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Veröffentlicht am 28.11.2022

Komplexe Spannung aus dem Norden Schwedens

Erdschwarz
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Mit „Erdschwarz“ wird nach „Sturmrot“ die auf drei Bände angelegte Geschichte der Polizistin Eira Sjödins fortgeschrieben. Da ihre demente Mutter Hilfe im Alltag benötigt, hat sie ihrer Stelle in Stockholm ...

Mit „Erdschwarz“ wird nach „Sturmrot“ die auf drei Bände angelegte Geschichte der Polizistin Eira Sjödins fortgeschrieben. Da ihre demente Mutter Hilfe im Alltag benötigt, hat sie ihrer Stelle in Stockholm den Rücken gekehrt und ist in ihre Heimat im Norden zurückgekommen, wo sie nun Kommissar Georg „GG“ Georgssons Team verstärkt. Sie kennt die Gegend und die Menschen, weiß wie sie ticken, ist empathisch. Fähigkeiten, die in dem aktuellen Fall mehr denn je gefragt sind, da bei dessen Klärung die Kripo in Kramfors auf der Stelle tritt.

Ein toter Mann in einem verlassenen Haus in den Wäldern Ångermanlands, dem zwei Finger abgetrennt wurden. Kein Einzelfall, denn auch in der ehemaligen Bergbau-Gemeinde Malberget wird eine männliche Leiche gefunden. Die Gemeinsamkeiten in beiden Fällen sind nicht zu übersehen. Beide Opfer wurden über einen längeren Zeitraum in menschenleeren Gegenden ohne Nahrung und Wasser gefangen gehalten. Und es gibt in beiden Fällen Gerüchte, dass die Mafia ihre Finger im Spiel haben könnte. Und dann sind da noch Eiras familiäre Verwicklungen in einem ungeklärten Mordfall.

Bei Trilogien ist der mittlere Band in der Regel eher dürftig, da er vor allem als Bindeglied zwischen dem einführenden ersten und dem abschließenden dritten Teil genutzt wird. Nicht so bei Tove Alsterdal. Den besonderen Reiz macht dabei die Komplexität ihres Erzählens aus. Sie beschränkt sich nicht nur auf die akribisch beschriebene Polizeiarbeit und das Privatleben ihrer Protagonistin, sondern macht ihre Leser auch mit dieser menschenleeren Landschaft im Norden Schwedens vertraut, was durchaus seinen Reiz hat. Es ist eine Gegend, die schon wesentlich bessere Tage gesehen hat. Ångermanland, früher boomenden durch die Holzindustrie, aber seit der Stilllegung der Fabriken wie ausgestorben. Malberget, bekannt durch seine Eisenerzgruben, die den Ort unterhöhlten, das Erdreich absacken ließen und deshalb großangelegte Umsiedlungsmaßnahmen zur Folge hatten.

Aus diesen unterschiedlichen Faktoren hat die Autorin eine dichte, fesselnde und vielschichtige Reihe kreiert, die auf die leisen Töne setzt und es deshalb nicht nötig hat, mit Brutalität zu punkten. Die Mordfälle sind nur die Aufhänger, denn im Wesentlichen geht es ihr um die Menschen, um das, was sich wie in Malberget unter der Oberfläche abspielt und auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist.

Der Abschlussband „Nebelblau“ wird im Juli 2023 erscheinen. Ich freue mich sehr darauf, bin aber gleichzeitig auch traurig, dass damit die Trilogie abgeschlossen sein wird.

Veröffentlicht am 28.10.2022

Rezepte und mehr...

Neues Backen
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Seit 2011 betreibt die Amerikanerin Laura Kratochvila die Bäckerei „Fine Bagels“, die auf jüdische Backwaren spezialisiert ist. Ihr Knowhow hat die aufgeschlossene Wahleuropäerin im Rahmen einer klassischen ...

Seit 2011 betreibt die Amerikanerin Laura Kratochvila die Bäckerei „Fine Bagels“, die auf jüdische Backwaren spezialisiert ist. Ihr Knowhow hat die aufgeschlossene Wahleuropäerin im Rahmen einer klassischen Ausbildung in Frankreich erworben und auf den verschiedenen Stationen ihres Lebensweges perfektioniert. Und nun lässt sie uns mit ihrem gerade veröffentlichten Buch „Neues Backen“ an ihren Fähigkeiten teilhaben, wobei sie sich aber nicht nur auf Rezepte beschränkt, sondern auch kulturhistorische Hintergründe und deren Auswirkungen auf das Bäckerhandwerk erläutert.

Und hier sind wir auch schon an dem Punkt, der „Neues Backen“ ausmacht. Nachdem die professionelle Bäckerzunft jahrhundertelang fest in männlicher Hand war und sich hin zu industrialisierten Produkten entwickelt hat, hat man in den vergangenen Jahren die Begeisterung für regionale und saisonale Backwaren entdeckt und damit Rezepte reaktiviert, die von Generation zu Generation von Müttern und Großmüttern zwar weitergegeben, aber auch individuell und kreativ weiterentwickelt wurden.

Laura Kratochvila nimmt uns mit 99 Backrezepten, aufgeschlüsselt in 5 Kapitel, auf eine Reise durch Europas Backstuben mit und stellt uns gleichzeitig die Visionen und Rezepte von herausragenden Bäckerinnen und Bäcker vor. Von Brot und Brötchen (inklusive einer detaillierten Beschreibung für die Herstellung von Sauerteig), über Brioches und angereicherte Teige, Plunderteil und Blätterteig, Tartes und Plätzchen, bis hin zu Konfitüren, Füllungen Toppings und Cremes, ist alles vertreten, was man über die Herstellung süßer und herzhafter Backwaren wissen muss. Alle Arbeitsschritte werden ausführlich und mit Zeitangaben beschrieben, so dass auch weniger Geübte mit den Rezepten zurechtkommen sollten. Aber gleichzeitig bieten die jedem Kapitel vorangestellten Grundrezepte genügend Spielraum, damit auch Hobbybäcker*innen ihre Kreativität ausleben können.

Eine empfehlenswerte Rezeptsammlung, für Anfänger und Fortgeschrittene gleichermaßen geeignet.

Veröffentlicht am 20.10.2022

Ein literarischer Krimi, der überzeugt

Was ans Licht kommt
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Mein Interesse an Kriminalromanen, speziell an solchen, die neben einer spannenden Story auch Innenansichten der Gesellschaft bieten, wurde vor Jahrzehnten von dem schwedischen Autorenpaar Maj Sjöwall ...

Mein Interesse an Kriminalromanen, speziell an solchen, die neben einer spannenden Story auch Innenansichten der Gesellschaft bieten, wurde vor Jahrzehnten von dem schwedischen Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö geweckt. Skandinavische Krimis waren damals auf dem deutschen Markt nicht wirklich präsent, geändert hat dies Henning Mankell, der mit seiner Wallander-Reihe den Geist aus der Flasche entließ. Seither wird/wurde der deutsche Buchmarkt von einer wahren Flut „Schweden-Krimis“ überschwemmt, deren Inhalte und Präsentationen in der Regel keine Alleinstellungsmerkmale bieten und sich lediglich um die Entlarvung des Täters kümmern.

Aber glücklicherweise gibt es auch die eine oder andere Ausnahme wie den Schweden Christoffer Carlsson (von Haus aus promovierter Kriminologe), dessen Kriminalromane sich weniger durch eine ausgeklügelte Story sondern durch die feinen Charakterisierungen der Personen und den Umgang des Autors mit Sprache von der Massenware unterscheiden.

„Was ans Licht kommt“ ist in seiner Schwere und Melancholie einerseits ein sehr skandinavischer Roman, zeigt andererseits aber auch die Momentaufnahme einer Gesellschaft in den achtziger Jahren, in der durch ein einzelnes Ereignis die Grundwerte an Bedeutung verlieren, in Frage gestellt werden und zutiefst verunsicherte Menschen zurücklassen.

In der Rahmenhandlung ist hier zum einen das Attentat auf Olof Palme zu finden, ein Fall, in dem bis heute der Täter nicht zweifelsfrei ermittelt werden konnte, zum anderen aber auch, und das ist hier wesentlich wichtiger, eine Mordserie in der schwedischen Provinz. In beiden Fällen war die Polizei überfordert und kam bei der Suche nach dem Täter nicht voran.

Dreißig Jahre später kehrt ein Schriftsteller in die Kleinstadt zurück, um ein Buch in Angriff zu nehmen. Er ist dort aufgewachsen, hat Interesse an dem alten Fall und rollt diesen Cold Case für seinen neuen Roman wieder auf. Zahllose Gespräche mit den Einwohnern führen ihn schließlich auf die richtige Spur, und so entlarvt er ganz nebenbei den Täter, letzteres ist allerdings für die Qualität von Carlssons Roman eher nebensächlich. Was für ihn und uns Leser von Interesse ist, sind die Auswirkungen, die diese Taten und die nachfolgenden Ermittlungen nicht nur für die Bewohner der Kleinstadt sondern auch für die ermittelnden Polizisten hatten. Hier schaut Carlsson ganz genau hin, entlarvt komplizierte Familienbande und Beziehungen, stellt die Frage nach der Wahrheit, aber auch nach Schuld und Sühne. Ein literarischer Kriminalroman, der zu überzeugen weiss.

Veröffentlicht am 19.10.2022

Informatives über das indigene Volk der Sámi

Das Leuchten der Rentiere
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Ann-Helén Laestadius kennt man in Schweden als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Mit „Das Leuchten der Rentiere“ hat sie nun ihren ersten Roman für Erwachsene geschrieben, der 2021 als Buch des Jahres ...

Ann-Helén Laestadius kennt man in Schweden als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Mit „Das Leuchten der Rentiere“ hat sie nun ihren ersten Roman für Erwachsene geschrieben, der 2021 als Buch des Jahres ausgezeichnet wurde. Zu Recht!

Ausgangspunkt ist der Mord an Nástegallu, dem Rentierkalb der neunjährigen Elsa aus dem nordschwedischen Sápmi, Heimat ihrer samischen Rentierzüchterfamilie. Sie beobachtet die Tat, wird aber mit eindeutigen Gesten von dem Täter bedroht. Trauer und Angst sorgen dafür, dass sie schweigt, auch wenn immer wieder in den Herden abgeschlachtete und grausam verstümmelte Tiere auftauchen. Die Polizei geht diesen Vorfällen nicht nach und behandelt die Anzeigen lediglich als minderschwere Diebstahlsfälle.

Elsa wird erwachsen, ihre Schuldgefühle machen der Wut Platz. Natürlich richtet diese sich in erster Linie gegen die angeblich tolerante schwedische Gesellschaft, die die Sámi diskriminiert und als Menschen zweiter Klasse behandelt, im konkreten Fall die Augen vor der Tatsache verschließt, dass die Rentierzucht für diese ethnische Volksgruppe nicht nur Existenzgrundlage sondern auch Ausdruck ihrer kulturellen Identität ist. Aber sie schaut auch kritisch auf die patriarchalisch geprägte Lebensweise ihrer Herkunftsfamilie, in der jede/r seinen Platz hat und bei Problemen auf Hilfe von außen verzichtet. Dieser Kampf an den verschiedenen Fronten geht nicht ohne Blessuren ab und bringt Elsa immer wieder in gefährliche Situationen.

Laestadius demaskiert die angeblich so tolerante schwedische Gesellschaft, zeigt den Rassismus und die tagtäglichen Diskriminierungen innerhalb der Gesellschaft, mit denen die samischen Rentierzüchter und ihre Familien tagtäglich zu kämpfen haben. Gleichzeitig thematisiert sie aber auch die Gefahren des Klimawandels für den Fortbestand dieser indigenen Volksgruppe. All das verbindet sie in einer ruhigen, sensiblen Erzählweise zu einer runden Geschichte, die nicht nur berührt sondern auch tiefgehend über das Leben der Sámi informiert. Nachdrückliche Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 10.10.2022

Eine neue Zeit bricht an

Drachenbanner
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„Das Lächeln der Fortuna“ war, wie bei so vielen, auch mein Einstieg in die Geschichte der (fiktiven) Waringhams und seither wartete ich immer mit Ungeduld auf deren Fortsetzung. Leicht getrübt wurde das ...

„Das Lächeln der Fortuna“ war, wie bei so vielen, auch mein Einstieg in die Geschichte der (fiktiven) Waringhams und seither wartete ich immer mit Ungeduld auf deren Fortsetzung. Leicht getrübt wurde das Vergnügen allerdings durch die zeitlichen Sprünge der jeweiligen Bände, die die historische Einordnung stellenweise erschwerten. Dieses Problem scheint allerdings glücklicherweise zumindest bei „Drachenbanner“ der Vergangenheit anzugehören, schließt dieser Roman doch fast nahtlos an den Vorgänger „Teufelskrone“ an, in dem die Autorin Richard Löwenherz und Johann Ohneland die Bühne betreten lässt, die Entstehungsgeschichte der Magna Charta erzählt und das mit der Familiengeschichte der Waringhams verquickt.

In „Drachenbanner“ sind diese beiden Herrscher Geschichte, nun sitzt König Heinrich III. auf dem Thron. Ein Frömmler, ein Zauderer, ein schwacher König, der der Nachwelt im Wesentlichen als Baumeister (Westminster Abbey, Palace of Westminster, Tower of London etc.) in Erinnerung geblieben ist.

An den Lebensbedingungen für die einfachen Leute hat sich allerdings nichts verändert. Noch immer leben sehr viele von ihnen in Leibeigenschaft und sind der Willkür ihrer oft grausamen Grundherren ausgeliefert. Aber wie immer gibt es auch Menschen, die dieses Los nicht hinnehmen sondern alles daransetzen, diesem Leben zu entkommen. Und das bringt uns zu Bedric, dem Sohn einer leibeigenen Buersfamilie, und Adela of Waringham, Die beiden wachsen als „Milchgeschwister“ auf (seine Mutter ist Adelas Amme) und haben eine ganz besondere Verbindung. Und ja, das ist die Love Story, die angenehm unaufdringlich den gesamten Roman durchzieht. Adela fügt sich den familiären Erwartungen, wird Hofdame bei Eleanor, der Schwester des Königs, die mit Simon de Montfort verheiratet ist. Bedric hingegen setzt alles daran, dem Joch der Leibeigenschaft zu entkommen, was ihm trotz vieler Widrigkeiten gelingt und auch ihn natürlich, trotz vieler Irrungen und Wirrungen, wieder in das nahe Umfeld der inzwischen verheirateten Adela bringt.

Wesentlich interessanter als die Adela/Bedric-Geschichte ist allerdings der Blick auf Simon de Montfort, Schwager des Königs und Anführer einer für die damalige Zeit revolutionären Bewegung auf englischem Boden, die 1258 ihr vorläufiges Ende durch die Provisions of Oxford fand, die zum Ziel hatten, auch dem Bürgertum eine Stimme zu geben und die Macht des Adels zu beschränken. De facto war das die Geburtsstunde des heutigen House of Commons/Unterhaus, auch wenn es bis zur dauerhaften Einrichtung noch zahlreiche Rückschläge gab und Montfort seinen Vorstoß schlussendlich mit dem Leben bezahlen musste.

Und da ist sie wieder, die akkurate Recherche der Autorin, die das Damals und Heute so stimmig verbindet. Historische Fakten höchst unterhaltsam präsentiert und in die unterhaltsame Story eingearbeitet, Setting und Personen so detailreich und anschaulich beschrieben, dass man den Eindruck hat, man wäre dabei gewesen. Ein facettenreicher historischer Roman der Extraklasse, nicht nur für Leser geeignet, die an der englischen Geschichte interessiert sind.