu sehen, und die noch eitlere Erwartung (schon dadurch …) einen profunden Einfluss auf die Welt und auf die Menschen auszuüben.“ (104) Kap.15+16 handeln den Politiker (115-23) wie den Gelehrten (123-32) ebenso kompakt wie uneitel auf unter 20 Seiten ab, eine Fahrt als Seemann über den Atlantik und die Umstände der ersten Diss (über Marx) beanspruchen gleichberechtigt die folgenden beiden Kapitel 17+ 18. (133-46) Bevor die LSE kommt (Kap.20), wird noch der Literatur und Poesie gedacht, und zwar in Rom, nicht nur die Stadt von Ingeborg Bachmann, sondern für RD sogar „der Inbegriff von Bedeutung.“ (150) Die zwei Jahre an der LSE ab 1952 waren bahnbrechend und machen aus dem Sozialisten, der Willy Brandt zu Füßen lag (121), einen Liberalen (120). Gelockt hat v.a. Karl Mannheims Diagnosis of our time, nachhaltig geprägt aber hat Karl Popper (163 u.ö sowie Bild 20), obwohl RD „den Weg zur Ökonomie nur langsam (fand)“ und in Klammern anfügt: „Ich habe eine wirtschaftlich argumentierende Bildungsreform nie akzeptiert.“ (117) Die Offenheit der Pluripotenz (ausgeborgt von den Forschungen über Stammzellen) führt zum PhD und am 1.7.1954 zum Dienstantritt in Frankfurt am Main bei keinem Geringeren als bei Max Horkheimer. Success at last? Weit gefehlt! Eher stand sehr bald der nächste (von 32) Umzug an, denn RD irritierte die sehr deutsche und sehr großbürgerliche Schieflage von Theorie und Empirie in der Heiligen Familie (Kap.21), diesen „Grosskopfeten und ihren kultischen Verrichtungen.“ (175) RD vermutete die Wirklichkeit eher bei den „Stahlkochern in Rheinhausen“ (177) und habilitierte sich mit einer Arbeit zur Industriesoziologie. (180) Er durfte Horkheimer an mondänen Orten wie Flims oder Montagnola noch Rede und Antwort stehen, aber Adorno war „ganz anders“ und eigentlich war der Mann „nicht von dieser Welt.“ (174) „Immer wieder stritten er und ich über Sinn und Zweck der Erfahrungswissenschaft.“
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Homo vulnerabilis zwischen Lockdown und Lockerung

Die Pest
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Das Wort „plague“ hat sich im Englischen ähnlich den biblischen „Plagen“ als Sammelwort für fast alle Arten von Plagen und Seuchen in der Geschichte behauptet. Das sollte nicht wundern, denn eine trennscharfe ...

Das Wort „plague“ hat sich im Englischen ähnlich den biblischen „Plagen“ als Sammelwort für fast alle Arten von Plagen und Seuchen in der Geschichte behauptet. Das sollte nicht wundern, denn eine trennscharfe Abgrenzung von Pandemieursachen wie Pest, Pocken, Cholera, Typhus oder Masern war durch das erschreckende Unwissen von Behörden und Ärzten, die von „Miasmen“ sprachen, „Schutzanzüge mit Schnabelmasken“ (35) trugen wie der Pestarzt Dr. Chicogneau (auf dem Titelkupfer von 1720) oder schlicht zur sofortigen Flucht rieten wie der Urmedicus Galen (24), über Jahrhunderte von einer peinlichen Hilflosigkeit gekennzeichnet und wurde von einer Neigung zum „therapeutischen Lügen“ (73) begleitet, das fachlich sogar reflektiert und empfohlen wurde (medicus prudens, 1614). Eine globale Pandemie hat uns 2020 völlig unerwartet aus der Bahn geworfen und die kurze Einführung des in Stuttgart geborenen Augenarztes und Medizinhistorikers Klaus Bergdolt (Jg. 1947) kommt da wie gerufen. Man kann Konstanten im Umgang mit Kontingenzen ebenso studieren wie die Schliche, mit denen sich Eliten, Amtsträger oder sonstwie Verantwortliche aus der Affäre zu ziehen oder an der Macht zu halten suchten. Schon Bergdolts kleine Einführung von 2006 ist voll davon und verweist auf eine Vielzahl von „Chronisten“ als Gewährsmänner. Wem das nicht reicht, kann zu der XL-Fassung greifen (4 Aufl. 1994-2017). Der Umgang von Eliten mit Pandemien ist aufschlussreich, denn Macht kommt nicht nur von „machen“, sondern auch von der massentauglichen Glaubwürdigkeit im Umgang mit dem Machbaren. Pandemien sind Zeiten, in denen überkommene Machtsysteme und tradierte Ungleichgewichte bei der Verteilung von Gütern und Geldern auf dem Prüfstand stehen und diese Probe ggf. nicht bestehen (27ff, 70ff). Für Egon Friedell markierte die Große Pest in der Mitte des 14.Jhts. z.B. den Anbruch einer neuen Zeit. (50) Die alten Stadtmauern schützten die sich sicher wähnenden Bürger vor Mikroben oder Viren eben nicht mehr. Eine „Umschichtung der Gesellschaft“ (50) kann das kleine Buch allerdings noch nicht widerspruchsfrei aufhellen. Während die Ärzte vor aller Augen versagten, legten die Medici in Florenz einen geradezu kometenhaften Aufstieg hin und eroberten das Stadtregiment einer der bald schönsten Städte der Welt. (56) Einerseits geht es also um das nie da gewesene Florieren von Handel und Gewerbe im Spätmittelalter: „Der Aufstieg des Mittelstandes, vor allem der Zünfte, war für die Zeit nach 1349 charakteristisch“ (68) und „der Handel, der vor der Pest bebte, hatte sie begünstigt!“ (71) Die Pest von 1348 war „selbst eine indirekte Folge der Stabilisierung der innerasiatischen Handelswege durch die Mongolenherrschaft.“ (70) Kam im Hochmittelalter ex oriente lux, drohte im Spätmittelalter von dort eher die Pest. (8) Die Lagunenstadt Venedig ist „als Exempel“ (74) Betreiberin und Nutznießerin des Levantehandels, was aber auch bedeutet, „dass die Stadt allein zwischen 1348 und 1576 mehr als zwanzigmal (!) heimgesucht wurde.“ (75) „Schiffe, Matrosen und Kaufleute“ (79) fungierten, wie wir inzwischen sagen, als „Superspreader“. Hafenstädte sind die ersten, die „verpestet“ werden und mit Quarantäne (von ital. quaranta = 40 Tage) reagieren (Marseille 1383, Seite 30). Andererseits sind es gerade diese aufblühenden Kräfte von Handel, Handwerk und Mobilität, die in der Zerreißprobe des Pandemiealltags die Macht in den Rathäusern übernehmen: „Objektiv versetzte der Schwarze Tod zwischen 1347 und 1351 den Adelsherrschaften bzw. der spätmittelalterlichen Aristokratie der toskanischen Städte den Todesstoß und führte zur Etablierung von Handwerkern und Zünften als neuen staatstragenden Gruppen.“ (47) Denn ein Versagen der Behörden kann die Bürger teuer zu stehen kommen: In Venedig verlieren nach Auskunft des zuständigen Dogen Andrea Dondolo „el terzo deli habitadori“ ihr Leben (74). Bis zum Sommer 1348 haben die meisten Stadtoberen den Rat Galens befolgt und sind aufs Land geflohen. Es kommt also quasi zu einem „government shutdown.“ (75) Dieser ist eine gute Basis für Verschwörungstheorien, die schon Seneca in „De ira“ in diesem Zusammenhang erwähnt mit seinem Wort von der „pestiletia manufacta“ (25). Pest und letztlich alle Seuchen sind von Menschen gemacht („man made“), aber keiner will es gewesen sein. Die Moral liegt ohnehin am Boden, denn die „Gute(n) starben und die Bösen überlebten“ (59), sodass man in Oberammergau seit 1633 alle zehn Jahre (außer 2020!) „in einem Passionsspiel des Leidens Christi zu gedenken“ beschloss. (61) Das Dilemma des homo vulnerabilis scheint also eine historische Konstante zu sein: Auch im Zeitalter von Atomraketen und Quantencomputern ist er über das Maß von Lockdown und Lockerung unschlüssig. Den obrigkeitlichen Strategien der „Verharmlosungen“ widmet der Autor ein kurzes Kapitel (70-73). „Die Regierungen hielten das Zurückhalten der Unglücksbotschaft offenbar sogar für ihre Pflicht“ (70) oder „sie reagierten (…) mit kalkulierter Verspätung“ (84). „Als die Hansestadt Bremen zwischen 1623 und 1628 dezimiert wurde, verzichtete der Rat aus populistischen und ökonomischen Überlegungen auf Versammlungsverbote. Trotz der grassierenden Seuche wurden Märkte und Volksfeste abgehalten.“ (71) Noch 1813 „entschloss sich der Rat (in Hamburg, MK) zu einer Verharmlosungsstrategie. Die ersten Pestfälle wurden als saisontypische, „hitzige“ Krankheiten verharmlost, wodurch wertvolle Zeit für Vorsorgemaßnahmen verstrich (Boysens).“ (71) Wenn die Magistrate aber dann doch handelten, konnte es sowohl für das eingesetzte Personal (Witwen, Nonnen, Ordensangehörige, 29) ebenso gefährlich werden wie für Bürger, die gegen die erlassenen Verbote (etwa der Einreise, 74f) verstießen. Eigentlich „lebensgefährlich“, denn ganze Konvente „starben (…) nicht selten aus“ (29) und auf Gebotsübertretungen stand nicht selten die Todesstrafe: „Die notwendige Sozialdisziplinierung war hart und nicht ohne Drohungen durchsetzbar.“ (79) Die wirtschaftlichen Folgen waren in jedem Fall schon damals gravierend: „Geschäfte und Gewerke kamen zum Erliegen.“ (86) Die hochgradige Ansteckungsgefahr (Kontagiosität, 32) wurde unterdessen allenthalben beobachtet, nur dass man aus Mangel an grundlegendem Wissen beim therapeutischen Zugriff zwar Himmel und Hölle in Bewegung setzte, was den Einfluss der Gestirne (Astrologie) ebenso einschloss wie das Walten eines auf Rache sinnenden Gottes (Theologie), damit aber (natürlich!) nur wenig Wirkung erzielte. Der Arzt und Humanist Felix Platter (1536-1614) habe „neun Epidemien überlebt()“ (35), aber der eigentliche, eher stille Held von Bergdolts gelungener Einführung in die Gegenstände der historischen Seuchenforschung wirkte als Erzbischof in Mailand und hörte auf den Namen Karl Borromäus (61,72,82).
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Lindner! Kaffee holen: Grüß mir mein Hawaii!

Fast ein bißchen Frühling
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Der Leser nimmt ein Buch zur Hand, das 2002 erschienen ist und eine lange Vorgeschichte hat. Es stammt von einem 1961 geborenen Autor, der sich in Basel zum Historiker auszubilden gedachte, wo auch Jacob ...

Der Leser nimmt ein Buch zur Hand, das 2002 erschienen ist und eine lange Vorgeschichte hat. Es stammt von einem 1961 geborenen Autor, der sich in Basel zum Historiker auszubilden gedachte, wo auch Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche oder Frantisek Graus im Fach und am Ort wirkten. Aus dem Historiker wurde aber in diesem Fall ein freier Schriftsteller und das Buch über den Fast-Frühling sein erster Erfolgsroman. Wie man hört und liest, war es eine recht schwere Geburt, von der Entdeckung der Presseberichte aus den 1930er Jahren über das junge Bankräuberpaar, das die Stadt Basel wochenlang in Atem hielt, zu der Aufbereitung in Romanform in 24 vielschichtigen Kapiteln. Die reißerische Geschichte beginnt am 13.12.1933 im „Personalerfrischungsraum“ des Kaufhaus Globus am Basler Marktplatz (Kap.1) und endet (unweit davon) am 21.1.1934, einem Sonntag, im Margarethenpark, der von 800 Polizisten umstellt, aber nicht gestürmt wird, weil die beiden deutschen Bankräuber vom Jahrgang 1910, die die Liebe zur Technik und ein inniges Verhältnis verband, wie Kleist und seine unglückliche Gefährtin seinerzeit am Wannsee gemeinsam und von eigener Haus aus einem unerträglich gewordenen Leben schieden. (Kap.21) In Sandwegs Schädel fanden sich bei der Obduktion zwei Kugeln aus Veltes Revolver. Die Zeitungsschreiber, zu denen Capus einst selbst gehörte, ziehen am Montag, dem 22.1.1934, „eine Bilanz des Dramas“ und berichten u.a., „Velte und Sandweg hatten Mut, Draufgängertum, wollten, dass das Leben einen hohen Einsatz von ihnen fordere.“ (Kap.22) Ein derart wuchtiges Elexier aus Romantik und nachweisbarer Realität haben manche Leser für allzu toxisch angesehen, es gibt aber bis zum heutigen Tag auch Schulklassen, die den Deutschunterricht dank Capus wieder etwas interessanter finden. Ich zitiere die Schülerin einer 9.Klasse, die sich 2020 über die Beziehung von Marie Stifter und Ernst Walder, den Großeltern des späteren Ich-Erzählers und Beteiligten am historischen Geschehen um Velte und Sandweg, in Aufsatzform Gedanken machte: „Ernst Walder scheint sehr darauf fixiert zu sein, nach außen hin im Dorf als ´perfekter Sohn´ betrachtet zu werden, weshalb er auch so vielen Aktivitäten im Dorf überhaupt erst nachgeht und im späteren Verlauf des Buches Marie schließlich einen Heiratsantrag macht. Damit (!) er im Nachhinein nicht derjenige ist, über den im Dorf erzählt wird, wie er von seiner Freundin für einen fremden Typen, Kurt Sandweg, womöglich verlassen wurde. Marie will das alles im Herzen gar nicht, das arrangierte Heiraten, das isolierte Dorfleben oder ihre durch die Familie bereits festgelegte Zukunft.“ (Emelie B.) Emelie hat auch erkannt, dass die Schuhreparatur, zu der sich Ernst Walder rollenkonform gezwungen sieht (Kap.8), in Anspielung auf „Aschenputtel“ Blut in den Schuh fließen lässt. Bei aller Kritik an Capus´ Neigung zu poetischen und empirischen Kraftmeiereien möge man also nicht übersehen, wie der Autor mit seinen penibel und aufwändig recherchierten Doku-Fiktionen den aktuellen Zeitgeist immer noch trifft und dabei, altmodisch gesagt, am Schicksal fast jeder Einzelfigur, also an Demokratie, Humanität und Solidarität, ein aufrichtiges und glaubwürdiges Interesse zeigt. Es lebe die Schweiz! Neben Marie Stifter ist es Viktoria (Dorly) Schupp, die den Wuppertaler Desperados, die sie als der Finne und der Österreicher wahrnimmt, Chancen einräumt, nachdem die Ehe mit dem einheimischen Steuerbeamten und Radrennfahrer Anton Beck in die Brüche gegangen war und die nun über 30-jährige Frau wieder bei ihrer inzwischen verwitweten Mutter wohnen musste. Das Kaufhaus Globus ist auf der Höhe der Zeit und hat Abteilungen für Sport und Langspielplatten eingerichtet, in denen Marie und Dorly ihre Existenz als unabhängige und selbst bestimmte Frauen sichern können. Dorly muss dafür aber ihr wahres Alter verbergen, denn in einer Abteilung mit Tango-Rhythmen aus dem heißblütigen Argentinien ist in der kalten Winterluft am Rheinknie wenig Verständnis fürs Älterwerden und die Sorgen in einer modernen Arbeits- und Alltagswelt. Die eigentlichen Helden von Capus´ erstem Erfolgsroman sind also wirklich nicht die beiden aus Nazi-Deutschland und dem Ruhrgebiet geflohenen Ingenieure aus Wuppertal oder irgendwelche Bankdirektoren oder gar Staatslenker, sondern schlicht, aber ergreifend die kleinen Leute mit eben diesen Sorgen aus dem modernen Arbeits- und Freizeitalltag. Den Hauch von Frühling (Kap.12) oder jene „halbe Stunde Freiheit und frische Luft“, die sich ein Azubi im zweiten Lehrjahr bei seinen „Botengänge(n) zur Hauptpost“ zum Durchatmen genehmigt (Kap. 10), erfrischen den Alltag von kleinen und sehr kleinen Leuten, die von vornherein wissen, dass die Haupt- und Staatsaktionen garantiert über ihre Köpfe hinwegrollen und wenig Rücksicht auf sie nehmen werden, wenn sie ihren privaten und beruflichen Pflichten in Familien, Gaststätten, Herbergen, Bankfilialen oder Kontoren Tag für Tag still, fleißig, zuverlässig und ohne zu murren nachgehen: „Lindner! Kaffee holen.“ (Kap.2) Dem Schüler Marlon K. aus der eben zitierten Klasse 9 hat dieses Anliegen des Autors Alex Capus ebenfalls imponiert: „Capus lässt in diesem Buch Krimi, Romanze und Realität zu einem harmonischen Meisterwerk zusammenfließen, für das man sich noch Jahre nach dem Erscheinen begeistert. (…) An dieser Stelle möchte ich ein Lob aussprechen für einen großartigen Roman, aber vor allem für jene Mühen, die der Autor auf sich genommen hat, um alle Quellen zusammenzutragen.“
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Lebenszeichen aus Friedenau und Sheerness

Der Briefwechsel. 1964–1983
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Der Briefwechsel umfasst 230 Druckseiten mit 125 Briefen und beginnt am 14.10.1964 mit einer Betroffenheitsadresse aus Frankfurt/M. - Lieber Uwe Johnson, Herzlich Ihr Frisch -, die der Angeschriebene am ...

Der Briefwechsel umfasst 230 Druckseiten mit 125 Briefen und beginnt am 14.10.1964 mit einer Betroffenheitsadresse aus Frankfurt/M. - Lieber Uwe Johnson, Herzlich Ihr Frisch -, die der Angeschriebene am 22.10 aus Friedenau mit einer Erklärung beantwortet, „dass ich nach wie vor ungelenk bin im small talk.“ (12) In einer (von zahlreichen) Fußnote(n) wird der Anlass der Begegnung und der Verstimmung berührt (4.10. Lesung in Bücherstube); drei Tage zuvor soll es bei Grass in der Niedstraße im Beisein von Enzensberger und Bachmann vom Hausherr gekochten „Hasenpfeffer“ gegeben haben. (11, FN1) Es folgen nur zwei Briefe (Nr. 3+4) im Abstand von je etwa zwei Jahren. Erst 1970 erhöhen sich Frequenz und Intensität des brieflichen Austausches, denn am 21.12.70 verlautet (aus Berzona), „weil das Buch (…) einen großen Eindruck macht, es liegt wie ein erratischer Block in unserer gegenwärtigen Literatur.“ (16) Im Herbst 1970 war der erste Band der „Jahrestage“ erschienen. Dem steif - ironisch angelsächselnden Johnson - „melde gehorsamst das Auftreten einiger Vorfreude“ (34) - wird aus NY Zuwendung zu seiner bevorstehenden Büchnerrede zuteil, wie umgekehrt Johnson Frisch das Fracksausen vor der Paulskirchenrede erträglicher gestalten hilft. Johnson lektoriert auch Maxens neue Tagebuchedition (1966-1970), die Korrekturvorschläge sind in voller Länge ab Seite 245 abgedruckt. Max ist des Lobes voll: „Sie sind der beste Lektor, den ich bisher gehabt habe.“ (20) Uwe macht aber auch den Syndikus für fünfstellige Spendengelder in Schweizer Franken, die Max den Briefen in Form von Verrechnungsschecks beilegt, oder gar den Immobilienmakler, wenn er Max beim Sondieren des Friedenauer Immobilienmarktes unterstützt. (47, FN 65 + 50, FN 72) Weitere Dienstleistungen werden immerhin angedeutet (51, FN 76) und die Suhrkamp - Autoren treffen sich z.B. am 6.12.72 in Küssnacht, wenn nicht zum Rütli - Schwur, so doch „zu einem Arbeitsgespräch“, zu dem Uwe den Martin (Walser) mitbringt, obwohl es „eine nicht immer unproblematische Freundschaft mit Uwe Johnson“ gab. (51, FN 74) Zum Spendenthos von Max Frisch wird unterdessen notiert: „MF vergibt jährlich sfr. 90.000.“ (67, FN 98) Johnsons Abwanderungspläne unterstützt Frisch trotz erklärter Trauer über den möglichen Wegzug aus Friedenau: „Das Darlehen, das Sie dafür brauchen, 120.000 DM, wie Sie sagten, kann ich ohne weiteres geben (…); das Geld ist nun einmal da, viel zu viel für mich.“ (76) 1974 wurden angehende Deutschlehrer auf dem „zentralen französischen Examensprogramm“ über Johnsons Buch „Mutmaßungen“ geprüft und Johnsons Empathiestärke erweist sich darin, „dass ich den Kandidaten noch in letzter Minute Material gegen ihre beamteten Parzen (!) liefern wollte.“ (78) Zum 4.8.74 werden „Erkundungen in Sheerness-on-Sea“ erwähnt sowie die Existenz von „Reihenhäusern in wenig mehr als vier Mustern, durchquert von einem Broadway, der ein Gemeinwesen bloß herstellt als Einkaufsstätte.“ (83) Johnson schätzt Sheerness auf „etwa 14.000 Einwohner“, in den „sommerlichen Monaten deutlich umfranst von Badegästen, die sich bloß solch steinigen Strand leisten können.“ (86) Bald kommt Unseld - „unser aller Siegfried“ (120) - zu Besuch, bestellt im Gedenken an Ja-mes Joyce ein Guinness und „ist heikel betroffen von der Farbe und dem Aroma des Ge-tränks.“ (90) Am 13.12.74 sah man das neu erworbene Haus der Familie Johnson auf Sheerness „schrumpfen unter den etwa 160 Bücherkartons, die hineingetragen wurden.“ (98) Nach erfolgtem Einzug lieferte Johnson für Marianne Frisch brieflich eine mehrere Druckseiten lange Auslegung der Erzählung „Montauk“ (104-107), ohne damit die ungleiche Beziehung (111 u.ö.) oder seine eigene um den sog. „Hinterhand´schen Komplex“ (149) noch zu retten. (204) Auch die eigene Gesundheit stand nun auf Messers Schneide, wie die „Ambulanzfahrten zum Landeskrankenhaus Maidstone“ früh zeigen… (134)
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Die Kultur des Lesens als eine peregrinatio in stabilitate

Im Weinberg des Textes
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Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren. Sein Vater stammte aus Kroatien und war von Beruf Bauingenieur. „Ivan Illich ist Sohn eines katholischen Dalmatiners und einer lutherisch getauften deutschen Jüdin, ...

Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren. Sein Vater stammte aus Kroatien und war von Beruf Bauingenieur. „Ivan Illich ist Sohn eines katholischen Dalmatiners und einer lutherisch getauften deutschen Jüdin, er besitzt die amerikanische Staatsbürgerschaft und ist unverheiratet.“ (TAZ 30.7.2001) Wie eine Romanfigur in Robert Seethalers „Der Trafikant“ unterhielt die Familie Illich in Wien private Kontakte zu dem berühmten Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. 1942 legte Ivan die Reifeprüfung in Florenz ab, wo er bis 1945 auch ein Chemiestudium absolviert, gefolgt bis 1951 von den Fächern Geschichte, Theologie und Philosophie am Collegium Romanum in Rom. 1950/51 wird Ivan zum Priester geweiht und parallel dazu über eine Studie zur Geschichtsschreibung von Arnold Toynbee an der Universität Salzburg zum Doktor promoviert. Es folgt ein Habilitationsprojekt über Albertus Magnus an der Universität in Princeton, das Ivan zugunsten einer Tätigkeit als Armenpriester im Elendsviertel Upper West Side in NYC aufgibt. „Im Weinberg“ erscheint 1990 unter dem Titel „L´Ere du livre“ in Paris und unterzieht einen Fixstern der Gutenberg-Galaxis einer subtilen Analyse. Es handelt sich um Hugos Didascalicon aus dem 12. Jht., das in 125 Handschriften überliefert ist (168) und in etwa „dem Unterricht Dienendes“ bedeutet (135). Die Gegenbewegung findet sich in das helle Holz einer Kirchentür der St. Giles Cathedral im schottischen Edinburgh eingraviert: Facta non verba ist dort zu lesen. Illich geht mit seinem Buch „zu den Ursprüngen der Buchherrschaft“ zurück. (8) Die Lesekundigen „hatten einen eigenen sozialen Status“ und „das Zeitalter des Buches hat den privaten Raum ebenso gebraucht wie Zeiten des Schweigens, die von anderen respektiert wurden.“ (9) Beim Übergang von Gutenberg zu Zuckerberg mussten aber die meisten Bücher den ubiquitären Bildschirmen weichen, die sich „viral“ ausbreiteten wie die asiatische Beulenpest. Bei Hugo war das Lesen noch „eine ontologisch heilende Technik“ (18) und das Buch eine „Arznei für das Auge“ (27). Durch das Lesen von Büchern wurde das Klosterleben unter der Maßgabe einer stabilitas-loci-Regel dynamisiert zu einer perigrinatio in stabilitate (29) und eine späte Folge dieser weitgehend karbonfreien Beweglichkeit findet sich bei dem Konstanzer Literaturwissen-schaftler Bernd Stiegler, der eine History of Armchair Travel (Chicago 2013) veröffentlichte, die 2010 als „Reisender Stillstand“ erstmals erschienen war. In diese Art „Selbstbegrenzung“ hat Illich bereits 1975 mit einem Buchtitel eingeführt, der auf eine „politische Kritik der Technik“ abzielt und „eine Begrenzung des Wachstums nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern vor allem mit dem Ziel, den Menschen wieder zu einem autonomen Wesen werden zu lassen. Illich formulierte hier nicht nur erste Elemente einer allgemeinen Theorie der Industrialisierung, sondern legte zudem eine radikale Kritik der Institutionen und der Expertenzünfte vor.“ (CH Beck)
Michael Karl

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