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Veröffentlicht am 13.12.2022

Gar nicht so still ruht der See

Die letzte Party
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Ein See, genau an der Grenze zwischen Wales und England, ein kleines uriges walisisches Dorf auf der einen, ein modernes Neubaugebiet mit Ferienwohnungen auf der anderen Seite, deren jeweilige Bewohner ...

Ein See, genau an der Grenze zwischen Wales und England, ein kleines uriges walisisches Dorf auf der einen, ein modernes Neubaugebiet mit Ferienwohnungen auf der anderen Seite, deren jeweilige Bewohner sich misstrauisch beäugen und sich durch die anderen gestört fühlen. Um die Wogen zu glätten, gibt einer der Investoren, Rhys Lloyd, ein Kind des Dorfes und jetzt einigermaßen bekannter Sänger, eine rauschende Silvesterparty. Es gibt Champagner und Schnittchen. Am nächsten Tag beim Neujahrsschwimmen treibt ein Toter im See: Rhys Lloyd. Ermittlerin Ffion Morgan von der walisischen und Leo Brady von der englischen Seite sollen gemeinsam ermitteln. Was keiner ahnt: Die beiden hatten an Silvester einen One Night Stand miteinander und wollen ihre Bekanntschaft auf gar keinen Fall vertiefen. Der Fall Lloyd erweist sich als komplexer als gedacht und notgedrungen müssen die beiden ungleichen Ermittler kooperieren. Und bald stellt sich heraus, dass jeder mit Rhys Lloyd ein Hühnchen zu rupfen hatte, Ffion Morgan durchaus eingeschlossen.

Sehr spannender und ausgesprochen clever strukturierter Psychokrimi und pointierte Milieustudie, in dem keiner der Protagonisten die Wahrheit sagt und nichts ist, wie es scheint. Von der ersten Zeile an unglaublich fesselnd vermochte ich das Buch nicht aus der Hand zu legen, was sowohl an den vielschichtigen Charakteren als auch den detaillierten und bildhaften Umgebungsbeschreibungen lag. Die Autorin hat einen wundervollen Stil, man taucht direkt ein in den Plot und die Milieus, deren Vertreter, wie z.B. die Reality Soap Darstellerin, die abgehalfterten C-Promis, die Influencerin, die rebellische Jugendliche und viele mehr, glaubhaft und oft mit einer guten Portion Ironie dargestellt sind. Die Charaktere sind auch deshalb so überzeugend, weil sie jeder für sich eine Plattform bekommen, um die Geschehnisse zu kommentieren und die Motive für ihr Handeln und ihr Innerstes zu offenbaren. Die Gegenwart, die Zeit der Ermittlungen, erstreckt sich über einen Zeitraum von zehn Tagen und wird abwechselnd von Ffion und Leo erzählt. In Zeitsprüngen jedoch wird die Vergangenheit aus den verschiedenen Perspektiven aufgerollt und offenbart so nach und nach die tiefen Verletzungen und den Hass und was in der Silvesternacht wirklich geschah. Der Mord ist erst der Anfang für eine Reihe von Ereignissen, die die Ermittlungen und seine Aufklärung mit sich bringen, und die Welt ist danach nicht mehr, wie sie war. Es ist also keineswegs eine chronologisch erzählte Geschichte, die Spannung erschließt sich vielmehr subtil und langsam mit dem Aufdecken der Hintergründe. Jeder hatte ein Motiv, jeder ist sowohl Opfer als auch Täter, ist sowohl gut als auch böse.

So sehr die Perspektiven der einzelnen Personen fesseln, so fand ich die Persönlichkeiten von Ffion und Leo und ihre Geschichte am Faszinierendsten. Herrlich beider Kommentare über den anderen! Durch ihre Angst, Gefühle offenbaren zu müssen, deuten sie das Verhalten und die Äußerungen des anderen im kompletten Gegensatz zu dem, wie sie gemeint sind. Das ruft mehr als einmal skurrile Situationen hervor und bringt einen zum Schmunzeln. Naturgemäß haben sie den höchsten Anteil an Kapiteln, daran liegt es aber nicht nur, dass ich sie so bemerkenswert fand. Von Ffions sehr persönlicher Verstrickung in den Fall und der Entwicklung Leos lebt dieses Buch in einem sehr hohem Maße. So ist es denn auch mehr als logisch, dass Teil eins ziemlich genau auf der Hälfte des Buches mit einem Paukenschlag endet und ein neuer Teil aufgemacht wird, bei dem die Karten neu gemischt werden müssen. So erhalten die persönlichen Befindlichkeiten Ffions und Leos, ihr Privatleben und ihre persönlichen Niederlagen und Seelenqualen einen großen Raum, der Kriminalfall tritt aber niemals ins Hintertreffen, sondern ist immer präsent. So ist denn auch die Auflösung wie die ermittelnden Personen und die ganze Geschichte: überraschend, unkonventionell und zutiefst befriedigend.

Fazit: Müssen Sie lesen.

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Veröffentlicht am 27.11.2022

Opulenter Mittelalter-Roman mit starken Protagonisten – spitzenklasse!

Die Siegel des Todes
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Schwarzwald, Anfang des 14. Jahrhunderts: Das Leben meint es nicht gut mit dem jungen Elias. Ohne Erinnerung an sein früheres Leben fristet er ein trostloses Dasein beim Schinder Utz Herrlinger, der ihn ...

Schwarzwald, Anfang des 14. Jahrhunderts: Das Leben meint es nicht gut mit dem jungen Elias. Ohne Erinnerung an sein früheres Leben fristet er ein trostloses Dasein beim Schinder Utz Herrlinger, der ihn quält und demütigt und zudem in zwielichtige Machenschaften verstrickt zu sein scheint. Das einzige, das Elias aufrecht hält und ihm Hoffnung gibt, ist die Aussicht auf Flucht und sein Medaillon, zusammen mit dem Wunsch, eines Tages das Geheimnis seiner Herkunft aufzudecken. Zunächst nicht viel besser ergeht es der jungen Ranghild, deren heimische Bauernkate überfallen und abgefackelt wird. Völlig verwirrt und verzweifelt findet sie Unterschlupf bei der Kräuterfrau Gret, bei der sie in die Lehre geht. Ranghild und Elias führen unabhängig voneinander ihr Leben, versuchen ihren Weg zu gehen in einer Welt, die ihnen nichts schenkt, und ahnen nicht, wie tief ihr beider Schicksal miteinander verknüpft ist.

Großartiger, vielfältiger, spannender und abwechslungsreicher Historienroman, so bunt und gewaltig wie ein Renaissance-Gemälde, realistisch, authentisch, so komisch wie traurig – kurzum: so facettenreich, wie ich schon lange keine Geschichte mehr gelesen habe. Jede Figur mit vielschichtiger, sehr eigener Persönlichkeit ausgestattet und in bildhafter Sprache verfasst, die einen sofort in die Geschichte hineinzieht. Ist man erst einmal eingetaucht, gibt es kaum ein Herauskommen, ich geriet förmlich in einen Sog und lebte dermaßen mit als wäre ich dabei. Die zwei Handlungsstränge um Elias und Ranghild verlaufen lange Zeit parallel nebeneinander, jede für sich autark und fesselnd und komplett aus der Sicht des jeweiligen Hauptprotagonisten erzählt. Dementsprechend fokussieren sich die Beschreibungen der Handlung, des Erlebens und des Seelenlebens in diesen Passagen, die sich über mehrere Kapitel erstrecken können, denn auch auf die jeweilige Hauptfigur. Sind die anderen Charaktere auch stark herausgearbeitet, so kreisen sie doch, hat man den Eindruck, um den jeweiligen Stern und bilden so ihren Teil der Weiterentwicklung für Elias und Ranghild.

Formal ist die Geschichte in drei Bücher mit fortlaufenden Kapiteln unterteilt und erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa fünfzehn Jahren. Eingerahmt durch einen Prolog und Epilog, wobei ersterer einige Fragen aufwirft, die letzterer wunderbar auflöst. Der Autor bedient sich einer eingängigen Sprache und hat einen sehr gut zu lesenden Stil, der ausgezeichnet in die Zeit passt, in der seine Geschichte angesiedelt ist. Die vielen Begriffe, die man heute eventuell nicht mehr kennt, werden dankenswerterweise in einem ausführlichen Glossar erklärt, ebenso wie ein hilfreiches Personenregister vorangestellt ist.
In den zwei Handlungssträngen verfolgt man den Lebensweg Elias' und Ranghilds ab etwa deren 13. Lebensjahr. Bei Elias steht hierbei sein Streben, den Schleier seiner Herkunft zu lüften, im Vordergrund, Ranghilds Leben ist geprägt vom Streben nach – medizinischem – Wissen und dem Wunsch, Menschen zu heilen. Beide haben sehr ausgeprägte und eigene Charakterzüge, wobei bei beiden die herausragende Intelligenz, der Überlebenswillen und die Hilfsbereitschaft heraussticht. Interessant fand ich die sehr unterschiedlichen Lebenswege und wie sie mit schwierigen Situationen umgehen und sich als junge Menschen in einer ihnen nicht immer wohlgesonnen Gemeinschaft behaupten. Besonders Elias hat es zunächst nicht gut getroffen und muss mehr kämpfen, wird verfolgt und verhöhnt. Ranghild als Frau ist gezwungen, sich in einer Männerwelt zu behaupten und mitunter ist sie machtlos gegen rohe männliche Gewalt. Beide müssen oftmals reagieren, werden durch äußere Umstände zu Taten gezwungen oder müssen weiterzuziehen. Mir schien aber doch Elias aktiver sein Schicksal in die Hand zu nehmen, zum Beispiel als er sich gegen seinen Peiniger durchsetzt. Durch seine Hitzköpfigkeit reitet er sich allerdings gerne in Zwangslagen hinein, während Ranghild durch Argumente und Diplomatie zu überzeugen versucht. Erwähnt sei auch, dass beide das Glück haben, an wohlgesonnene Menschen zu geraten, die sehr prägend sind für ihr Weiterkommen und die ihnen helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Toll fand ich außerdem, dass man als Leser einen tiefen Einblick in mittelalterliches Wissen bekommt, aber auch in das Alltagsleben der Menschen in unterschiedlichen Regionen. Beider Weg führt uns vom Schwarzwald in die wichtige Reichs- und Handelsstadt Regensburg und sogar nach Salerno, wo Medizingeschichte geschrieben wurde.

Fazit: Unbedingt lesenswerter, wunderbarer und für mich sehr stimmiger Mittelalterroman mit lebendigen Figuren, zum Eintauchen und Abtauchen bestens geeignet und mit nachhallender Wirkung. Ich fand sehr wohltuend, dass der Autor auf reißerisch-blutige Mittelalter-Klischees verzichtet und stattdessen Menschen und Handlungen beschreibt, die überzeugend wirken und gar nicht so weit weg von uns selbst sind. Das vermeintlich finst're Mittelalter ist bevölkert von ganz normalen Menschen, von Gauklern und Kaufleuten, von Studenten und Ärztinnen und von zwei jungen Leuten, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Weg finden und – so ganz nebenbei – das Geheimnis ihrer Herkunft lüften. Einfach toll.

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Veröffentlicht am 07.11.2022

Glück auf! Familienchronik und Geschichte einer Bergbau-Region

Die Sehnsucht nach Licht
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Louisa Steiner lebt in Bad Schlema in Sachsen und ist wie ihre ganze Familie der Tradition der sächsischen Bergleute eng verbunden. Die Geschichten von früher sind so lebendig wie eh und je, noch heute ...

Louisa Steiner lebt in Bad Schlema in Sachsen und ist wie ihre ganze Familie der Tradition der sächsischen Bergleute eng verbunden. Die Geschichten von früher sind so lebendig wie eh und je, noch heute trinkt man das Radonwasser, für das die Region und besonders Bad Schlema berühmt wurde, und noch immer denkt man an verschwundene Verwandte und Bergleute, die im Berg geblieben sind. Auch ein Großonkel Louisas, Rudolf, ist von einem Tag auf den anderen verschwunden und wird noch immer schmerzlich vermisst, vor allem von seiner Schwester Irma, Louisas Lieblingstante. Als diese ihre alte Freundin Gretchen wiederfindet, werden die alten Geschichten erneut aufgewärmt. Louisa taucht immer weiter ein in ihre Familiengeschichte und beschließt, mehr über Rudolfs Verbleib herauszufinden. Als sie feststellt, dass seine Spur nach Russland führt, bildet sich eine wundersame Reisegruppe, die sich auf den Weg nach Moskau begibt und überraschende Entdeckungen macht.

Großartige, berührende und faszinierende Erzählung über eine in ihrer Region tief verwurzelte Familie und über die Geschichte eines Ortes und seiner Bewohner. Die Autorin lässt Menschen und ihre Sorgen und Nöte, aber auch ihre Freude und ihr Überlebenswillen, die Prachtbauten und Bergbauhütten, das Leben unter Tage und das darüber lebendig werden, man ist nicht nur einfach sofort drin, man taucht tief ein in ihre Welt, lebt, fühlt, weint und lacht mit ihnen und ist förmlich ein Teil von allem. Sehr geschickt verwebt die Autorin Gegenwart und Vergangenheit, was Louisa mühsam recherchieren und herausfinden muss, erfährt der Leser dank Rückblenden in die Vergangenheit aus der Sicht der damals lebenden Familienmitglieder. Der Leser erhält somit einen uneingeschränkten und wahrheitsgemäßen Blick auf die Geschehnisse, während die Protagonisten in der Gegenwart lediglich Teile erfahren und sich manches zusammenreimen müssen. Wunderbar ist dieses Zusammenspiel der Zeitebenen, die Fragen und Themen, die Louisa bewegen und die sie herauszufinden versucht, werden direkt im Folgekapitel in der Vergangenheit erzählt und manches Mal enthüllt sich so ein überraschendes Geheimnis. Die Kapitel, die in der Vergangenheit spielen, werden dabei vom Jahr 1908 an chronologisch erzählt. Auch wenn mitunter recht große Zeitsprünge dabei sind, entspinnt sich doch sukzessive die Geschichte einer Bergbaufamilie von der Kaiserzeit über den 1. Weltkrieg, vom Dritten Reich, dem 2. Weltkrieg über die DDR bis zu Wende. Es ist die Geschichte der Steiners, der Stammbaum Louisas, ihre Herkunft, und das Streben, der Fleiß, die Loyalität und die Verbundenheit untereinander werden wie das Mettenlicht und das Album für Freunde des Bergbaus weitergereicht.

Mich faszinierte besonders die anschauliche Darstellung des Alltags, angefangen mit dem kargen Leben in der Bergarbeiter-Kate Anfang des 20. Jahrhunderts über den Schrecken der Weltkriege, die Hungerjahre in der Nachkriegszeit und dann des langsam, aber stetigen Aufstiegs und der verbesserten Lebensumstände, aber auch die Entwicklung und das Erwachsenwerden der Familienmitglieder, wie sie ihren Weg gehen und selbst Familien gründen bis hin zu Louisas Generation. Die Figuren sind durchweg alle liebevoll und authentisch dargestellt, sie überzeugen durch ihre Stärken und Schwächen und sind zutiefst menschlich. Wie ein Fels in der Brandung und eine fortwährende Konstante ist hierbei Wilhelm, Louisas Urgroßvater, Bergmann durch und durch, aufrecht, ehrlich und treu und der Mensch, dem Louisa eng verbunden ist, obwohl sie sich nicht an ihn erinnern kann. Aber durch sein Album, das er ihr vermacht hat, beginnt sie sich mit ihrer
Geschichte und der ihrer Familie zu beschäftigen und erfährt dabei auch viel über sich selbst.

Fazit: Ein wunderschönes Buch und ein spannender historischer Roman über das Leben einer Familie, die ihrer Region und ihrem Beruf zutiefst verbunden sind. Man erfährt viel über den Bergbau, es wird auch gefachsimpelt, das Ganze ist aber nie langweilig und vor allem ist diese Familiengeschichte sehr berührend. Die Geschichte lebt von der Verknüpfung von Tradition und Moderne und von ihren Menschen, die ihre Traditionen bewahren und alles am Laufen halten. Sicherlich nicht das letzte Buch der Autorin, das ich gelesen habe!

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Veröffentlicht am 01.09.2022

Cassie Raven ist wieder da – Forensik-Krimi at its best

Wer mit den Toten spricht
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Cassie Raven, Sektionsassistentin aus Leidenschaft, hat gerade erfahren, dass die Geschichte um den Tod ihrer Eltern, die sie von ihrer polnischen Großmutter erfahren hat, vollkommen erstunken und erlogen ...

Cassie Raven, Sektionsassistentin aus Leidenschaft, hat gerade erfahren, dass die Geschichte um den Tod ihrer Eltern, die sie von ihrer polnischen Großmutter erfahren hat, vollkommen erstunken und erlogen ist. Stattdessen wurde ihre Mutter ermordet und ihr Vater des Mordes verurteilt. Das muss sie erst einmal verdauen. Da treten ihre Gäste in der Leichenhalle fast in den Hintergrund, vor allem, als auch noch ihr Vater auftaucht und behauptet, unschuldig zu sein. Um alles auf die Reihe zu kriegen, braucht sie einmal mehr die Hilfe der spröden Polizistin Flyte, die ihre eigenen Päckchen mit sich herumträgt.

Die Autorin bleibt ihrem Stil treu – zum Glück! – und konstruiert einen Forensik-Krimi, der mehrere Handlungsstränge und damit Fälle in sich vereint. Der Forensik-Fall scheint zunächst recht harmlos und nicht besonders ermittlungsintensiv, erweist sich aber als zunehmend komplex. Das Wichtigste ist jedoch, dass er die beiden so unterschiedlichen Frauen Cassie und Flyte wieder einmal zusammenbringt und sie sich dadurch weiter aneinander annähern. Wie im ersten Band wird die Geschichte abwechselnd aus Cassies und aus Flytes Sicht erzählt, die Kapitel jeweils passend überschrieben, und je mehr der Fall voranschreitet, desto häufiger werden Flytes Anteile. Dadurch erhält man als Leser naturgemäß tiefen Einblick in die Psyche der beiden Frauen und ihrer Traumata und weiß somit erst einmal mehr als die Protagonisten. Der Fokus liegt diesmal stärker auf Cassies privatem Fall und ihrer Vergangenheit, der Aufarbeitung und Aufklärung des Mordes an ihrer Mutter, als auf den Forensikfällen, und ihre Nachforschungen hierzu nehmen einen großen Raum ein. Aber auch Flytes seelischer Schmerz ist sehr greifbar, und in dem Maße wie sich beide öffnen und den Ermittlungen voranschreiten, in dem Maße bröckelt auch Flytes stahlharter Panzer.

Ich fand es ausnehmend gut, dass auch hier wieder Cassies Arbeit in der Rechtsmedizin viel Platz einnehmen und detailliert beschrieben wird. Cassie liebt ihre Arbeit und ihren Arbeitsplatz, sie ist gewohnt sensibel und einfühlsam und behandelt die ihr zugeteilten Toten mit Respekt und spricht mit ihnen. Und die Toten sprechen mit ihr, was den einen oder anderen Hinweis auf die Lösung bietet. Cassies Visionen, Geistes- und Erinnerungsblitze oder wie man es auch immer nennen mag überfallen sie zu den unmöglichsten Zeiten und tragen einen großen Teil zur Lösung und Erkennung der Wahrheit bei. Ist es bei Flyte eine Aufarbeitung, ist es bei Cassie ein knallharter Kriminalfall, beide helfen sich gegenseitig mit ihrem Fachwissen. Ich fand es einmal mehr bezaubernd, wie sich beide zwischendurch immer beäugen und sich fragen, wieso sie sich für die andere so ins Zeug legen. Die beiden haben auf jeden Fall das Potential auf eine lebenslange Freundschaft!

Der Autorin gelingt es erneut, vielschichtige Charaktere, einen sehr gut konstruierten, verschachtelten Krimi und einen herrlichen Plot zu verfassen, wobei sie die Spannung eher subtil aufbaut, doch mit jedem Kapitel steigert bis hin zum doch recht überraschenden Ende. Man trifft lieb gewonnene Figuren wieder, wie zum Beispiel Cassies Großmutter, und erfährt Neues aus ihrem Leben. Humorvoll und sensibel und unglaublich eingängig fesselt die Autorin mit ihrem Schreibstil und mit ihrer Geschichte.

Fazit: Absolut lesens- und lohnenswerter Krimi, wobei sich die Lektüre des ersten Bandes vorweg auf jeden Fall empfiehlt. Man kann sicherlich der Geschichte auch so folgen und erfährt auch so vieles über die ungewöhnlichen Protagonisten, jedoch versteht man die Zusammenhänge besser, denn dieser Band schließt gerade in Bezug auf Cassies Leben nahtlos an den Vorgänger an. Für mich eine sehr gelungene Fortsetzung der Reihe, die die Lust, mehr über Cassie Raven und Phyllida Flyte zu lesen, erneut gesteigert hat.

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Veröffentlicht am 20.08.2022

Dunkle Orte in einem komplexen Psychospiel

Bruch
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Als ihrem Versetzungsantrag nach Dresden stattgegeben wird, will Hauptkommissarin Nicole Schauer am liebsten gleich wieder weg: Ihr neuer Kollege Felix Bruch wirkt desinteressiert und abwesend, die anderen ...

Als ihrem Versetzungsantrag nach Dresden stattgegeben wird, will Hauptkommissarin Nicole Schauer am liebsten gleich wieder weg: Ihr neuer Kollege Felix Bruch wirkt desinteressiert und abwesend, die anderen halten sie für einen Besser-Wessi und der neue Fall um ein verschwundenes Mädchen, den sie gleich aufs Auge gedrückt bekommt, hat es in sich. Zudem ist sie nach überstandener Krebserkrankung und neuem Status als Single mit sich und der Welt längst nicht im Reinen. Gut, dass sie gleich um Rückversetzung gebeten hat!

Ein sonderbares Ermittler-Pärchen, das uns da präsentiert wird. Beide bei Weitem keine reinen Sympathieträger und mit äußerst zweifelhaften Ermittlungsmethoden. Die scheinbar einzige Gemeinsamkeit, die einem gleich ins Auge fällt, ist beider psychische Angeschlagenheit, die zwar jeweils andere Ursachen hat und sich auch völlig unterschiedlich auswirkt, die aber zeigt, wie verletzt und verletzlich sie sind. Das Zusammenraufen geht denn auch sehr schleppend voran und als Leser ist man skeptisch, was den Erfolg betrifft, sowohl den der Annäherung als auch den der Ermittlung.

Der Fall selbst erweist sich nach anfänglich scheinender Routinearbeit als zunehmend komplexes Konstrukt mit Ursprüngen in der Vergangenheit. Die Betroffenen, ob Zeugen, Opfer oder Verdächtige, geben wenig Hilfreiches preis und haben alle etwas zu verbergen. Bruch und Schauer sind in ihrer Arbeit so unterschiedlich wie in ihrem Wesen, sie voranpreschend und emotional, geradlinig und Fragen stellend, er in sich gekehrt und beobachtend, mitunter komplett emotionslos. Wo Schauer aggressiv wird, ist Bruch desinteressiert, wo Schauer losläuft, bleibt er stehen und lässt alles erst einmal auf sich wirken. Und dennoch ist ihnen gemein, dass sie sich in den Fall reinhängen und ihn um jeden Preis lösen wollen. Beiden ist es auch ein persönliches Anliegen, dessen Ursache sich nach und nach offenbart.

Dank des unglaublich eingängigen Schreibstils, der tiefsinnigen Charakterisierung seiner Figuren und einem packenden Fall, der sich als komplexer erweist als gedacht, gelingt es dem Autor, den Leser sofort zu fesseln. Geschickt erzählt er die Geschichte in teilweise abrupten Perspektivwechseln, wobei man äußerst tiefe Einblicke in das Seelenleben der beiden Protagonisten erhält und ihr Verhalten nachvollziehen kann. Sie nehmen sich, ihre Umgebung und ihre Mitmenschen sehr unterschiedlich wahr und kommentieren das Handeln des anderen in Gedanken, Schauer zynisch, Bruch genervt. Nur schwer kommt ein Dialog in Gange, und Schauers misstrauisches Wesen zweifelt zudem an Bruchs Zuverlässigkeit. Unter diesen Umständen kann von einem Zusammenraufen auch erst einmal nicht die Rede sein, beide sind Einzelgänger und lassen sich schwer auf andere Menschen ein. Dennoch findet schließlich und unbegreiflicherweise eine leise Annäherung statt, mehr als einmal reagiert Bruch Schauer zuliebe, antwortet auf ihre Fragen, hilft ihr, wenn sie Angst hat. Und Schauer kommt nach und nach dahinter, was mit Bruch los ist, hinterfragt seine Gedankengänge und wägt sie ab und reagiert dabei durchaus einfühlsam. Zudem decken sich beide gegenüber ihrem Vorgesetzten, setzen sich als Team also über die Vorschriften und erkennen die Lösungsansätze des anderen an. Der Fall gerät bei aller Problematik nie in den Hintergrund, sondern steigert sich in der Spannung bis zum finalen Showdown.

Fazit: Sehr gelungener Einstieg in die neue Krimireihe, deren dunkle Orte in der Umgebung, aber mehr noch in der Psyche der beiden Protagonisten zu finden sind. Ich sehe gerade in den Beschreibungen der Charaktere die große Stärke, auch die anderen Figuren sind vielschichtig und komplex, und gerade die Zerrissenheit und Versehrtheit von Bruch und Schauer und ihr Zusammenspiel sind spannend und mitunter auch rührend. Zusammen mit dem verschachtelten Fall, in dem nichts ist wie es scheint, ergibt das eine perfekte Mischung und einen fesselnden Psycho-Krimi.

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