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Veröffentlicht am 16.01.2023

Mord im Urlauberparadies

Canaria Mortal
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Die Inhaltsbeschreibung liest sich durchaus verheißungsvoll. Die Sonneninseln der Kanaren, auf denen ganzjährig Sommer herrscht, bringt man gemeinhin mit unbeschwerten Urlaubstagen in Verbindung, denn ...

Die Inhaltsbeschreibung liest sich durchaus verheißungsvoll. Die Sonneninseln der Kanaren, auf denen ganzjährig Sommer herrscht, bringt man gemeinhin mit unbeschwerten Urlaubstagen in Verbindung, denn tiefer möchte der Durchschnittstourist, um das Adjektiv 'unbedarft' zu vermeiden, gar nicht schauen! Kriminalität, unlautere Machenschaften, Korruption oder gar Mord? Nein, das passt da gewiss nicht hin. Eitel Sonnenschein, laute und fröhliche Menschen, traumhafte Strände, herrliches Essen, die Leichtigkeit des Seins – das und nichts anderes erwartet man von den Kanarischen Inseln! Einen realistischeren Einblick freilich bekommen die Langzeiturlauber, die Überwinterer, sofern sie sich nicht entschlossen haben, in einer Blase zu leben und die Wirklichkeit auszublenden, und die Auswanderer, von denen, laut Statistik, die meisten wieder zurückkehren in ihre Ursprungsländer – aus mehreren Gründen, auf die näher einzugehen allerdings den Rahmen sprengen würde. Einer davon allerdings liegt auf der Hand, wenn man sich durch Daniel Veranos (tja, das mit dem ewigen Sommer stimmt zumindest!) auf Gran Canaria spielenden, sehr leicht lesbaren Krimi mit dem bezeichnenden Titel 'Canaria mortal' durchgearbeitet hat. Das Verbrechen macht auch vor den Paradiesen dieser Erde nicht halt und all das Unfeine, das gar nicht Einladende, vor dem einige Auswanderer geflohen sind, findet man auch dort, auf den – so das Klischee – traumschönen Inseln im Atlantik, doch, wie mir scheinen mag, in noch geballterer Form...
Felix Faber jedoch, der Protagonist des hier zu besprechenden Krimis, kehrte Deutschland vor allem aus einem Grund den Rücken: das Wetter hierzulande behagt ihm ganz und gar nicht! Womit er mit den Überwinterern auf eine Stufe zu stellen ist. Denn hätte er nicht das Angebot der 'aufstrebenden Zeitung' La Vida in Las Palmas bekommen, in deren Team mitzuarbeiten, wer weiß, ob er sich nicht doch eher der Reihe der Überwinterer angeschlossen hätte, was sicherlich bekömmlicher für ihn gewesen wäre. Kaum angekommen auf der Insel, bei der er zunächst vergeblich nach der vielgepriesenen landschaftlichen Schönheit sucht, sie sich dann aber herbeiredet, nachdem man ihn in einem schicken Bungalow einquartiert hat (schöne Unterkunft und tolles Essen, und schon ist alles paletti?), gerät er dank seiner grenzenlosen Naivität und Unbedarftheit, gepaart mit einer gehörigen Portion Tollpatschigkeit, in eine Geschichte, die mehrere Nummern zu groß für ihn ist und aus der eine klügere, besonnenere Person vermutlich ihre neugierige Nase herausgehalten hätte. In seiner Einfalt sieht sich Felix überdies noch als wertvoller Mitarbeiter der Polizei, völlig die Tatsache verkennend, dass seine laienhafte Einmischung nicht im geringsten erwünscht ist, obgleich die amtlich Bestellten dringend Hilfe von einem fähigen Kollegen brauchen könnten, der der brave Felix nun wirklich nicht ist.
Apropos Polizei! Ana Montero, die auf dem Covertext völlig zu Unrecht als 'taffe Ermittlerin' charakterisiert wird, ist eine, wie mir mit jeder Begegnung mit ihr scheinen möchte, unorganisierte, unvorsichtige, selten klug handelnde Strafversetzte aus Madrid. Über die Gründe kann man spekulieren, was Genaues weiß man nicht. Wenn man allerdings ihren Aktionen hier in der Geschichte folgt, darf man vermuten, dass ihre Versetzung aufgrund rechter Unfähigkeit, gepaart mit hartnäckiger Eigenmächtigkeit erfolgt ist. Wie sie sich übrigens den PS-starken Rennwagen, den sie liebt wie eine Mutter ihr Kind, und ihre ach so schicken Kostüme, auf denen sie auch dann beharrt, wenn sie Verbrechern in den steinigen Bergen nachjagt, leisten kann, bleibt ein Rätsel, zumal spanische Polizisten, Kriminalbeamte und wie sie sonst noch heißen mögen, eher kärglich entlohnt werden, wie mir mein valencianischer Ordnungshüterfreund mit schöner Regelmäßigkeit vorjammert!
Ja, ein Traumteam der anderen Art sind sie, die 'taffe', dem Kiffen nicht abgeneigte Ana und der verpeilte Felix, der in Windeseile (na denn, ist er halt wenigstens mit einem außergewöhnlichen Talent für Fremdsprachen gesegnet, wenn schon für nichts sonst) so gut Spanisch gelernt hat, dass er sogar für eine spanische Zeitung (!) schreiben soll! Doch was ist das nur für eine seltsame Zeitung? Politisch links ist sie, und 'hipp' (was für ein beklopptes Wort, das alles und nichts bedeuten kann!) ist sie auch. So viel wissen wir, weil man uns das so sagt. Bei der Arbeit können wir ihnen aber nicht über die Schulter blicken, ihre Erzeugnisse kennen wir auch nicht. Was hingegen der Leser beobachten kann ist, dass die schlappen Journalisten des Blattes, wenn sie nicht gerade Kaffee trinken oder in Bars herumhängen und schon am späten Vormittag dem Alkohol zusprechen, geheimnisvoll tun und gegen den Schulbub, denn so wirkt er, aus Deutschland mauern. Halt, dass sie Probleme mit einer rechtsextremistischen Gruppe haben, bekommt man auch noch mit, am Rande, wie alles, mir wichtig Erscheinende, überhaupt nur am Rande Erwähnung findet. Über die sogenannte 'Mentorin' Candela, die Felix zur Seite gestellt wird, möchte ich mich nicht weiter auslassen. Die bei anderen Rezensenten so beliebte hyperaktive junge Frau, ganz dem Klischee der temperamentvollen Spanierin entsprechend, die auf Stöckelschuhen in rasender Geschwindigkeit auch das widrigste Gelände im Sturm nimmt und die man besser nicht ans Steuer eines Autos lassen sollte, kann bei mir genauso wenige Punkte sammeln wie alle anderen Figuren, die in diesem Krimi auftauchen. Dabei müssen für mich die Charaktere keineswegs sympathisch sein, lediglich überzeugend, glaubwürdig in ihrem Verhalten, in ihren Handlungen. Vorstellbar. Genau das aber ist keiner von ihnen, merkwürdigerweise am ehesten vielleicht das Mordopfer selbst, eine sehr junge, aus armen Verhältnissen stammende Frau, seltsam naiv und abgebrüht gleichzeitig, deren Entschluss, auch mal auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, ihr Todesurteil ist.
So, und nun kommen wir zu dem großen Unbekannten, der im Hintergrund, sprich immer dann, wenn der Autor eine seiner vielen Perspektivwechsel für angebracht hält, seine schmutzigen, mutmaßlich blutverklebten Fäden zieht, dessen Geldgier so übermächtig ist, dass er sich – nach außen Biedermann, wie angedeutet wird – über jegliche Gesetze stellt, alle korrumpiert, die sich korrumpieren lassen (und das trifft leider – wie im wahren Leben? - auf die meisten Amtspersonen genauso wie kleine Lichter auf der trockenen und kargen Kanareninsel zu) – und über dessen Identität der Leser am Ende des wenig spannenden Romans ebenso klug ist, wie zu Anfang! Und dieser Punkt, ein Ende nämlich, das abrupt kommt und nichts, aber auch gar nichts aufklärt, ist die gravierendste Schwäche der Geschichte! Ärgerlich, unbefriedigend, selbst wenn man weiß, dass der übereifrige Einfaltspinsel Felix Faber hier in seinem ersten Fall ermittelt. Zumindest einmal noch wird er auf den Kanaren, wo er sich inzwischen, warum auch immer, bereits recht heimisch fühlt, in ein Verbrechen stolpern dürfen, das, davon kann man ausgehen, irgendwie mit dem unbekannten Bösewicht verknüpft sein wird, sein muss, denn der agiert ja weiter im Dunkeln, sein Handwerk wurde ihm in 'Canaria mortal' nicht gelegt. Vielleicht wird der camouflierte Ehrenmann sogar noch durch weitere Teile fädenziehend, quasi selbst als roter Faden, irrlichtern, bevor endlich, endlich seine wahre Identität aufgedeckt wird!?
Wie dem auch sei – ich sage der angedachten Krimireihe mit der Lektüre dieses ersten Bandes adieu! Keine zweite Chance für Felix, Ana, Candela und wie sie alle heißen. Dafür aber werde ich dem Autor des grandiosen, überragenden, zutiefst bewegenden zeitgeschichtlichen Romans 'Zorn der Lämmer', den er unter seinem richtigen Namen, Daniel Wehnhardt, veröffentlicht hat, treubleiben, auf weitere schriftstellerische Perlen dieser Art hoffend!

Veröffentlicht am 26.11.2022

Wäre Linnea doch nur verschwunden geblieben....

Das Verschwinden der Linnea Arvidsson
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Der Roman beginnt mit dem Besuch eines Kriminalbeamten bei der kroatischen Einwandererfamilie Simovic im schwedischen Malmö. Der Kommissar ist auf der Suche nach Daniel, dem Sohn der Familie, der verdächtigt ...

Der Roman beginnt mit dem Besuch eines Kriminalbeamten bei der kroatischen Einwandererfamilie Simovic im schwedischen Malmö. Der Kommissar ist auf der Suche nach Daniel, dem Sohn der Familie, der verdächtigt wird, auf irgendeine Weise verwickelt zu sein in das Verschwinden der jungen Studentin Linnea, das von deren Lebensgefährten angezeigt worden war. Bei Lydia Simovic, aus deren Erzählperspektive der Leser anschließend eingeführt wird in die komplizierte und deprimierende Geschichte ihrer Familie, läuten sämtliche Alarmglocken! Ihr Bruder, dem sie sich stets besonders verbunden gefühlt hatte, ist kein unbeschriebenes Blatt, wurde schon als 13jähriger straffällig und hatte danach eigentlich keine echte Chance mehr auf Rehabilitation, obwohl er, so erfahren wir von Lydia, sich inzwischen losgesagt hat von der kriminellen Szene und versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Doch einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen bedeutet ganz offensichtlich auch im liberalen Schweden einen unauslöschlichen Makel und macht einen bloßen Verdacht im Handumdrehen zur Gewissheit, worüber sich die desillusionierte Lydia völlig im Klaren ist! Wenn jemand den Bruder reinwaschen kann von den schwerwiegenden Anschuldigungen, die sich zusehends verdichten, dann, so meint sie, aus Erfahrung äußerst misstrauisch der Polizei gegenüber, ist sie das. Allzumal sie meint, Daniel etwas schuldig zu sein, war doch sie der Auslöser dafür, dass er als Jugendlicher, beinahe noch ein Kind, ins Visier von Polizei und Jugendamt geriet....
Eine so hektische und planlose, wie verbissene Suche beginnt, in deren Verlauf der Leser einen traurigen Einblick erhält nicht nur in den Zerfall einer mit großen Hoffnungen im sozialen Wunderland Schweden angekommenen Familie, sondern sich auch der Mühsal bewusst wird, mit der die Familie Fuß zu fassen versucht in einem fremden Land, und der Diskriminationen, denen sie allenthalben begegnet. Es bleibt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Familie Simovic da keine Ausnahme bildet, sondern für die große Masse der Immigranten steht, was einen vielsagenden Blick zulässt auf unser aller Umgang mit dem Fremden, das uns im eigenen Land begegnet, egal ob dieses nun Deutschland ist oder Schweden oder irgendwo sonst auf der Welt. Es scheint keine Rolle zu spielen!
Doch die Geschichte verfolgt man beileibe nicht nur aus Lydias Perspektive, sondern auch aus der des Bruders selbst, der inzwischen aufgegriffen wurde und, jede Auskunft verweigernd, in Untersuchungshaft sitzt – und schließlich auch, nachdem der Roman, der so stark begonnen hatte, bereits in Bedeutungslosigkeit, Nichtigkeit und Langeweile versandet ist, aus der Sicht der titelgebenden Person.
Während Lydia von Trauer, Einsamkeit, Verlorensein und Sprachlosigkeit nach dem allzu frühen Tod der Mutter, die Herz und Seele der Simovics war, erzählt und der Leser schnell begreift, wieso Daniel, der jeden Halt verloren hatte, sich mit den falschen Freunden einlassen konnte, führt dieser selbst zunächst die Geschichte fort, berichtet er, zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her gleitend, über die traumatische Inobhutnahme, das Herausnehmen aus der eigenen Familie nach einer Körperverletzung, die er aber nie begangen hatte. Erschüttert liest man, dass er ein willfähriges Opfer war als Sohn von Zuwanderern, deren Familienoberhaupt gar noch arbeitslos und in Depressionen versunken war, und dass die Polizei sich, der Täter war ja vermeintlich gefunden, in keiner Weise für die Wahrheit interessierte. Und er erzählt gleichzeitig von seiner Untersuchungshaft, von dem, was sie mit ihm macht, obschon er überzeugt ist, wenn er sich nur ausschweigt, schon bald wegen Mangels an Beweisen in die Freiheit entlassen zu werden. Doch hat er sich gründlich verrechnet und seine Resistenz beginnt zu bröckeln. Bevor dies aber soweit ist, ertönt plötzlich, zu meiner Verblüffung, die Stimme der Vermissten höchstpersönlich aus dem Off! Und von da an wird die Geschichte zu einem einzigen Ärgernis!
Sicher, was diese nie dem Kindesalter erwachsene Linnea auf ihre dröge, einfältige Art zu der Handlung beizutragen hat, klärt manches auf, ist aber gleichzeitig ein vollständiger Bruch mit der anfangs intensiven und überaus realistischen Geschichte, die vielversprechend erschien und von der ich erwartet hatte, dass sie weitergeführt, den Roman tragen würde. Aber nichts da! Der Erzählfaden bricht einfach ab, lässt den Leser genauso einsam und ratlos zurück, wie es der Tod der Mutter bei ihrer Familie getan hatte. Stränge werden nicht weitergeführt, über die weitere Entwicklung der Familienmitglieder bleibt man im Unklaren, sich abzeichnende Konturen werden nebulös und verwischen ganz. Dafür erfährt man allerhand über das weder spannende noch interessante Seelenleben und die selbst produzierten Probleme der unreifen Linnea, die von einer unglaublichen Naivität und Manipulierbarkeit ist. Wie sie es je auf eine Universität geschafft hat, bleibt mir ein Rätsel! Spätestens, als die Autorin der Figur, die für das ganze Schlamassel verantwortlich ist, aus mir unbegreiflichen Gründen das Wort erteilte, verflacht die so interessante wie bedrückende Geschichte bis hin zum Nichts, um dann in ein Ende zu münden, über das man erstaunt die Augenbrauen hochzuziehen versucht ist. Sie zu analysieren lohnt der Mühe nicht, tiefer zu blicken auch nicht, denn eine Tiefe ist nach dem ersten Drittel schlicht nicht vorhanden – und war womöglich von Beginn an nur ein Trugschluss?
Zurück bleiben Ratlosigkeit und Unwillen ob dieses fragmentarischen Romans, ob der vertanen Chance, die sich hoffnungsvoll anbahnende, sozialkritische Geschichte einer Einwandererfamilie am Beispiel der Simovics aus Kroatien zu erzählen, konsequent und glaubwürdig und ohne das Geholpere und Gestolpere, in das sich die hochgelobte schwedische Autorin schließlich verloren hat. Insgesamt ein enttäuschendes Werk, fürwahr!

Veröffentlicht am 12.11.2022

Die wundersame Wandlung eines Weihnachtsmuffels

Die Weihnachtsfamilie
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Wenn man die zeitlosen Klassiker unter den Weihnachtsromanen und -geschichten kennt, von Charles Dickens weltberühmtem 'A Christmas Carol', über Selma Lagerlöfs Weihnachtsgeschichten, Ludwig Thomas 'Heilige ...

Wenn man die zeitlosen Klassiker unter den Weihnachtsromanen und -geschichten kennt, von Charles Dickens weltberühmtem 'A Christmas Carol', über Selma Lagerlöfs Weihnachtsgeschichten, Ludwig Thomas 'Heilige Nacht', Peter Roseggers Erinnerungen an die Weihnachten seiner Kindheit bis zu den zahlreichen Weihnachtsepisoden aus vielen Büchern der Astrid Lindgren oder vielleicht sogar die bezaubernde Geschichte 'Das Geschenk der Weisen' von O. Henry, dann setzt man die Messlatte hoch, sehr hoch, auf jeden Fall zu hoch, um an dem hier zu besprechenden Roman 'Die Weihnachtsfamilie' wirklich Freude haben zu können. So wenigstens erging es mir, die ich mit Weihnachtsgeschichten wie der von Angelika Schwarzhuber geschriebenen nicht vertraut bin, mit den Klassikern jedoch umso mehr!
Dass Weihnachtsmuffel Emily, eine der Protagonisten des Romans, am Ende geläutert sein würde, war abzusehen, denn Weihnachtswunder, egal was man darunter versteht, müssen in Geschichten dieser Art unbedingt eingebaut werden – und schließlich ist Weihnachten auch aus den Klassikern dafür bekannt. Die Frage war für mich lediglich, auf welche Art und Weise die Autorin, von der ich zuvor noch nichts gelesen hatte, das tun würde, und ob es mich überzeugen könnte. Nun, Emily, die zwei Geschwister aus Hamburg, deren Eltern getrennt leben, zu ihrer vielbeschäftigten Mutter nach Berchtesgaden bringen soll, die dort mit ihrem neuen Lebensgefährten gerade einen Film dreht, um gemeinsam das Fest der Liebe und des Friedens zu feiern, hat eine bereits 22 Jahre währende Weihnachtsphobie, ein Weihnachtstrauma oder wie auch immer man ihre Abneigung nennen möchte, die daraus resultierte, dass ihre eigenen Eltern sich ausgerechnet an jenem denkwürdigen Heiligabend so viele Jahre zuvor trennten, mit einem wahrhaft nachhallenden Paukenschlag. Während die junge Frau nun also Weihnachten entgegen fährt mit den Zwillingen Stella und Joshua und, zunächst unfreiwillig, in die Pläne der Beiden, die Eltern unterm Tannenbaum wieder zusammenzubringen, hineingezogen wird, weicht sie zusehends auf und es kommen immer wieder – über die gesamte Handlung verstreut – Erinnerungen an das unselige Trennungsweihnachtsfest auf, die zusammen mit der überbordenden Gefühlsduselei, die Hannah, die Mutter der Zwillinge, entschlossen ist durchzuziehen, und die im Schmücken des riesigen Wohnzimmers im für die Dauer der Dreharbeiten fürs hohe Fest angemieteten Villa (klar, ein bescheideneres Häuschen kann ja nicht angehen für die berühmte Frau und ihren noch berühmteren Regisseurfreund!) mitten im schneereichen Winterwunderland, gipfelt, das nach vollbrachter Tat sogar das vor nichts zurückschreckende Hollywood vor Neid und Schock erblassen ließe... Weihnachten kann kommen!
Nicht ganz so freilich, wie man es erwartet – und das ist für mich fast das einzige Positive an dem trotz des Hintergrundthemas Scheidung, Kinderleid und Patchworkfamilie überaus sentimentalen Heile-Welt-Romans, in dem nebenbei, so wie es sich gehört, hemmungs- und gedankenlos und völlig unnötig mit dem Auto oder dem Flugzeug von einem Ort zum anderen gereist wird, ohne sich auch nur die geringsten Gedanken darüber zu machen, wie denn der eigene Beitrag zum Schutze von Umwelt und Klima aussehen könnte. Man hat die Mittel, also tut man es!
Emilys vollkommene Wandlung – anders als weiland die von Ebenezer Scrooge, der wirklich durch sämtliche Höllen gegangen ist, um die weihnachtlichen Prüfungen als veränderter Mann zu überstehen! – ist bedauernswerterweise weit davon entfernt, mich überzeugen zu können, und die übergroße Harmonie, die die geschiedenen oder getrennten Eltern der sehr manipulativen Zwillinge, die nie wirklich in ihre Schranken gewiesen werden, an den Tag legen, empfand ich ebenfalls als stark überzogen. Es wirkt gerade so, als wäre eine Scheidung die normalste Sache der Welt, ein Klacks, ein Spaziergang, und negiert damit einen mit vielfältigen Verletzungen verbundenen gravierenden Einschnitt aller Beteiligten, auch, nein vor allem, für die Kinder, die wie üblich nicht gefragt werden. So gesehen muss meine Sympathie, sofern es mir möglich war, mich mit einem der mir unrealistisch, stereotyp erscheinenden Charaktere anfreunden zu können, selbstredend bei den Kindern Stella und Joshua liegen und noch mehr bei der einsamen, normalerweise – typisch für britische Wohlstandsfamilien - im Internat vor sich hin vegetierenden Regisseurstochter Bonnie, die wohl die Unglücklichste von allen ist, unterm Weihnachtsbaum aber mutiert wird zu einem in Glückseligkeit dahinfließenden, die ihr kaum bekannte Stiefmutter nebst Stiefgeschwistern von Herzen liebenden Mitglied der zusehends anwachsenden Weihnachtsfamilie....
Und zu guter Letzt habe ich in der mit dicken Schichten Zuckerguss überträufelten, unglaubwürdig romantischen, zur perfekten Harmonie wild entschlossenen Weihnachtsgeschichte nicht einmal den Hauch eines Hinweises auf den wahren, den eigentlichen Sinn des Festes gefunden, das eigentliche Weihnachtswunder, den Grund, warum überhaupt Weihnachten ein so hehres Fest ist, dass es eben nicht um den perfekten äußeren Schein, eine mit Gewalt herbeigezerrte und deshalb aufgesetzte Harmonie geht, sondern vielmehr um etwas, das viel tiefer geht, das etwas mit dem innersten Selbst und schlicht und einfach mit dem Sinn des Lebens zu tun hat. Etwas übrigens, das in all den zu Anfang meiner Betrachtungen zitierten Klassikern zu finden ist, das über den darin erzählten Geschichten schwebt und sie daher unsterblich macht – nicht nur zur Weihnachtszeit!

Veröffentlicht am 26.12.2021

Wie viele Leben kann man leben?

Die Mitternachtsbibliothek
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Der britische Autor Matt Haig stellt seinem vielgepriesenen, mit Lobeshymnen geradezu überschütteten, 2020 erstveröffentlichtem Roman „The Midnight Library“ (deutscher Titel „Die Mitternachtsbibliothek“) ...

Der britische Autor Matt Haig stellt seinem vielgepriesenen, mit Lobeshymnen geradezu überschütteten, 2020 erstveröffentlichtem Roman „The Midnight Library“ (deutscher Titel „Die Mitternachtsbibliothek“) ein Zitat der jung durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Literatin Sylvia Plath voran, in dem sie beklagt, niemals all die Menschen sein zu können, die sie möchte und die unterschiedlichsten Leben zu leben, dabei gleichzeitig alle nur wünschenswerten Fähigkeiten zu erlangen. Also bleibt ihr nur, das Leben in all seiner Vielfalt so intensiv und bewusst wie möglich auszukosten. Mit diesem so passenden Zitat fasst Matt Haig sowohl das Grundproblem seiner Protagonistin Nora Seed zusammen als auch dessen Lösung, zu der jene Nora, des Lebens gründlich müde, jeoch noch einen langen Weg auf genau 288 Seiten zurückzulegen hat.
Aber der Reihe nach! Durch äußere Umstände, aber auch aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeitsstruktur, treibt Nora Sand durch ihr Leben. Zur Depression neigend sieht sie immer weniger Sinn, weiter auf dieser Erde zu verharren. Inzwischen Mitte Dreißig trauert sie verpassten Chancen nach, hält sich für eine Versagerin, die keine ihrer Möglichkeiten genutzt hat und die niemand braucht. Immer tiefer in ihre Depressionen abgleitend braucht es nur einen Anlass, um zu beschließen, die Welt für immer zu verlassen. Soweit, so gut! Nein, natürlich ist gar nichts gut! Aber es könnte gut werden, denn ab jetzt beginnt das Märchen, das dieser Roman strenggenommen ist – und Märchen haben doch zumeist ein Happy End, nicht wahr? Doch lassen wir uns überraschen!
Zunächst einmal landet Nora weder direkt im Himmel noch in der Hölle, sondern vielmehr in einer Art Fegefeuer, wie ich den Ort, an dem sie sich zu ihrem nicht geringen Erstaunen wiederfindet, nennen möchte. Der Autor hat einen Namen dafür: die Mitternachtsbibliothek! Und Nora ist nicht allein, denn da wartet Mrs. Elm auf sie, die freundliche Bibliothekarin aus Noras Schulzeit, die ihr einmal in einer schwierigen Situation zur Seite gestanden hatte – so, wie sie es auch jetzt wieder tut. Sie überreicht der fassungslosen Nora, die eigentlich nichts anderes wollte als zu verschwinden vom Antlitz der Erde, ein ungemein dickes Buch, in dem all das aufgezeichnet ist, von dem Nora meinte, es bereuen zu müssen. Ein Buch der verpassten Chancen könnte man es auch nennen. Mrs. Elm nun fordert Nora auf, die Einträge in diesem unseligen Buch, das zwischen ihr und dem Leben steht, zu löschen – indem sie die Leben lebt, gegen die sie sich zu den unterschiedlichsten Zeiten in der Vergangenheit entschieden hatte. Und wenn ihr eines dieser Leben gefiele, so könnte sie darin verweilen. Eine neue Chance – in vielleicht dem richtigen Leben?
Widerwillig lässt sich Nora darauf ein und erlebt Erstaunliches, doch immer wieder kehrt sie zurück in die Mitternachtsbibliothek, in er sie zwischen Leben und Tod schwebt, solange sie sich nicht für eines der Leben, die sie ausprobiert und die die ihren hätten sein können, hätte sie eine andere Wahl getroffen, entscheidet. Sie macht Sylvia Plaths Wunsch aus dem Zitat wahr, ist, mal für ganz kurze, mal für längere Zeit der Mensch, der auch in ihr schlummert, lebt als solcher ein Leben, das dieser, und nur dieser, leben konnte. Doch was machen all diese Erfahrungen mit ihr, die sie als Wanderin zwischen den Welten sammelt? Vor allen Dingen staunt sie über das unermessliche Potential, das in ihr zu schlummern scheint und das sie niemals in sich vermutet hätte. Doch was sie sucht, das hat sie nicht gefunden, noch nicht, in so viele mögliche Leben sie auch hineingeschlüpft ist. Immer war da etwas, das sie zwang, in die Mitternachtsbibliothek zurückzukehren. Das Buch aber, das dicke Buch, in dem all die Dinge aufgeschrieben waren, die sie bereute, beklagte und bejammerte und quasi abarbeitete, wird immer dünner, immer leichter – und im gleichen Maße wird Noras Lebenslicht schwächer, der Tod nähert sich mit großen Schritten. Mrs. Elm drängt auf eine Entscheidung!
Der Leser mag ahnen, wie diese aussehen könnte, vielleicht kommt sie auch unerwartet, wird überraschen, denn leicht kann diese Entscheidung nicht sein, schließlich hatte Nora sich selbst als erfolgreichen und bejubelten Rockstar erlebt, als Weltklasseschwimmerin, als Gletscherforscherin in Spitzbergen, Auge in Auge mit einem angriffslustigen Eisbär, und schließlich auch als glückliche Ehefrau eines liebenswerten Mannes und Mutter einer überaus entzückenden Tochter. Auf all diesen 'Reisen' ist der Lebensmüden aber noch etwas ganz anderes klargeworden, sie hat, wenn man so möchte, tief, ganz tief geblickt, hat verstanden, oder besser, mehr als nur eine Ahnung, worum es wirklich geht im Leben. Wünschen wir ihr also, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat!
„The Midnight Library“ ist gewiss im Prinzip eine kluge, eine tiefsinnige Geschichte. In diesem Punkt gehe ich konform mit den so vielen, überschwänglich positiven Kritiken. Und ja, die Geschichte erinnert an den Klassiker „It's a Wonderful Life', der allweihnachtlich über die Bildschirme nicht nur in Deutschland flimmert und der gar manchen Zuschauer immer wieder aufs Neue zu Tränen rührt. In einem, einem wichtigen, dem wichtigsten Punkt jedoch unterscheidet sich der hier zu besprechende Roman von dem ohne Einschränkungen bezaubernden Film – eine zu Herzen gehende Geschichte, voller Wärme und dem Zauber, der einen Neuanfang suggeriert und glaubwürdig macht, ist Matt Haigs Roman nicht! Leidet man mit dem verzweifelten, inständig um sein altes Leben bittenden James Stewart aus voller Seele mit, so lässt einen Nora Seed weitgehend kalt – obwohl ich mir wirklich Mühe gegeben habe, mich in sie hineinzuversetzen, wirklich zu verstehen, was sie umtreibt. Sie ist gesichtslos geblieben, ihr wurde nicht das Leben eingehaucht, das James Stewart so überzeugend seinem altruistischen George Bailey verleihen konnte. Nora Seed ist dauerhaft larmoyant, lässt die Menschen hängen, versteckt sich in sich selbst. Und alles kann man eben nicht ihrer depressiven Veranlagung zuschreiben!
Die Idee einer Bibliothek, eben jene titelgebende Mitternachtsbibliothek als Purgatorium, hat mir gut gefallen, die ständig kryptischen Sätze der eigentlich sympathischen Louise Elm jedoch weniger. Ich habe schlicht und einfach nicht verstanden, was ihre ewigen Andeutungen, die der Autor sie hervorbringen lässt und die sie als sonnenklar anzusehen scheint, bedeuten sollen. Das tut Nora übrigens auch nicht, ohne dass Mrs. Elm tüchtig nachhelfen muss. Auch das Ende bleibt unter meinen Erwartungen, zumal es irgendwie abgehakt erscheint, wenn man es mit vielen, sehr ausführlichen vorangegangenen Szenen vergleicht, die unnötig in die Länge gezogen sind.
Und zu guter Letzt – ein Märchen ist ein Märchen, mit Botschaften, gewiss, mit Einsichten, einer Moral oder allgemeingültiger Weisheit, wenn man es so nennen möchte. Was aber sagt uns dieses Romanmärchen? Dass das Leben unbegrenzte Möglichkeiten bietet, dass man immer wieder von vorne anfangen kann, man eine neue Chance nach der anderen bekommt? Das wäre dann aber scharf an der Realität vorbeigedacht! Unbegrenzte Möglichkeiten, Neuanfänge – all das muss man sich leisten können, dazu sollte man jung und ungebunden sein, niemanden haben, für den man verantwortlich ist. Setzt man sich über Verpflichtungen hinweg, die die meisten von uns haben, nur um die alte Haut abzustreifen und in immer wieder neue zu schlüpfen, wird es alsbald sehr einsam werden um uns herum! Das wäre die Art von Freiheit, die auf Kosten eines anderen geht.
Vielleicht aber möchte uns Matt Haig etwas ganz anderes mitteilen mit der Geschichte seiner nicht einmal mittelmäßigen Nora, nämlich dass man sich so annehmen sollte, wie man nun einmal ist, dass gemachte Fehler zum Leben dazugehören, dass man daraus lernen kann, anstatt sie in einer Schublade zu lagern und zu hüten, auf dass sie uns immer wieder an unser vermeintliches Versagen erinnern? Mit dieser Interpretation, die ich mit weit weniger Kritikern teile, könnte ich durchaus leben – da der Autor aber gleichzeitig für unbegrenzte Chancen auf einen Neuanfang zu plädieren scheint, lege ich sein Werk mit reichlich gemischten Gefühlen zur Seite – und schaue mir dafür lieber noch ein weiteres Mal den herzensguten, im Gegensatz zu der im Selbstmitleid ertrinkenden Nora Seed, überhaupt nicht egozentrischen George Bailey, alias James Stewart, im Fernsehen an! Und dies nicht nur zur Weihnachtszeit...

Veröffentlicht am 02.12.2021

Arbeiteraufstände, Streiks, Architektur - und viel zu wenig Handlung

Die Tränen der Welt
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Ein ambitioniertes Werk ist er ganz sicher, der fünfte Roman des in Barcelona geborenen Katalanen Ildefonso Falcones de Sierra, bestverkaufter spanischer Autor historischer Romane, der mit seinem 2006 ...

Ein ambitioniertes Werk ist er ganz sicher, der fünfte Roman des in Barcelona geborenen Katalanen Ildefonso Falcones de Sierra, bestverkaufter spanischer Autor historischer Romane, der mit seinem 2006 erschienenen Buch „Die Kathedrale des Meeres“ (im spanischen Original „La Catedral del Mar“) einen überwältigenden Erfolg hatte. Unzweifelhaft ist er auch hervorragend und geradezu akribisch recherchiert. Und dass der Autor, der neben seiner Schriftstellertätigkeit im Hauptberuf als Rechtsanwalt tätig ist, zu schreiben versteht, beweisen seine über fünf Millionen mal verkauften und in viele Sprachen übersetzten Bücher. Obwohl – nun ja, man kennt das, es gibt nicht wenige Werke, die von Buchhandel und Verlagen hochgejubelt werden und nicht das Papier wert sind, auf das sie gedruckt sind...
Dazu gehört Falcones' neuester Roman „Die Tränen der Welt“ (im Original „El pintor de almas“) gewiss nicht! Wiewohl ich bezweifeln möchte, dass ihm ein ebensolcher Erfolg beschert sein wird wie dem berühmten und zu Recht gelobten Erstlingswerk, das einfach alles hat, was einen überragenden historischen Roman ausmacht: Thematik und Handlung sind nicht nur fesselnd und in berückende Bilder umgesetzt, sondern auf eine Art miteinander verwoben, die ich nur als perfekt bezeichnen kann. Dies ist in dem über 700 Seiten starken 'Seelenmaler', um den Originaltitel direkt ins Deutsche zu übertragen, nicht der Fall. Zuviel hat der Autor gewollt, auf zu vielen Feldern hat er seinen Roman angesiedelt, diese auf eine Weise ausgeleuchtet, die mir zu detailliert und dementsprechend langatmig ist.
Arbeiteraufstände, nie endenwollende Streiks, immer mit denselben Forderungen und jedesmal, in den im Roman behandelten Jahren zwischen 1901 und 1909 jedenfalls, ins Leere führend, ja die sogar die ohnehin skandalöse Situation für den so großen Teil der Bewohner Barcelonas, die ums tägliche Überleben kämpfen mussten und unter himmelschreienden Bedingungen lebten, durch die folgenden rigorosen Sanktionen noch verschlechterten. Die Macht war in den Händen der reichen Bourgeoisie und des ebenso wohlhabenden und unbedingt und mit großem Hass zu bekämpfenden Klerus, vom brutalen Militär abgesichert. Ja, es erschüttert, das zu lesen, es macht wütend und dem Leser gleichzeitig bewusst, dass es schließlich jene mutigen, gar todesmutigen Kämpfer, ein Gutteil davon Frauen, waren, denen wir die Freiheit, die wir heute so selbstverständlich genießen, die umfassenden Rechte, derer wir uns erfreuen, die humanen Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen zu verdanken haben. Aber sind, um dies klarzumachen, tatsächlich 700 Seiten vonnöten? In epischer Breite, immer und immer wiederholt?
Und ja, „Die Tränen der Welt“ ist ein Barcelona-Roman, vielleicht auch, so kam mir immer stärker der Verdacht, hauptsächlich für leidenschaftliche Barceloneser mit brennendem Interesse für die Geschichte ihrer Stadt geschrieben, zu einer Zeit spielend, als Gebäude entstanden, die die Besucher der Großstadt am Mittelmeer noch heute in ihren Bann ziehen, von Ausnahmearchitekten wie dem frommen Antoni Gaudí, Domènech i Montaner und Josep Puig i Cadafalch geschaffen, die den katalanischen Modernismus verkörperten wie niemand sonst und zu eben jener Zeit arbeiteten, in der der Roman spielt und also stets aufs Neue Erwähnung finden. Wann immer dies geschieht, kann man sich auf seitenlange Auslassungen über das Spezialfeld der Architektur, dem offensichtlich des Autors ganze Leidenschaft gehört, gefasst machen. Irgendwann war mir das zuviel, zu speziell, so dass ich dann solche Passagen nur noch überflog. Wie die zahlreichen Aufstände, organisiert von Anarchisten und Revolutionären, durchziehen besagte Schilderungen den Roman und lassen die mehr oder minder episodenhafte Geschichte, die die Haupthandlung sein soll, aber zerrupft beim Leser ankommt, ein ums andere Mal in den Hintergrund treten, unterbrechen den Erzählstrang und lenken ab. Die Einheit von Hintergrund, Haupt- und Nebenhandlungen, die dem Autor wunderbar bei seinem Erstling gelang, will sich hier nicht einstellen.
Zudem bereiteten mir die beiden Protagonisten der eigentlichen Handlung, der Fliesenmaler Dalmau und die Köchin, Arbeiterin, vor allem aber Revolutionärin Emma, von Anfang an Probleme, und die Liebesgeschichte zwischen den beiden, die abrupt abbrach aufgrund einer Mischung aus seltsamen Missverständnissen, Hochmut, falsch verstandenem Stolz und Intrigen von Seiten zweier Straßenkinder, die durch die lange Geschichte geistern und viel Leid verursachen, ist so zäh und schließlich auch ärgerlich, wie das gesamte Buch. Allerdings gewann zumindest der Maler Dalmau, der so lange einem Irrweg folgte, sich korrumpieren ließ von der feinen Gesellschaft, und so seine Wurzeln, damit auch sich selbst, verlor, allmählich an Profil. Seine Auferstehung aus der Gosse, in die er sich durch seine Alkohol- und Morphinsucht selbst gestürzt hatte, mag zwar wundersam anmuten, vermag aber dennoch zu überzeugen.
Die beeindruckendste Figur in Falcones' Roman jedoch ist die alte Anarchistin Josefa, Dalmaus kluge, vom Leben gebeutelte, zu jedem Opfer bereite Mutter. Wie ein guter Geist ist sie der Fixpunkt des Romans, bereit, ihr lebenslanges Credo über Bord zu werfen, um den Ihren, wozu auch Emma, trotz der Trennung von Dalmau, stets gehört, aus bedrohlichen Situationen zu retten. Und allein ihretwegen wären „Die Tränen der Welt“ (warum, so frage ich mich, musste man der deutschen Übersetzung eigentlich diesen mir nicht einsichtigen Titel geben?) ein Roman, den es sich zu lesen lohnt, sind in ihr, der einfachen Frau aus der Unterschicht, doch alle Tugenden vereint, die es braucht, um menschlich zu bleiben in einer unmenschlichen Welt und unter den härtesten Bedingungen, wie denen, gegen die sich die Unterprivilegierten, mit den Frauen an vordester Front, hier im Roman und vielfach in der Geschichte der Menschheit, zur Wehr setzten. Mit der Figur der Josefa wurde dem Roman, der mich, noch ganz im Banne der „Kathedrale des Meeres“ und also mit einer hohen Erwartungshaltung begonnen, weitgehend enttäuschte und dem ich bloßes Mittelmaß bescheinigen muss, ein Funken Leben eingehaucht, die Art von Authentizität verliehen, die ich mir von einer wirklich anrührenden Geschichte immer erhoffe. Aber dieser eine Funke ist nicht hell genug, um sein Licht auszubreiten über den hier gerade besprochenen Roman, nicht einmal dann, wenn der Autor ein so großer, ein so begabter wie Ildefonso Falcones ist!