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Veröffentlicht am 28.02.2024

Interessantes Sujet, distanzierte, manchmal zu langatmige Erzählweise

Elyssa, Königin von Karthago
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Mir gefiel der Gedanke eines Romans, der im alten Karthago spielt – eine angenehme Abwechslung von den üblichen Romansujets. Irene Vallejo erzählt hier den Mythos von Elyssa und Aeneas, bekannt durch Vergil, ...

Mir gefiel der Gedanke eines Romans, der im alten Karthago spielt – eine angenehme Abwechslung von den üblichen Romansujets. Irene Vallejo erzählt hier den Mythos von Elyssa und Aeneas, bekannt durch Vergil, neu. Mir war dieser Mythos vor der Lektüre des Buches nicht bekannt, das war aber beim Lesen keineswegs hinderlich, was sicher auch daran lag, daß ich mit den historischen Hintergründen hinreichend vertraut war. Notwendige Hintergrundfakten werden ausreichend eingebunden. Der Einband erfreut mit einem schlichten, klassischen Motiv und ansprechender Goldprägung.
In Vallejos Sachbuch „Papryrus“ fand ich ihren blumigen, abschweifenden Stil unpassend und brach das Buch deshalb ab. Für einen Roman wie „Elyssa“ ist der Schreibstil dagegen wesentlich besser geeignet. Vallejo erzählt poetisch, mit vielen Beschreibungen und zahlreichen geschilderten Gedankengängen. Das paßt zum antiken, mythologischen Thema, wirkt allerdings auf Dauer auch etwas steif und leblos.
Sie erzählt die Geschichte multiperspektivisch – hauptsächlich durch Elyssa und Aeneas, aber auch die junge Anna trägt ihre Sicht bei. Annas Kapitel fand ich fast durchweg langatmig und nur selten interessant. Bedauerlicherweise klingen außerdem alle Erzählstimmen gleich – wenn man multiperspektivisch erzählt, dann sollten die Leser das nicht nur am Namen über dem Kapitel merken.
Ein origineller Kniff ist dagegen, auch den Liebesgott Eros seine Sicht berichten zu lassen. Diese Vermischung von menschlicher und göttlicher Welt bringt eine frische und ansprechende Perspektive in die Geschichte. Eros‘ Gedanken und Aktionen sind unterhaltsam und bringen die Lebendigkeit hinein, welche diese oft zu gemessen daherkommende Geschichte dringend braucht.
Ein verzichtbares Element wären dagegen die Einschübe über Vergil gewesen. Eigentlich ist es eine hervorragende Idee, Autor und Werk im Zusammenspiel zu erleben. Das hätte viel Potential gehabt, doch leider nutzt die Autorin es erst ganz am Ende in einer wundervollen kurzen Szene, in der Vergil – gewissermaßen als Schemen aus der Zukunft – in Karthago erscheint. Zuvor erleben wir Vergil in drei Einschüben, welche am Rahmenhandlungssyndrom leiden: in ihnen passiert so gut wie nichts. Vallejo läßt Vergil fast ausschließlich durch die Gegend schlendern und stopft alle erdenklichen historischen Hintergrundinformationen in diese Abschnitte. Auch wenn die Informationen über den Alltag in Vergils Rom an sich interessant sind, ist diese geballte, um ihrer selbst willen geschehende Auflistung in handlungsarmen Abschnitten plump und enervierend. Vergils Kapitel sind schlichtweg Infodumping, tragen somit nichts zur Geschichte bei, sondern schwächen das Buch erheblich. Wie schade, daß diese Idee derart verschenkt wurde.
In der eigentlichen, in Karthago spielenden Geschichte sind die historischen Details dagegen gut und passend eingebunden. Die Geschichte selbst ist interessant, krankt aber an der langatmigen, getragenen Erzählweise. Weder das Geschehen noch die Charaktere konnten mich wirklich berühren, man ist als Leser nicht drin, es bleibt eine Distanz. Die Gefühle werden berichtet, man spürt sie aber nicht. Zwischendurch mußte ich mich zwingen, weiterzulesen. Normalerweise hätte ich dem Buch drei Sterne gegeben, dann aber kommt das Ende, das zeigt, wie fulminant diese Geschichte hätte sein können. Hier schwindet urplötzlich die Distanz, die Charaktere werden von mythologischen Figuren zu echten, fühlenden Menschen. Ich war gebannt, ich war berührt, ich klebte an den Seiten. Man spürt die Gefühle, man leidet unter den Missverständnissen, man fürchtet das, was geschehen wird. Hier schreibt Vallejo farbig und echt. Wäre das ganze Buch so gewesen, hätte es Perfektion erreicht. Das Sujet ist gut gewählt, Vallejo kann absolut mit Sprache umgehen, sie kennt ihr Thema bestens. So bleibt die Frage: warum springt der Funke erst am Ende über? Aber immerhin tut er es überhaupt und mein Interesse an der mythologischen Erzählung und ihren Hintergründen ist definitiv geweckt.

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Veröffentlicht am 03.08.2023

Sehr informativ und gut recherchiert, wenn auch stilistisch nicht gänzlich überzeugend

Marie Curie und ihre Töchter
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Die Idee, Marie Curie und ihren Töchtern eine gemeinsame Biographie zu widmen, finde ich hervorragend und ich kann vorab sagen, daß ich aus diesem Buch eine ganze Menge gelernt habe. Aus der Autobiographie ...

Die Idee, Marie Curie und ihren Töchtern eine gemeinsame Biographie zu widmen, finde ich hervorragend und ich kann vorab sagen, daß ich aus diesem Buch eine ganze Menge gelernt habe. Aus der Autobiographie Marie Curies war mir ihr Leben schon bekannt und ich freute mich darauf, hier in einer Romanbiografie die von ihr sehr sachlich geschilderten Fakten mit Leben gefüllt zu finden. Diese Erwartung wurde leider nicht erfüllt (dafür aber die Erwartung, mehr über sie und ihre Töchter zu erfahren). Das Buch nennt sich Romanbiografie, aber es hat nichts von einem Roman. Beginnt es noch vielversprechend mit einer intensiven Episode aus der Kindheit Marie Curies, wird es doch sehr schnell zu einem sachlichen, faktengefüllten Bericht. Die Bezeichnung „Romanbiografie“ weckt falsche Erwartungen und ist m.E. nicht zutreffend. Die Übersetzung ist dafür fast durchgehend ausgezeichnet.

Der Schreibstil ist ausgesprochen sachlich. Das wirkt zu Beginn noch erfreulich klar, aber es ist ein Stil, der eher zu einem Artikel oder Bericht gepasst hätte. Die vielen kurzen Sätze haben teilweise etwas Abgehacktes und es mangelt ihnen an Charme, wenn sich auch zwischendurch schöne Formulierungen finden. Die Autorin ist keine Romanschriftstellerin und das merkt man deutlich. Bei Emotionen ist das Ausdrucksspektrum recht klein, meistens ist jemand „bewegt“, auch zahlreiche Wiederholungen trüben das Lesevergnügen. Marie Curies jüngere Tochter Eve wird bei jeder Gelegenheit als elegant beschrieben, bis man sich fragt, ob es sonst keine Adjektive für sie gab. Auch „die zweifache Nobelpreisträgerin“ oder „die Nobelpreisträgerin“ findet sich als Beschreibung sehr wiederholend. Manche Dinge werden so oft wiederholt, daß ich mich wunderte, warum ein Lektorat hier nicht ein wenig eingegriffen hat. Ein Beispiel von mehreren:

„Ihr größter Wunsch ist es, etwas Nützliches zu tun, so wie ihre Mutter und ihre Schwester im Ersten Weltkrieg." (S. 219)
"Eve findet ihren Weg im aktiven Handeln (...), ebenso wie ihre Mutter und ihre ältere Schwester zwanzig Jahre zuvor." (S. 235/36)
"Sie war im Krieg, ebenso wie ihre Mutter und ihre Schwester, die zwischen 1914 und 1918 so vielen Menschen das Leben gerettet haben." (S. 255)

Noch extremer ist dies bei dem Thema Frauenrechte. Dieses liegt der Autorin überaus offensichtlich am Herzen und so versucht sie, es unablässig unterzubringen. Das hat angesichts des Lebens der drei Curie-Frauen auch durchaus seine Berechtigung, aber die Autorin übertreibt es sehr und manchmal hatte ich das Gefühl, ein feministisches Manifest zu lesen. Sie wiederholt einige Punkte ständig, schreibt bei diesem Thema stets mindestens drei Sätze, wenn einer gereicht hätte, bewegt sich in manchen Formulierungen auf dem Grat zum Unsachlichen und schreibt mehrere seitenlange Abhandlungen zu Frauenrechtsthemen, die mit den Curies nichts oder allerhöchstens am Rande zu tun haben. Da wird dann z.B. als eher konstruierter Zusammenhang zum eigentlichen Sujet des Buches noch dazugeschrieben: „Diesen Punkt fand möglicherweise auch Irène Joliot-Curie irritierend“ oder ein ähnlich wackliger Bezug hergestellt. Einmal findet sich eine solche Abhandlung mitten in der Beschreibung des Todes von Irène, was unpassend ist. So überlagern die politischen Neigungen der Autorin manchmal das Buchthema und das ist nicht sonderlich professionell und beim Lesen sehr enervierend.

Dem Thema selbst widmet sich die Autorin allerdings auch mit großer Kenntnis und Hingabe, man merkt die sorgfältige Recherche. Sie berichtet detailliert, zwischendurch finden Auszüge aus Briefen oder anderen Texten der Curies und mancher Zeitgenossen Eingang in den Text, was immer gelungen war. Hintergründe werden erklärt und der Respekt, den die Autorin für alle drei Curie-Frauen und einige der Männer in ihrem Umkreis empfindet, wird immer wieder angenehm deutlich. Oft bleiben die Menschen hinter den Fakten etwas zurück, aber es gibt auch Passagen, in denen die Leser unmittelbar berührt werden, in denen leise und eindringlich die Gefühle zum Vorschein kommen – oft jene der Trauer, aber auch der Enthusiasmus während der USA-Reise der drei Frauen in den 1920ern, die stille Freude, welche Marie Curie angesichts ihrer Enkelkinder empfand, oder die Energie Eves. Vom Informationsgehalt ist das Buch enorm und es hat auch mein Interesse an den beiden Töchtern geweckt, die mir vorher kaum ein Begriff waren. Auch wenn mich die Lektüre stilistisch nicht überzeugt hat, hat es sich gelohnt, das Buch – und somit auch Marie, Irène und Eve Curie – kennenzulernen.

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Veröffentlicht am 10.04.2023

Eher ein Achtsamkeitsbuch

Das Anti-Angst-Buch
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"Das Anti-Angst Buch" ist als Titelwahl sehr vielversprechend. Wie sich zeigt, ist es leider auch etwas vollmundig, denn als Anti-Angst Buch erfüllt das Buch die gesetzten Erwartungen nicht. Der Klappentext ...

"Das Anti-Angst Buch" ist als Titelwahl sehr vielversprechend. Wie sich zeigt, ist es leider auch etwas vollmundig, denn als Anti-Angst Buch erfüllt das Buch die gesetzten Erwartungen nicht. Der Klappentext mildert den Titel bereits etwas ab: "... an unserer Widerstandskraft arbeiten - mit Entspannung, meditativer Achtsamkeit, Bewegung und psychoaktiver Ernährung." Erst später im Buchtext wird dann erwähnt, daß das Buch bei ernsteren Angststörungen keine alleinige Hilfe sein kann, und es wird ein Arztbesuch angeraten. Insofern sollte man sich also nicht auf den Titel verlassen, denn man bekommt hier kein Anti-Angst-Buch, sondern ein Achtsamkeitsbuch.

Dieses ist hochwertig gestaltet, mit stabilem Einband, wertigem Papier und vielen Farbabbildungen. Das helle Grün des Einbands setzt sich als farbliches Leitmotiv im Buch fort und wirkt angenehm, die Überschriften sind in einem ebenfalls angenehmen Blau gehalten. Der Buchsatz ist durchweg übersichtlich gestaltet. Visuell überzeugt das Buch absolut.

Etwa ein Drittel des Buches ist einem Text mit Hintergrundinformationen gewidmet - wie entsteht Angst, wie äußert sie sich, was macht uns Angst? Dieser ist in vielerlei Hinsicht informativ, scheint aber gelegentlich zu vergessen, daß er sich an Laien auf der Suche nach umsetzbaren Informationen richtet. Er ist häufig theoretisch und wird immer wieder zu naturwissenschaftlich, geht z.B. oft auf Gehirnchemische Vorgänge ein. Das wird den meisten Lesern wenig Mehrwert bringen und der konkrete Praxisbezug fehlt in den wissenschaftlichen Erklärungen zu sehr, wenn man nicht gerade vom Fach ist. Man merkt dem Text viel Wissen und auch Engagement an, man kann sich gute Hintergrundinformationen dort hinausholen, aber er hätte wesentlich benutzer- bzw. leserfreundlicher gestaltet sein können, denn so war vieles zumindest für mich nicht nützlich. Ich bin an fundierten Hintergrundinformationen interessiert, aber sie waren für mich oft nicht adressatenkompatibel dargebracht (und der nonchalante Umgang mit Tierversuchen war unerfreulich). Den allgemeinen Erklärungen folgt dann ein recht langer Abschnitt über Angst in Verbindung mit Klimawandel, Corona und dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Das ist sehr aktuell, aber erstens viel zu ausführlich und zweitens sehr wiederholend. Dann fehlte mir auch hier der nützliche Praxisbezug. Wir lesen über sehr viele Umfragen und Untersuchungen - viele davon auf Jugendliche bezogen -, daß diese Krisen den Menschen Angst verursachen (was nicht unbedingt eine neue Information ist), alles sehr theoretisch. Dieser Abschnitt war für mich überflüssig, die wenigen praxisrelevanten Erkenntnisse hätte man wesentlich zusammenfassen können.
So fühlte sich dieses erste Drittel oft wie eine trockene, etwas zähe Abhandlung an, in der man mit Informationen überschüttet wird, die aber überwiegend zu theoretisch sind. Ein konzentrierterer, praxisbezogenerer Schreibstil oder einige Stichpunkte am Ende jedes Kapitels hätten hier geholfen, das Wesentliche zusammenzufassen und dem Leser deutlich zu machen. Erfreulich anzumerken sind die Fallbeispiele aus der Praxis des Autors. Diese hätten ruhig etwas ausführlicher sein können, um an konkreten Fällen die Behandlung und Erfolge zu verdeutlichen - so lasen sie sich manchmal zu kurz und es fehlten Informationen zum besseren Verständnis. Auch ein Abschnitt über Schlafstörungen ist sehr allgemein und eher oberflächlich gehalten - als jemand mit schweren Schlafproblemen fand ich das zu lapidar abgehandelt. In diesem ersten Drittel stimmte für mich also die Gewichtung zwischen trockener Theorie und praxisrelevanten Informationen nicht.

Das 6-Wochen-Programm beginnt mit einer Einführung, die wesentlich angenehmer zu lesen ist, sich hinsichtlich der Theorie auf das Wesentliche konzentriert und viele interessante Anregungen und Informationen enthält, auch sonst halten die Programmbeschreibungen gelungen die Waage zwischen Theorie und Praxis und liefern zahlreiche nützliche Informationen. So hätte ich mir auch den ersten Teil gewünscht.
Letztlich beruht das 6-Wochen-Programm darauf, seinen Lebensstil achtsamer zu gestalten und so mehr innere Ruhe aufzubauen, was letztlich auch bei - leichten - Ängsten helfen soll. Bei richtigen Angststörungen kann es allerdings höchstens - wenn überhaupt - leicht unterstützend wirken, und es hat mich enttäuscht, daß hier ein eher allgemeines und höchstens mild wirkendes Programm als Anti-Angst-Programm dargestellt wird.
Die sechs Wochen stehen jeweils unter einem anderen Motto und haben einen anderen Schwerpunkt. Letztlich wiederholen sich die Aufgaben aber doch sehr und wirklich unterschiedliche Schwerpunkte merkt man nur ansatzweise. Diese Schwerpunkte findet man am stärksten in den "Lesen und lernen"-Abschnitten, mit denen jede Woche beginnt und die den jeweiligen Schwerpunkt erläutern. Diese Texte sind größtenteils ausgezeichnet - informativ, praxisbezogen, auf das Wesentliche beschränkt. Allerdings ist der Text zum sicherlich für viele Leser entscheidenden Thema "Raus aus dem Angstkreislauf" vergleichsweise kurz und zum ebenfalls wichtigen Thema "Emotionen in Balance" gerade mal eine Seite lang. Im Vergleich zu fast 20 Seiten Untersuchungen zu Angst im Zusammenhang mit globalen Krisen ist das eine seltsame und unerfreuliche Gewichtung. Ich hatte bei dem Buch das Gefühl, daß es immer dann eine Vollbremsung hinlegt, wenn es mit dem eigentlichen Thema losgeht, und das wurde zunehmend frustrierend.

Den Übungen soll jede Woche eine Stunde gewidmet werden, davon eine halbe Stunde Spaziergang in der Natur. Ich halte es bei z.B. berufstätigen Menschen mit Kindern, die nicht in Naturnähe wohnen, etwas unrealistisch, zu erwarten, daß sie sechs Wochen lang jeden Tag eine Stunde + Anfahrt zum Wald o.ä. aufbringen können, sich derlei Übungen zu widmen, aber letztlich ist dieses Programm ein Angebot, das man dem Rahmen der eigenen Möglichkeiten sicher ausreichend anpassen kann. Die Übungen sind eine Mischung aus körperlichen Übungen (z.B. Yoga, Schwimmen, Krafttraining), die gut erklärt und manchmal bildlich dargestellt werden, aus Achtsamkeitsübungen, die sich sehr ähneln, aus naturmedizinischen Anwendungen wie Aromatherapie, Wickeln oder Wechselduschen und ansprechenden, vielseitigen Rezepten mit interessanten Erklärungen zur Wirkung von Lebensmitteln auf Körper und Seele, außerdem gibt es einige therapeutische Übungen und weiterführende Anregungen. Das ist von der Mischung her gut gemacht und sicher findet hier jeder etwas. Bei mir haben einige der Übungen keinerlei Wirkung gezeigt, andere kenne ich von früher als durchaus hilfreich - hier hilft ein wenig Herumprobieren.

Was leider komplett fehlt: eine Art Akutbereich, "Erste Hilfe" während einer Angstattacke, Hinweise zum Umgang mit solchen. Das finde ich bei einem "Anti-Angst Buch" sehr enttäuschend. Letztlich bekommt der Leser hier ein gutes allgemeines Achtsamkeitsbuch, mit milden Übungen, die entsprechend milde Wirkung zeigen. So kratzt das alles eher an der Oberfläche und gab mir den Eindruck, es wurde ein allgemeines Achtsamkeitsprogramm mit ein paar Angstinformationen versehen - das macht es aber keineswegs zu einem Anti-Angst-Programm. Wer zu Anspannung neigt oder einfach etwas besser mit sich umgehen möchte, wird hier sicher einiges Nützliche finden. Für Menschen mit einer Angstproblematik findet sich hier m.E. zu wenig konkret Anwendbares / auf ihre Situation bezogenes. Es ist ein gelungenes Achtsamkeitsbuch. Ein Anti-Angst Buch ist es aber m.M.n. nicht.

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Veröffentlicht am 29.09.2022

Sprachlich absolut herausragend

Euphorie
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„Euphorie“ ist eine intensive und enorm anstrengende Reise in Sylvia Plaths Gedankenwelt. Ich war beeindruckt, wie tief sich die Autorin in Plath hineinversetzt hat. Dies und die ausnehmend herrliche Sprache ...

„Euphorie“ ist eine intensive und enorm anstrengende Reise in Sylvia Plaths Gedankenwelt. Ich war beeindruckt, wie tief sich die Autorin in Plath hineinversetzt hat. Dies und die ausnehmend herrliche Sprache sind herausragend.
Wir erleben Sylvia Plath im letzten Jahr ihres Lebens und es ist zu empfehlen, diesen Roman mit Vorabwissen über sie anzugehen, denn ich könnte mir vorstellen, dass er für „Plath-Neulinge“ verwirrend ist. Es gibt wenige Hintergrundinformationen und er ist ein wenig handlungsarm, der eigentliche Fokus ist Plaths Innenleben. Fast wirkt der Roman wie ein Monolog, oft wie ein sich im Kreis drehender, manischer Redeschwall, er ist vorwiegend introspektiv. Das hat mir nicht uneingeschränkt gefallen, weil diese Introspektionen anstrengend zu lesen sind und sich sehr wiederholen. Auch die Geschehnisse sind teilweise wiederholend und oft mit sehr vielen nicht unbedingt interessanten Einzelheiten versehen. Gerade die ständigen Schilderungen von Gartenarbeit und Mutterdasein wurden sehr schnell langweilig und auch auf die sehr ausführlichen Beschreibungen körperlicher Vorgänge rund um Schwangerschaft und Geburt hätte ich gerne verzichtet. So gebe ich zu, inhaltlich ein wenig enttäuscht zu sein. Die Autorin war zur Zeit des Schreibens selbst Mutter von Kleinkindern, vielleicht liegt dieser etwas überstarke Fokus auf derlei Themen daran. Ich hätte hier lieber mehr über Plaths Beziehung zu ihrer Mutter und zu Ted Hughes erfahren, über ihre Arbeit, etc. Die wenigen Episoden, die dahingehend geschildert werden, sind interessant, aber eben zu wenig.
Sprachlich ist der Roman, wie erwähnt, eine reine Freude. Einen derlei gekonnten Umgang mit Sprache habe ich selten erlebt. Jede Formulierung sitzt, begeistert durch eine gekonnte Mischung aus Poesie und Inhalt. Es gab viele Sätze, die ich immer und immer wieder gelesen habe, weil sie reine Kunst waren. Auch die Übersetzung ist ausgesprochen gelungen. Ich fand es allerdings schade, daß die Übersetzerin Worte wie „Bacon“ und „Slow Motion“ nicht übersetzt und das alberne Modewort „getriggert“ benutzt. Dieses Denglisch passt zu einem solchen Buch nicht und bei der Formulierung „du scheißnervige Wife“ konnte ich nur den Kopf schütteln. Hinzu kommt, daß in den 1960ern niemand auf Deutsch so sprach, was den Text an diesen Stellen nicht authentisch wirken lässt. Aber das sind vereinzelte Stellen, allgemein ist es eine wirklich hervorragende Übersetzung, welche die Schönheit der Sprache ausgezeichnet überträgt. Sprachlich ist das Buch eine Meisterleistung.
Wir erleben alles aus Plaths subjektiver Sicht, die häufig unfair ist, und man muß darauf achten, beim Lesen nicht in diese Sicht hineingezogen zu werden. Dies ist letztlich ein Pluspunkt, denn das Buch möchte den Leser ja in Plaths Gedanken versetzen und das gelingt hervorragend. Ich kann nur ansatzweise ermessen, welche Arbeit, welches Einfühlungsvermögen dazu notwendig waren. Man lernt Plath durch das Buch definitiv wesentlich besser kennen.
Ein ungewöhnliches Buch, dem man das Herzblut anmerkt und das vor allem durch seine phantastische Sprache überzeugt.

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Veröffentlicht am 18.07.2022

Ausgezeichnet recherchierte Familiengeschichte mit einigen Wermutstropfen

Irmas Enkel
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„Irmas Enkel“ sprach mich durch das Titelbild gleich an, das gelungen darstellt, dass es sich um einen historischen Familienroman handelt. Sehr schön fand ich, daß dieses Bild, dieses Familienfoto, im ...

„Irmas Enkel“ sprach mich durch das Titelbild gleich an, das gelungen darstellt, dass es sich um einen historischen Familienroman handelt. Sehr schön fand ich, daß dieses Bild, dieses Familienfoto, im Buch selbst dann auch erwähnt wird. Der Titel ist etwas irreführend, die namensgebende Irma kommt nur kurz vor und letztlich ist es die Lebensgeschichte einer Enkelin Irmas, Anni, die wir von ihrer Geburt im Ersten Weltkrieg bis zu ihrem Tod begleiten. Schon zu Beginn zog mich die Geschichte mit farbigen Schilderungen und eindrücklichen Formulierungen in ihren Bann. hier wird zart und liebevoll erzählt, mit anschaulichen Details. Leider folgt dann ein ziemlich großer Zeitsprung zum Anfang der Nazizeit mit zahlreichen neu auftauchenden Charakteren. Diese werden nur wenig eingeführt, plötzlich sind Anni und ihre Brüder alle verheiratet, ohne dass wir die Beteiligten wirklich kennenlernten. Die Charakterkonzeption fand ich in mehreren Fällen nicht ausreichend. Mehrere Charaktere bleiben recht blass, bei einigen sind Wechsel ihrer Anschauung oder ihre Handlungen nicht ganz nachvollziehbar. Ein recht wichtiger Charakter ist so eindimensional, dass sich die meisten Szenen mit ihm gleichen. Erst am Ende des Buches erfahren wir eine wichtige Information über ihn (für die es vorher einige gut geschilderte Andeutungen gibt, die aber leider in den ständig gleichen Schilderungen seines Benehmens etwas untergehen), die allerdings trotzdem vieles an ihm nicht erklärt. Andere Charaktere sind dagegen überzeugend und man sieht sie direkt vor sich.

Die Atmosphäre ist ebenfalls gut geschildert. Viele Details informieren über Alltag und Arbeit (gelegentlich etwas zu ausführlich) in einer kleinen Landwirtschaft, über die Dorfatmosphäre, auch das bedrohliche Gefühl während der Kriegsjahre und der ersten Besatzungszeit vermittelt sich gelungen. Das Dorf stieg beim Lesen vor meinem geistigen Auge auf und viele Orte dort wurden vertraut. Auch die historische Recherche ist hervorragend (und in dieser Hinsicht bin ich besonders kritisch und selten beeindruckt). Es wurde offensichtlich ganz akribisch recherchiert, sowohl zur Nazizeit wie auch zur Besatzungszeit und der DDR. Hier habe ich eine ganze Menge Neues erfahren und bei mir Bekanntem gemerkt, wie sorgfältig die Recherche war. Diese Informationen werden größtenteils gelungen in die Geschichte eingeflochten, nur im mittleren Drittel wird die Handlung immer wieder durch sehr lange sachbuchartige Texte unterbrochen und es werden dort auch allerlei Informationen hineingepackt, die für die Handlung nicht notwendig sind.

Schön wäre es gewesen, wenn in das Korrektorat auch nur annähernd so viel Mühe geflossen wäre wie in die Recherche. Das Buch wimmelt leider vor Fehlern, diese liegen im höheren zweistelligen wenn nicht sogar dreistelligen Bereich und das ist schlichtweg viel zu viel. Es sind keine Tippfehler, sondern Fehler, die anscheinend aus einem mangelnden Wissen von Zeichensetzungs- und Grammatikregeln resultieren, so fehlen zahlreiche nicht fakultative Kommata, einige Verben sind falsch konjugiert (so wird z.B. etwas über den Boden ‚geschliffen‘) und hier und da finden sich Worte, die von ihrer Bedeutung her nicht passen. Auch die Groß-/Kleinschreibung von „sie“ wird manchmal etwas willkürlich vorgenommen, es werden Zeitangaben verwendet, die bei der Vergangenheitsform nicht richtig sind, Zeitformen vermischt etc. Diese hohe Fehlerquote ist umso erstaunlicher und bedauerlicher als laut Impressum ein berufsmäßiges (das Wort „professionell“ möchte ich angesichts dessen, was abgeliefert wurde, nicht verwenden) Korrektorat beauftragt wurde. In der Hinsicht hat die Autorin alles richtig gemacht. Nachdem ich das Buch gelesen hatte und mir einige der Rezensionen ansah, entdeckte ich, daß die vielen Fehler schon vor zwei Jahren in mehreren Rezensionen bemängelt wurden. Daß in dieser Zeit anscheinend nicht das Geringste unternommen wurde, um dem abzuhelfen, ist wenig erfreulich und für mich ein erheblicher Minuspunkt.

Der Schreibstil ist größtenteils erfreulich. Einige Formulierungen sind so wunderschön und sagen mit wenigen wohlgesetzten Worten so viel aus, daß ich ganz hingerissen war und diese mehrmals gelesen habe. Die Autorin hat offensichtlich ein Talent für Sprache. Zusammen mit den farbigen Beschreibungen und überwiegend gut eingeflochtenen Hintergrundinformationen liest sich der Stil angenehm. Die Autorin spielt mit Zeitebenen, so sind während der Schilderungen von Annis Leben bis Kriegsende immer wieder kleine Szenen aus dem Jahr 1946 eingeschoben, die in ihrer berührenden Melancholie schon einiges gelungen andeuten. Auch werden wir manchmal vor vollendete Tatsachen gestellt und erfahren die Hintergründe erst später, auch das funktioniert und ist interessant. Leider gibt es aber auch sehr viele langatmige Passagen, gerade im zweiten Teil des Buches verliert sich das Buch ein wenig in sich selbst. Auch hat man bei manchen Charakteren und Handlungssträngen den Eindruck, dass sie aufgenommen wurden, um einen bestimmten Aspekt oder ein Thema zur Sprache zu bringen, ohne daß sie aber integraler Teil der Geschichte sind, so daß diese Handlungsstränge etwas halbherzig auftauchen und dann wieder verschwinden. So verlor ich gerade in der zweiten Hälfte zunehmend den Bezug zu einigen Charakteren und war enttäuscht, wenn einige Themen an der Oberfläche blieben oder notwendige Hintergründe nicht erklärt wurden. Auch sind manche Zeitsprünge abrupt und manchmal verwirrend – dazu trägt auch bei, dass die Jahreszahlen ausgeschrieben und nicht als Zahlen geschrieben sind, das Buch außerdem nur sehr wenige Kapitel hat und es abgesehen von neuen Absätzen keinerlei Unterteilungen gibt, so dass ein neuer Absatz eventuell ein paar Stunden später spielt oder auch mal ein paar Jahre später. Einige Kapitel mehr oder zumindest sichtbarere Unterteilungen bei Zeitsprüngen hätten hier für die Übersichtlichkeit viel bewirkt.

So ist „Irmas Enkel“ ein Buch, das viel Großartiges mit sich bringt und mich gerade in der ersten Hälfte berührte, dem aber sowohl ein gutes Korrektorat wie auch ein Lektorat fehlt, das die eigentlich gute Geschichte ein wenig in Form bringt, denn die aufgeführten Punkte haben mein Lesevergnügen doch ziemlich beeinträchtigt. Mit Überarbeitung steckt hier aber durchaus ein 5-Sterne-Buch drin, denn diese Lebensgeschichte, die vom Kaiserreich bis in die moderne Zeit geht, ist facettenreich und vielseitig, der Schreibstil macht Lust auf mehr.

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