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Veröffentlicht am 29.08.2022

Kind oder Abtreibung?

Sanfte Einführung ins Chaos
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Marta und Daniel, Anfang 30, sind seit zwei Jahren ein Paar und leben seit einem Jahr zusammen mit ihrem Hund Rufus in einer kleinen Mietwohnung in Barcelona. Sie ist Fotojournalistin, er schreibt Drehbücher ...

Marta und Daniel, Anfang 30, sind seit zwei Jahren ein Paar und leben seit einem Jahr zusammen mit ihrem Hund Rufus in einer kleinen Mietwohnung in Barcelona. Sie ist Fotojournalistin, er schreibt Drehbücher für Serien. Obwohl sie studiert haben, finden sie keine Jobs, die angemessen bezahlt werden. Beide warten immer noch auf den großen beruflichen Durchbruch, aber sie wissen, dass ihnen inzwischen die Zeit davonläuft. Eines Tages teilt Marta ihrem Freund mit, dass sie schwanger ist, aber das Kind nicht bekommen will. Den Termin für die Abtreibung hat sie bereits vereinbart. Sie haben nie über die Zukunft gesprochen, schon gar nicht über einen möglichen Kinderwunsch. Sie lieben sich, aber ihre Beziehung ist irgendwie unverbindlich geblieben. Dennoch ist Daniel schockiert, dass Marta es nicht für nötig gehalten hat, mit ihm über die Schwangerschaft zu sprechen und ihn an dieser wichtigen Entscheidung zu beteiligen. Daniel quält sich mit Erinnerungen an den eigenen früh verstorbenen Vater, von dem er sich im Stich gelassen fühlte und an sein damaliges Versprechen, dies niemals seinem eigenen Kind anzutun. Von einem Tag auf den anderen ist das Leben von Marta und Daniel aus den Fugen geraten. Der Leser begleitet sie in der Krise während der sechs Tage bis zum Termin für den Schwangerschaftsabbruch. Wie wird die Entscheidung ausfallen? Ist für Marta ihr berufliches Fortkommen – eventuell ein neuer Job in Berlin - wichtiger als ein Kind? Die Erinnerung an diese Phase ihres Lebens und an das, was hätte sein können, aber nicht wahr wurde, wird ihnen für immer bleiben.
Die Autorin berichtet über einen Zeitraum von sechs Tagen. Es ist die individuelle Geschichte eines Paares und zugleich das Porträt einer Generation in einer Zeit von politischen, ökonomischen und sozialen Krisen, eine Zeit, in der die Menschen von Unsicherheit, Ängsten und Zweifeln gequält werden. Wer hätte gedacht, dass das Leben nur wenig später durch Pandemie und Krieg noch viel chaotischer werden würde? Mir hat der interessante, gut lesbare Roman gefallen.

Veröffentlicht am 29.08.2022

Frauen am Scheideweg

Die versteckte Apotheke
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In Sarah Penners Debütroman geht es einmal im ausgehenden 18. Jahrhundert um die Apothekerin Nella Clavinger, die nach dem Tod der Mutter die Apotheke übernommen, aber das Geschäftsmodell ein wenig verändert ...

In Sarah Penners Debütroman geht es einmal im ausgehenden 18. Jahrhundert um die Apothekerin Nella Clavinger, die nach dem Tod der Mutter die Apotheke übernommen, aber das Geschäftsmodell ein wenig verändert hat. Sie verkauft nicht nur Heilmittel, sondern mischt auch Gifte für Frauen, die sich anders nicht vor gewalttätigen Ehemännern oder übergriffigen männlichen Verwandten retten können. Das tut sie, seit ein Mann, den sie als junge Frau geliebt hat, sie verraten und ihr großen Schmerz zugefügt hat. Als die 12jährige Magd Eliza Fanning im Auftrag ihrer Herrin ein vorbereitetes Gift abholen will, ist dies der Anfang einer Freundschaft. Die Aktion geht allerdings schief und bringt Nella und Eliza in große Gefahr.
In einem zweiten Handlungsstrang in der Gegenwart fliegt Caroline Parcewell allein nach London, um ihr Leben neu zu ordnen. Eigentlich wollte Caroline mit ihrem Mann James mit dieser Reise ihren 10. Hochzeitstag feiern. Kurz zuvor hat sie jedoch erfahren, dass James sie seit Monaten betrügt. Am ersten Tag schließt sie sich einer mudlarking-Gruppe an, die im Uferschlamm der Themse auf Schatzsuche geht. Caroline findet ein altes Glasgefäß, das aus einer Apotheke stammt. Das Interesse der studierten Historikerin ist geweckt, und sie geht der Sache nach. Ihr wird bewusst, dass sie 10 Jahre lang ihre eigenen Wünsche und Ziele verdrängt und sich völlig den Vorstellungen ihres Mannes von ihrem beruflichen und privaten Leben angepasst hat. Statt ein Aufbaustudium in Cambridge zu absolvieren, macht sie langweilige Büroarbeit auf der Farm ihrer Eltern in Ohio. Beide waren in ihrer Ehe zwar nicht unglücklich, aber auch nicht erfüllt.
Auf zwei Zeitebenen und aus drei Perspektiven erzählt Penner die Geschichte von Nella, Caroline und Eliza, wobei sich das Genre des historischen Romans mit der Emanzipationsgeschichte mischt und Themen wie Vertrauen und Verrat, Mutterschaft und das Leben als Frau zur Sprache kommen. Dabei ist mir als Leserin auch die mordende Apothekerin sympathisch, denn ihr Motiv ist sehr gut nachvollziehbar, und ihre über zwei Jahrhunderte hinter einer Regalwand versteckte Apotheke war der einzige Zufluchtsort, an dem die Frauen ihrer Zeit Hilfe fanden. Ein schöner Roman mit Märchenelementen.

Veröffentlicht am 03.08.2022

Die Geschichte einer starken Frau

Matrix
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Lauren Groffs neuer Roman “Matrix“ spielt im 12. Jahrhundert und erzählt die Geschichte von Marie de France. Die 17jährige Marie ist Vollwaise und wird von ihrer Halbschwester Eleonore als Priorin in einem ...

Lauren Groffs neuer Roman “Matrix“ spielt im 12. Jahrhundert und erzählt die Geschichte von Marie de France. Die 17jährige Marie ist Vollwaise und wird von ihrer Halbschwester Eleonore als Priorin in einem heruntergekommenen, völlig verarmten Kloster in einer englischen Sumpflandschaft eingesetzt. Sie ist so unattraktiv, dass sie am Hof nicht mehr tragbar ist und auch nicht verheiratet werden kann. In dem Kloster leben noch 20 dürre Nonnen, die anderen sind an Seuchen gestorben oder verhungert. In der ersten Zeit will Marie nur unbedingt an den Hof zurück, muss aber einsehen, dass das nicht passieren wird. Dann erwacht ihre Tatkraft, und sie setzt ihren ganzen Mut und ihre Willensstärke ein, um das Kloster und die ihr anvertrauten Schwestern zu retten. Sie treibt bei säumigen Pächtern den fälligen Pachtzins ein, renoviert das Kloster, kümmert sich um Landwirtschaft und Viehzucht und setzt die Amtsträgerinnen so geschickt ein, dass das Kloster zu Ansehen und Reichtum kommt. Das weckt den Neid und die Gier der kirchlichen Vorgesetzten und des Hofs, aber auch der Dörfler. Marie lässt sich einiges zum Schutz ihrer Töchter einfallen und hat ein Netz von Informanten, die sie über geplante Attacken aller Art informieren.
Auch das Leben in der Gemeinschaft ist nicht frei von Problemen. Es gibt verbotene Lust, Schwangerschaft und Geburt, aber vor allem Neid, Missgunst und Intrigen und Kritik an Maries Arroganz und ihrem selbstherrlichen Anspruch, in ihrer Position als selbsternannte Heilige über kirchlichem und weltlichem Recht zu stehen. Sie hat Visionen, in denen ihr die Jungfrau Maria erscheint und ihr neue Wege aufzeigt.
Groffs Roman zeichnet kenntnisreich und sprachlich sehr gelungen das Porträt des klösterlichen Lebens im 12. Jahrhundert und beschreibt zugleich fünf Jahrzehnte im Leben einer intelligenten, starken Frau mit außerordentlichen Führungsqualitäten, die den Roman teilweise wie eine feministische Utopie wirken lassen. “Matrix“ ist Fiktion, denn über die reale Marie de France, eine Dichterin von Lais, ist sehr wenig bekannt, nicht einmal, ob sie tatsächlich in einem Kloster gelebt hat.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, obwohl ich sonst selten historische Romane lese. Ich empfehle ihn ohne Einschränkung.

Veröffentlicht am 03.08.2022

Es ist immer eine Frage des Geldes

Die Wunder
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Elena Medels gefeierter Debütroman “Die Wunder“ erzählt eine Familiengeschichte über einen Zeitraum von knapp 50 Jahren: 1969-2018. Großmutter Maria wird nach einer Beziehung mit einem verheirateten Mann ...

Elena Medels gefeierter Debütroman “Die Wunder“ erzählt eine Familiengeschichte über einen Zeitraum von knapp 50 Jahren: 1969-2018. Großmutter Maria wird nach einer Beziehung mit einem verheirateten Mann schwanger und muss Cordoba verlassen. Sie lebt danach in Madrid und arbeitet als Kindermädchen und Hausangestellte. Ihre Tochter Carmen wird von ihrer Familie aufgezogen. Maria erfährt nur über ihren jüngeren Bruder Chico Dinge aus dem Leben der Tochter. Maria führt ein Leben im Prekariat in einer winzigen Mietwohnung mit schlecht bezahlten Jobs. Sie hat in Pedro einen Partner, den sie nie heiratet und mit dem sie auch nach 24 Jahren nicht zusammenleben will. Der Leser erfährt, was es bedeutete, in dieser Zeit eine Frau zu sein: in der Öffentlichkeit hat sie nicht das Recht sich zu gesellschaftlichen und politischen Themen zu äußern, obwohl sie belesen ist und sich auszudrücken weiß. Durch häusliche Diskussionen liefert sie ihrem Partner Argumente und Formulierungshilfen. Frauen redeten bei Treffen nur mit Frauen, und zwar über Schwangerschaft und Geburt, Kochrezepte und Schönheitstipps. Obwohl sich nach dem Ende der Diktatur - Franco starb 1975 - und dem Sieg der linken Partei Partido Socialista Obrero Espanol (PSOE) im Jahr 1982 die gesellschaftlichen Verhältnisse in Spanien änderten, wiederholt Enkelin Alicia in gewissem Umfang die Erfahrungen der unbekannten Großmutter. Als ihr geschäftlich zunächst sehr erfolgreicher Vater nach seinem Bankrott Selbstmord begeht, stürzt auch sie gesellschaftlich ab und lebt in ebenso prekären Verhältnissen wie Maria.
Medel erzählt auf zwei Zeitebenen und mit wechselnder Perspektive Marias und Alicias Geschichte. Es geht um das Gewicht der Familie im Leben einer Frau, um die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse und immer wieder um Geld, vor allem den Mangel an Geld. Inwieweit definiert uns das Geld, das wir nicht haben? Welche Verantwortung, Erwartungen, Sehnsüchte und Sorgen machen das Leben einer Frau aus?
Mir hat der nicht gerade mühelos zu lesende Roman trotzdem gefallen, weil es Frauenschicksale vom Ende der Franco-Diktatur bis zu den Krisen unserer Zeit eindrucksvoll präsentiert. Eine empfehlenswerte Lektüre, aber nicht für jeden Leser.

Veröffentlicht am 17.07.2022

Die Geschichte der Casadios

An den Ufern von Stellata
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In ihrem Debütroman „An den Ufern von Stellata“ erzählt Daniela Raimondi die sieben Generationen umfassende Geschichte der Familie Casadio – von 1800 bis 2013. Es beginnt mit Giacomo Casadio, der sich ...


In ihrem Debütroman „An den Ufern von Stellata“ erzählt Daniela Raimondi die sieben Generationen umfassende Geschichte der Familie Casadio – von 1800 bis 2013. Es beginnt mit Giacomo Casadio, der sich in ein Mitglied des fahrenden Volkes verliebt. Die Gruppe musste wegen starker Regenfälle in der Nähe des Ortes Stellata in der Lombardei überwintern und bleibt für immer. Giacomo und Viollca werden ein Paar. Durch diese Verbindung gibt es über Generationen den hellhäutigen Zweig der Familie und den dunkelhäutigen mit braunen Augen und dichter schwarzer Mähne. Viollca bringt ein übersinnliches Element in die Geschichte, nicht nur durch die merkwürdigen Federn in ihren Haaren, sondern auch durch ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken. Auch in den folgenden Generationen gibt es immer wieder einzelne Mitglieder der Familie, die über solche Fähigkeiten verfügen.
Erzählt wird die Familiensaga unter Einbeziehung der Zeitgeschichte: 1. und 2. Weltkrieg, der Kampf der Partisanen, die Roten Brigaden usw. So ist der Roman zugleich Familiengeschichte und Geschichtsbuch. Der Roman liest sich gut, obwohl die Personenvielfalt ein wenig für Verwirrung sorgt. Es empfiehlt sich, einen Stammbaum anzulegen, um nicht den Überblick zu verlieren. Trotz einiger Längen im letzten Drittel hat mir das Buch gut gefallen, und ich empfehle es gern.