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Nilchen

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 21.07.2022

Andre Sprachen, andere Schreibstile

Dämmerstunde
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„Im Lauf der Zeit sorgt menschliche Schwäche dafür, dass man nur einen Bruchteil von seinen ursprünglichen Idealen aufrecht erhält – den Rest passt man eben an, sofern man ihn nicht vollkommen über Bord ...

„Im Lauf der Zeit sorgt menschliche Schwäche dafür, dass man nur einen Bruchteil von seinen ursprünglichen Idealen aufrecht erhält – den Rest passt man eben an, sofern man ihn nicht vollkommen über Bord wirft. Aber selbst das wenige, dass man eigentlich aufrechterhalten wollte, landet letztendlich oft in einer Rumpelkammer der bloßen Erinnerung – das übliche Schicksal von Altenkrempe, für den man schon die längste Zeit keine Verwendung mehr hatte.“ (S. 14)
Dieses Buch ergründet anhand einer fiktionalen Biografie wie der Zufall des Geburtsortes die eigene Zukunft bestimmt. Bak Minu hat es geschafft aus einem Vorort von Seoul sich durch harte Arbeit und Glück hochzuarbeiten und ist angesehener Architekt mit eigener Baufirma. Der Roman erzählt, nicht geradlinig, wie dieser Werdegang verlaufen ist. Reflektierend aus der Sicht von Bak Minu. Hinzu kommt eine zweite Erzählebene, die uns mitnimmt in das traurige Leben der Uhi in der Gegenwart, eine junge Frau, die Regisseurin werden will und nachts zum Überleben in einem 24h-Shop arbeiten muss. Sie haust in einem Souterrain-Zimmer. "Aber keine Bange. Letzten Endes geht's auch mir ums Überleben." (S.87)
Natürlich haben die beiden Erzählstränge miteinander zu tun und natürlich ist es keine leichte Lektüre die hier vorliegt. Aber bereichernd. Der Text ist stoisch und sehr monoton erzählt und doch hat er eine gewisse Kraft und dringt mit seiner Botschaft immer wieder durch. Der Erzählstil ist nüchtern, aber doch mit Anklang zur Poesie. Auch hat mich positiv gestimmt, dass so viele koreanische Elemente enthalten sind, wenn da von Sojus, Gwangju und vielen anderen Begriffen die Rede ist. In der Tat hätte der deutschen Ausgabe ein Glossar gutgetan.
Bezeichnet ist die bauliche Veränderung die um und in Seoul vor sich ging in den letzten Jahrzehnten. Hier wird eindringlich beschrieben wie der Slum verlassen wurde, wie die Städte immer weiter ausfransen, wie der Platz und Raum für die stetig wachsende Bevölkerung nicht nachkam. Auch die wenig menschenfreundliche Art mit Mitarbeitern umzugehen ist ein Kernelement dieses Romans. Leben wurde und wird wenig Wertschätzung entgegengebracht.
Hwang Sok-Yong hat 2015 diesen Roman im Original vorgelegt, nun ist er von Andreas Schirmer ins Deutsche übertragen worden. Dämmerstunde ist ein eigenständiges Werk vom Autor, auch wenn der Klappentext hier irreführend sein kann. Und, wenn das Buch nun gelesen werden sollte, ganz dringend das Nachwort lesen, wenn nicht sogar vorab! Das setzten die Geschichte auch noch einmal in ein anderes Licht.
Fazit: Wer gerne mal sehr koreanisch lesen möchte, ist hier bestens bedient.

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Veröffentlicht am 11.07.2022

Urbanes Gesellschaftsreflektion

Der Biss
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Früher war alles mal anders…. Und nun ist die Welt mehr als komplex und viele werden leider abgehängt. Florian Scheibe gibt uns mit seinem Roman „Der Biss“ ein literarisches Hilfsmittel an die Hand uns ...

Früher war alles mal anders…. Und nun ist die Welt mehr als komplex und viele werden leider abgehängt. Florian Scheibe gibt uns mit seinem Roman „Der Biss“ ein literarisches Hilfsmittel an die Hand uns diesem gesellschaftlichen Wandel einmal fiktional zu nähern.
Es geht im Grunde genommen um einen Vorfall auf dem Spielplatz. Da ist zum einen die Familie die nach neusten Idealen und Vorstellungen lebt. Vegan, nur Bio, David ist Hausmann mit all der Care-Arbeit für den Sohn Jonas, Sybil macht Karriere und ist Nachhaltigkeitsbotschafterin. Natürlich haben die beiden eine tolle Wohnung in hipper Berliner Lage. Jonas, der Sohn ist schwierig und da liegt auch der Pfeffer im Korn.
David ist mit Jonas auf dem Spielplatz und da geschieht es : „Der Biss“. Ein anderes Kind beißt Jonas und David rastet förmlich aus. Der Vater des anderen Kindes ist völlig perplex und versteht die Situation nicht, weil seine Deutschkenntnisse sehr limitiert sind. Petre und seine Frau Aurica kommen aus Rumänien und erhoffen sich ein besseres Leben in Deutschland. Sie ist Krankenschwester, deren Berufsausbildung nicht anerkannt wird und er ist Koch und auf der Suche nach Arbeit.
Der Roman stellt diese diametral gegenüberliegenden Lebenssituationen sehr gut dar und beleuchtet die Gegebenheiten. Hier prallen zwei Welten mit voller Wucht auf einander und die Geschichte spiegelt uns hier so viele Themen die mit Zuwanderung, Gentrifizierung, Diskriminierung, Bubble-Leben, Privilegiertes Leben, Zukunftsvisionen vs Ängste. Ein spannendes gesellschaftliches Portrait unserer urbanen Zeit.
Es gab einige unnötigen Stellen, die den Roman nicht bereichert haben. Das hätte Florian Scheibe sich sparen können. Aus meiner Sicht fast kontraproduktiv zum Kern des Romans. Aber davon mal abgesehen eine gute Lektüre.

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Veröffentlicht am 01.07.2022

Kinder Roadtrip, nicht ohne, aber mal was anderes

Sommer mit Krähe
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Also, wer mal ein Kinderbuch sucht, dass sich so in keine Schublade pressen lässt, leicht abgefahren ist und skurril, dann greift zu: ‚Sommer mit Krähe‘ von Frida Nillson aus dem Gerstenberg Verlag.
Es ...

Also, wer mal ein Kinderbuch sucht, dass sich so in keine Schublade pressen lässt, leicht abgefahren ist und skurril, dann greift zu: ‚Sommer mit Krähe‘ von Frida Nillson aus dem Gerstenberg Verlag.
Es geht hier um ein Kind, Ebba (spannend ist, dass nie thematisiert wird ob sie ein Mädchen ist oder nicht, sehr neutral gehalten) die sich in Schweden mit ihrer Krähe namens Krähe aufmacht deren Eltern zu suchen. Das Einzige was sie haben ist ein Foto von der schwedisch-norwegischen Grenze mit Krähe und seinen Eltern darauf.
Die Beiden erleben einen echt spannenden Roadtrip der mit LKW-Trappen beginnt, es folgt unter anderem eine Draisine mit Franzose, dann ein Floß und ein Band-Tourbus. Innerhalb dieser Reise müssen Schlafplätze gesucht werden, hungrig sind sie auch so einige Male und sie müssen sich mit so allerlei Menschen auseinandersetzen. Aber Ebbas Eltern sind kein Thema, erscheinen nie im Buch. Nie sind die beiden ängstlich und blicken immer mit einem sehr wohlwollenden, fast naiven Blick auf die Gegebenheiten und begehen dabei jede Menge Straftaten.
Da hier vieles passiert, dass in der echten Welt ganz und gar nicht möglich ist bzw. viel zu gefährlich wäre, macht es einerseits natürlich spannend und aus meiner Sicht zu dem was Literatur leisten kann: die Grenzen sprengen und sich anders in die Welt eindenken. Andererseits verharmlost es natürlich Dinge, die ein Kind niemals alleine tun sollte: Trampen, Klauen, Einbrechen, alleine draußen schlafen usw… Daher ist mein Resümee, dass dieses Buch sich besonders zum Vorlesen in der 3.-4. Klasse eignet. Am besten im Urlaub, wenn man ohnehin gemeinsam auf Reisen ist und das gelesene noch gemeinsam reflektieren kann. Ich kann nur von meinen Kindern ausgehen, die finden es gut, aber würden den „Quatsch“ wie sie es nennen, nicht nachmachen.
Letztendlich steht die innige Freundschaft zwischen Ebba und der kauzigen Krähe im Vordergrund und thematisiert besonders schön, dass man Andere die man liebt, ziehen lassen muss um ihr eigenes Lebensglück zu finden. Und DAS macht es für mich so gut.
Frida Nilsson hat schon einige Preise abgeräumt und ist in Schweden einer DER Kinderbuchautorinnen. Das Buch wurde sehr gut von Friederike Buchinger übersetzt. Was mir persönlich fehlte und gut auf das Vorsatzpapier gedruckt werden könnte ist die Route durch Schweden, die dieser Roadtrip nimmt.

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Veröffentlicht am 06.05.2022

„Wir haben übrigens denselben Vater.“

Das Vorkommnis
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‚Das Vorkommnis‘ ist der Auftakt einer Trilogie, dass der Biografie einer Frau. Es beginnt mit genau dem titelgebenden Vorkommnis. Die Protagonistin ist Autorin und beendet soeben eine Lesung in Lübeck. ...

‚Das Vorkommnis‘ ist der Auftakt einer Trilogie, dass der Biografie einer Frau. Es beginnt mit genau dem titelgebenden Vorkommnis. Die Protagonistin ist Autorin und beendet soeben eine Lesung in Lübeck. Es kommt eine Frau auf sie zu und sagt: „Wir haben übrigens denselben Vater.“
Und das ist der Satz der alles ins Wanken bringt. Nicht sofort, denn die Erkenntnis über das Vorkommnis muss noch einsickern. Aber dann setzt es sich fest und bringt das familiäre Gleichgewicht aus Elternhaus und eigener Ehe ins Wanken. Alles wird in Frage gestellt und hinterfragt. Sie nimmt die neue Erkenntnis der Halbschwester mit und trägt sie wie eine Schwangerschaft mit sich herum. Bis nach Detroit wo sie ein Schreibstipendium antritt.
Es ist das was man von Julis Schoch erwartet. Leise mäandert, sezierende Gedanken. Ein entschleunigtes Lesen. Man muss gewillt sein ihr in jeden Winkel der Gedanken folgen zu wollen und das in einer starken Prosa. Ich mag Julia Schochs Schreibstil ungemein, auch wenn ich ihr inhaltlich nicht ganz zuträglich bin. Es mag paradox erscheinen, aber ich lese Julia Schoch fast ausschließlich wegen ihrer Schreibkunst und nicht des Inhalts wegen.
Fazit: Knappe 200 Seiten in Gedankenwühlerei, wenig Substanz, aber sprachgewaltig tolle Prosa.

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Veröffentlicht am 04.05.2022

Im Stich lassen

Die Molche
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Es sind die 60er Jahre im tiefsten Bayern. Die Gesellschaft ist immer noch dabei sich zu finden, taumelte sie doch erst aus einem Weltkrieg heraus und befindet sich nun mitten in einem wirtschaftlichen ...

Es sind die 60er Jahre im tiefsten Bayern. Die Gesellschaft ist immer noch dabei sich zu finden, taumelte sie doch erst aus einem Weltkrieg heraus und befindet sich nun mitten in einem wirtschaftlichen Boom. Diese Diskrepanz von mentaler Verarbeitung und offensichtlich materiellem Fortschritt klafft weit auseinander. In dieser Gemengelage lebt der 11jährige Max, der mit seiner Familie als Zugezogene hier leben muss. Sein Bruder und er haben fortlaufend großen Ärger mit der Bande um Tschernik und das Unglück geschieht: Max Bruder wird von den angreifenden Steinen der Bande erschlagen. Im Dorf wird es als Unfall gewertet und Max bleibt mit seiner Schuld alleine, denn er machte sich vom Acker aus Selbstschutz.
Der Roman wird aus Max Perspektive erzählt und nur zum Ende betrachten wir die Welt aus den Augen eines Mädchens. Max versucht mit seinem Schmerz und dem einhergehenden Schuldgefühl zu leben und kämpft mit sich. Hat er doch Wenige, denen er sich öffnen kann. Die Eltern waren physisch anwesend, aber mental nicht für ihn erreichbar.
Überhaupt für einen 11jährigen ist Max sprachlich und geistig extrem reflektiert. Natürlich, es ist eine fiktive Geschichte, die uns hier erzählt wird und dadurch Spielraum ermöglich. Ich denke aber auch, dass Kinder der 60er Jahre, sprich kurz nach Kriegsende geboren leider sehr schnell erwachsen werden mussten. Und A propos Erwachsen werden, Max hat sehr frühreife sexuelle Erlebnisse mit Ellie. Diese werden recht deutlich ausgebreitet. Aus meiner Sicht hätte es in diesem Roman nicht sein müssen, gibt aber durchaus Diskussionsraum. Könnte einige abstoßen, bedenke man die expliziten Szenen und das Alter.
Volker Widmann hat mit ‚Die Molche‘ debütiert. Der Schreibstil ist verschachtelt, aber äußerst gut. Vor allem die Naturbeschreibungen und wie er das Leben in und mit der Natur beschreibt macht Volker Widmann grandios. Auch hat der Roman die große Stärke, das Leid und Freud nah beieinander liegen und keine einseitige Sicht auf die Dinge transportiert wird. Hoch reflektiert, wenig Handlung, aber es arbeitet in einem.
Diesen Roman lohnt es sprachlich zu lesen und vor allem die titelgebenden Seiten wie Max die Molche trifft, sind äußerst gut gelungen.
Fazit: Nicht für jede:n Leser:in. Komplex und doch in vielerlei Hinsicht ist das Leben einfach und undurchdringlich zugleich.

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