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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.03.2023

So fesselnd wie Super Mario - aber mit ganz viel Herz und Tiefe!

Morgen, morgen und wieder morgen
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Die Spielekonsole im Aufenthaltsraum eines Krankenhauses ist der Ausgangspunkt für die Freundschaft zwischen Sam und Sadie – zwei augenscheinlich unterschiedliche Charaktere, die dennoch auf ganz besondere ...

Die Spielekonsole im Aufenthaltsraum eines Krankenhauses ist der Ausgangspunkt für die Freundschaft zwischen Sam und Sadie – zwei augenscheinlich unterschiedliche Charaktere, die dennoch auf ganz besondere Art und Weise miteinander verbunden sind und das nicht nur aufgrund der gemeinsamen Leidenschaft für Super-Mario-Hacks und Donkey-Kong-Highscores… „Morgen, Morgen und wieder Morgen“ ist die komplexe Biografie einer Freundschaft, die sich bis an die Grenzen einer Romanze vorwagt, die den Widrigkeiten und Spannungsfeldern einer Geschäftsbeziehung unterworfen ist, von gesamtgesellschaftlichen Einflüssen und Schicksalsschlägen auf die Probe gestellt wird und gleichzeitig sämtliche Facetten von Liebe umfasst.

Die Tiefe dieses Romans ist eine besondere, heimtückische Tiefe, die sich langsam aufbaut und von Kapitel zu Kapitel immer drängender, intensiver und teils sogar beklemmend wird. Während die ersten Seiten noch von nerdiger Leichtigkeit und Humor geprägt sind, erfährt die Geschichte schnell eine Wendung, die die Leserschaft mit einer fundamentalen Frage konfrontiert: „Was ist Freundschaft?“. Im Laufe der weiteren Kapitel dringt der / die LeserIn immer weiter in die komplexe Beziehung zwischen Sam und Sadie vor, begleitet die beiden beim Erwachsenwerden, ist in deren berufliche Karriere involviert und beobachtet, wie sich die beiden Hauptprotagonisten mehr oder weniger selbst reflektieren und es schaffen einander zu vergeben.

Gabrielle Zevin verpackt all diese fast schon philosophischen Themen und Wendungen in einen nüchternen, wenig emotionalen Sprachstil, durch den sie die Leserschaft aber umso mehr zum aufmerksamen Lesen, Nachfühlen und Reflektieren zwingt – und genau das ist es auch, was diesen Roman so spürbar und intensiv macht! Innerhalb weniger Seiten werden Passagen aus den Leben der beiden Freunde erzählt, die mal im Hier und Jetzt und mal in der Vergangenheit spielen und die so vollgepackt mit sämtlichen Facetten des menschlichen Fühlens und Erlebens sind, dass ich mich als Leserin in vielerlei Hinsicht gefordert fühlte. Das klingt anstrengend – ist es auch, jedoch in einer sehr bereichernden Art und Weise!

Die beiden Hauptprotagonisten werden authentisch und mit viel Tiefe gezeichnet, wobei es zu vereinfacht wäre die beiden in Schubladen einzuordnen oder in sympathisch beziehungsweise unsympathisch zu differenzieren. Als Leserin fühlte ich mich beinahe selbst abwechselnd einmal als Sam, mal als Sadie. Mal fühlte ich den physischen und psychischen Schmerz des jungen Mannes, der eine Odyssee an Operationen hinter sich hat und sich ein Leben lang minderwertig fühlt. Im nächsten Moment empfand ich Abscheu für Sam und seine vermeintlich manipulativen, egozentrischen Machenschaften. Über viele Kapitel hinweg konnte ich mich in die an sich selbst zweifelnde Sadie einfühlen, die sich nicht von ihrer narzisstischen, dysfunktionalen, viel zu autoritären ersten Liebe lösen kann. Im weiteren Verlauf der Geschichte machte sie mich mit ihrer Ignoranz und ihrer Unfähigkeit zu kommunizieren geradezu wütend.
Sam und Sadie werden in Form weiterer, detailreicher und spürbarer NebendarstellerInnen flankiert und all das bettet Gabrielle Zevin in einen Gesamtkontext ein, der mal mehr und mal weniger gesellschaftskritische und politische Fragen aufwirft – manchmal vielleicht auch ein wenig zu viel will.

Den roten Faden des Romans stellt die Leidenschaft für Gaming und Videospiele dar und alleine das wäre an sich schon politisch genug! Schließlich wird hierüber nicht nur die Geschichte junger Firmengründer erzählt („American Dream“ trifft Start-Up-Mentalität mit sämtlichen Abgründen und Vorzügen), sondern es wird auch gleichermaßen die Sehnsucht aufgegriffen, dem anstrengenden Lebensalltag und der Gesellschaft zu entfliehen. Ein Bedürfnis, das in der immer komplexer, liebloser, schneller werdenden Welt eine willkommene und hoch aktuelle Exitstrategie darstellt und das nicht nur in Kindheit oder Jugend.

All dies mit dem Thema Freundschaft zu verbinden, wozu jede / r LeserIn schnell einen Bezug findet, ist nicht nur originell, durchdacht und klug, sondern sorgt auch für große Freude beim Lesen. Insgesamt ist „Morgen, Morgen und wieder Morgen“ eine unterhaltsame, in eine andere Welt entführende, zum Reflektieren und Philosophieren anregende Überraschungsliteratur – absolut lesenswert!

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Veröffentlicht am 04.01.2023

Eine Liebeserklärung an die Natur!

Der Gesang der Flusskrebse
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Dass Familie nicht zwangsläufig ein Konstrukt ist, das einen ein Leben lang begleitet, erfährt Kya schon in frühester Kindheit: Nach und nach verschwinden all ihre vermeintlich haltgebenden Bezugspersonen ...

Dass Familie nicht zwangsläufig ein Konstrukt ist, das einen ein Leben lang begleitet, erfährt Kya schon in frühester Kindheit: Nach und nach verschwinden all ihre vermeintlich haltgebenden Bezugspersonen aus ihrem Leben und lassen das kleine Mädchen schließlich völlig alleine in den Salzwiesen des Marschlandes zurück. Erzählt wird eine Geschichte vom Erwachsenwerden, von der Empfindsamkeit einer jungen Frau, die über die Jahre hinweg zwar alleine und am Rande der Gesellschaft lebt, aber nicht einsam ist, macht sie doch die Seevögel, die Muscheln und die Pflanzen des Marschlandes zu ihren GefährtInnen. Dieser gleichermaßen zurückgezogene wie auch friedvolle Lebensstil gerät aus dem Gleichgewicht, als zwei junge Männer auf das „Marschmädchen“ aufmerksam werden und Kya zeigen, dass der Mensch vor allem eins ist: ein soziales und auf Liebe angewiesenes Wesen voller Sehnsüchte. Doch dann stirbt einer der beiden Männer und die perfekte Symbiose, die Kya mit der Natur eingegangen ist, wird jäh zerstört…

Mit einer verträumt melancholischen Sprache zeichnet Delia Owens ein facettenreiches, authentisches Bild einer Natur, welche in sich perfekt ist und ein kleines, zutiefst bemitleidens- und gleichermaßen bewundernswertes Mädchen auffängt und in ihre Obhut nimmt.

Kya erinnert an einen Welpen, der in seiner Unschuld nichts sehnlicher wünscht als irgendwo dazu zu gehören – das ist spürbar, das bewegt, das erweckt Mitgefühl und das führt schließlich dazu, dass man mit Ehrfurcht und Spannung dabei zusehen möchte, wie das „Marschmädchen“ erwachsen wird, heranreift und ihr Leben meistert. Dabei leben die Seevögel ihr ein soziales Miteinander vor, die Pflanzen und Muscheln zeigen Kya wie das Überleben in den Salzwiesen funktioniert und so wird die Natur zu dem, was sie eigentlich ist: MUTTERnatur - diejenige Instanz, von der wir Menschen alles lernen, was wir zum Leben brauchen und die wir voller Ehrfurcht behandeln sollten. All dies reichert Delia Owens mit feinen Metaphern, viel Herz und charaktervollen, authentischen Nebencharakteren an, sodass ein Fundament für eine Geschichte geschaffen wird, die einfach nur erzählt werden muss!

Delia Owens holt ihre Leserschaft gekonnt ab und lässt in intensiver Art und Weise mitfühlen und mitfiebern, indem sie feinsinnig mit Rück- und Gegenwartsblenden spielt, in denen sie die LeserInnen immer wieder aus der Idylle des Marschlandes reißt und in den sterilen Gerichtssaal oder die harsche Gefängniszelle wirft. Unweigerlich möchte man diese bedrückenden Bilder wegschieben, schließlich sehnt man für die vom Leben gezeichnete junge Frau nichts mehr herbei als die friedvolle Idylle der Salzwiesen. Inständig wünscht man sich nur das Beste für die sympathische Hauptprotagonistin, für die beim Lesen ein elterlicher Beschützerinstinkt geweckt wird, der Tate und Chase mit Argwohn beäugen und gleichzeitig hoffen lässt, dass wenigstens eine Beziehung im Leben von Kya überdauert.

Dadurch, dass Delia Owens die Gerichtsverhandlung immer nur in kleinen, wohl dosierten Etappen erzählt, baut sie einen schier unaushaltbaren Spannungsbogen auf, der sich erst im allerletzten Teil des Buches entlädt. Dies verschränkt sich damit, dass die Leserschaft bis zuletzt nicht ahnt (oder zu ahnen wagt) wie „der Fall Kya“ zu Ende geht. Die mitreißende Geschichte findet schließlich ein gleichermaßen überraschendes wie friedvolles, warmes und absolut stimmiges Ende – genau so, wie es diese wunderbare, literarische Liebeserklärung an die Natur verdient hat.

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Veröffentlicht am 05.02.2023

Ein gut geführter Haushalt braucht Effizienz und Struktur - und die ein oder andere Leiche...

Die Dreitagemordgesellschaft
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Pragmatismus, Effizienz und Struktur – das ist wohl die Zauberformel, um einen herrschaftlichen Haushalt wie den der berühmten Schriftstellerin Agatha Christie zu führen. Diese drei Eigenschaften bündeln ...

Pragmatismus, Effizienz und Struktur – das ist wohl die Zauberformel, um einen herrschaftlichen Haushalt wie den der berühmten Schriftstellerin Agatha Christie zu führen. Diese drei Eigenschaften bündeln sich in der energischen Phyllida Bright, die den Haushalt in Mallowan Hall zu führen weiß wie keine andere. Eher hinderlich ist hierbei allerdings eine Leiche unter den Festtagsgästen, die sich für drei Tage in dem Anwesen eingefunden haben – und eben jene Leiche entdeckt Phyllida bereits am ersten Morgen der Feierlichkeiten. Während die örtliche Polizei zu umständlichen und langatmigen Methoden neigt, beschließt Phyllida die Ermittlungen besser selbst in die Hand zu nehmen. Mit überraschender Kreativität, einer nicht zu verachtenden Portion Neugier und einem ordentlichen Quäntchen Esprit begibt sich die Haushälterin ohne Umwege auf die gleichermaßen gefährliche wie unterhaltsame Suche nach dem Mörder, die so manche Überraschungen bereithält und gesellschaftliche Konventionen infrage stellt. All das mit nur einem Ziel: Die Abläufe in Mallowan Hall sollen möglichst bald wieder ihren reibungslosen und effizienten Gang gehen...

Mit viel Scharfsinn, Eloquenz und Liebe zum Detail schafft Colleen Cambridge ein gelungenes Fundament für ihren Kriminalroman, der von überraschenden Wendungen und Komplexität gleichermaßen lebt wie von den facettenreichen und liebenswerten Figuren - allen voran Phyllida Bright. In ihr als Hauptprotagonistin bündeln sich sympathische Marotten und Eigenheiten sowie auch Scharfsinn und Tiefgang, was sie zu einer authentischen Hauptprotagonistin macht, mit der man sich mit Freude identifiziert.

Oft verblassen neben einer solch charaktervollen Hauptfigur die weiteren ProtagonistInnen, wohingegen es Colleen Cambridge gelingt, ihre Aufmerksamkeit gerecht und kreativ auf sämtliche Figuren zu verteilen, sodass diese allesamt detailreich und überzeugend gezeichnet sind.

Dies trifft sich mit einem flüssigen, kurzweiligen und humorvollen Schreibstil, der sich völlig natürlich und authentisch aus der Beschaffenheit der „very british“ anmutenden DarstellerInnen ergibt und auch nicht in Ansätzen gezwungen oder allzu gewollt wirkt.

Einzig die hin und wieder eingestreuten Perspektivenwechsel, bei denen ausnahmsweise nicht aus Phyllidas Sicht erzählt wird, wirken im ersten Moment irritierend. Mit etwas Abstand betrachtet sind eben diese aber notwendig, um auch alle nötigen Details und Hinweise zu liefern, um den Mordfall aufzuklären und um die Leserschaft umso mehr zum Miträtseln einzuladen.

Die Handlung an sich ist dabei überraschend komplex und motiviert dadurch unweigerlich zum Theorienbilden und Ermitteln. Befriedigend ist dabei vor allem auch, dass die Lösung des Mordfalls nicht so trivial ist – weder sind es die vielfach zitierte Habgier noch die überstrapazierte Eifersucht, die das Mordmotiv ausmachen.

Gekonnt werden in Form quietschender Schuhe, vermeintlich logischer Schlussfolgerungen und gängiger Klischees falsche Fährten gelegt, die sich erst im letzten Abschnitt des Buches aufklären und den/die LeserIn mit einem überraschenden und gleichermaßen logischen Ende von Mallowan Hall „abreisen lassen“.

Bemerkenswert ist außerdem, dass Colleen Cambridge souverän mit gängigen Klischees spielt. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist zum einen, dass Phyllida gleich zu Beginn vermutet, dass der Mörder nur ein Mann sein kann, da nur ein solcher die notwendige Körperkraft hat, um einen Menschen derart roh und direkt zu töten. Zum anderen bringt die Autorin auch das Thema Homosexualität ein, was in dem historischen und gesellschaftlichen Kontext, in welchen die Handlung eingebettet ist, so zwar nicht erwartet wird, sich aber ganz natürlich in die Handlung einfügt. Die Leserschaft wird so dazu eingeladen, die üblichen geistigen Schubladen zu hinterfragen. Nicht zuletzt ist Phyllida das Paradebeispiel für eine starke, souveräne, kluge und wehrhafte Frau, wodurch nicht nur ein höchst aktuelles gesamtgesellschaftliches Thema aufgegriffen wird, sondern wodurch auch auf kluge Art und Weise eine derart gestrickte weibliche Leserschaft angesprochen wird.

Insgesamt ist „Die Dreitagemordgesellschaft“ ein Buch, das bis zur letzten Seite spannend und unterhaltsam ist und das zudem auch noch ein überraschendes Ende bereithält – so soll Lesen sein und selten habe ich so sehr auf eine Fortsetzung gehofft!

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Veröffentlicht am 21.02.2023

Philosophie to go!

Die Mitternachtsbibliothek
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Als Nora Seed glaubt, ihr Leben könne nicht düsterer sein, verliert sie nach ihrem Job auch noch ihre geliebte Katze. Vor dem Hintergrund ihrer depressiven Erkrankung sieht Nora keinen anderen Ausweg: ...

Als Nora Seed glaubt, ihr Leben könne nicht düsterer sein, verliert sie nach ihrem Job auch noch ihre geliebte Katze. Vor dem Hintergrund ihrer depressiven Erkrankung sieht Nora keinen anderen Ausweg: sie nimmt sich das Leben – und gewinnt auf diese Weise unzählige andere Leben hinzu; denn auf dem Weg ins Jenseits macht sie einen außerplanmäßigen Zwischenstopp in der Mitternachtsbibliothek. Von hier aus taucht sie ein in sämtliche Szenarien, die sich ihr offenbart hätten, hätte sie sich an diesem und jenem Punkt in der Vergangenheit anders entschieden. Ein Leben als Olympiasiegerin? Als gefeierter Rockstar? Als bodenständige Pubbesitzerin? Es gibt unzählige denkbare und un-denkbare Möglichkeiten, die sich ihr offenbaren. Auf der Suche nach dem perfekten Leben - ihrem Leben - begibt sich Nora auf eine Reise zu sich selbst, die überraschende Erkenntnisse mit sich bringt...

Matt Haig gelingt es in dem ersten Abschnitt des Buches einen unangenehmen Spannungsbogen aufzubauen – unangenehm deshalb, weil einem Nora Seed als Hauptprotagonistin bereits innerhalb der ersten Seiten ans Herz wächst. Eine greifbare, realitätsnahe junge Frau mit ihren Ecken und Kanten und einem vermeintlich gewöhnlichen Leben, das aber innerhalb kürzester Zeit immer weiter aus den Fugen gerät. Man wünscht Nora, dass es nicht noch schlimmer kommt und doch reihen sich in Form eines sich immer weiter steigernden Dramas die Schicksalsschläge aneinander. Auf Basis dessen ist man als LeserIn fast schon erleichtert, als die Hauptprotagonistin in der Mitternachtsbibliothek erwacht – ein scheinbar langweiliger, sicherer Ort mit einer vertrauten, warmherzigen „guten Fee“, der früheren Schulbibliothekarin.

Angesichts der charaktervollen, bis ins Detail durchdachten Nora verblassen allerdings nicht nur die Bibliothekarin, sondern auch alle anderen Nebencharaktere. Das ist aber alles andere als störend! Vielmehr fügt sich das ganz natürlich in das Gesamtkonzept dieses wunderbaren Romans und bietet einen willkommenen Kontrast zu unserer hektischen, reizüberfluteten und aufgeladenen Alltagswelt – da ist es fast Balsam für die Seele, sich bedingungslos und vollständig in eine einzelne Person einfühlen und diese auf ihrem Weg begleiten zu dürfen.

Matt Haig gelingt es in Form der Mitternachtsbibliothek eine kreative und wundervolle Antwort auf die Frage zu finden, die sich wohl jeder Mensch einmal im Leben stellt: Was erwartet mich nach dem Tod? Dies ist meines Erachtens auch der Grund dafür, warum „Die Mitternachtsbibliothek“ ein Buch ist, das sich unabhängig von Alter, Geschlecht oder Lebensentwurf mit Freude lesen lässt – das ist anders, als das eher kindlich gestaltete Cover vermuten lässt.

Angeregt werden fast schon philosophische Fragen und Überlegungen, bei denen es dem/der LeserIn selbst überlassen ist, diese vor dem Hintergrund der eigenen Lebensgestaltung und der eigenen biografischen Bezüge zu reflektieren. Hobby-PhilosophInnen finden immer wieder auch Zitate von und Bezüge zu Größen wie Jean-Paul Sartre oder Henry David Thoreau. „Die Mitternachtsbibliothek“ ist damit das, was man selbst daraus macht – das klingt anspruchsvoll, ist es aber dank des flüssigen und klaren Sprachstils, dessen sich Matt Haig bedient, jedoch in keinster Weise.

Sympathisch ist, dass - neben den philosophischen Fragen - auch Themen wie Suizidalität und Depression angesprochen werden, ohne dass dies zu sehr vertieft wird. Der Roman will damit nicht mehr als er muss, gibt aber gleichzeitig Anlass zum Nachdenken und ermutigt dazu, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und lädt zu Mitmenschlichkeit und Empathie ein.

Im Zuge der Reise durch die unterschiedlichen Lebensentwürfe wächst einem Nora ans Herz und man sehnt schlicht und ergreifend mit ihr gemeinsam ein Leben herbei, in dem sie sich endlich wohl und angekommen fühlt. Und als es dann augenscheinlich endlich so weit ist, kommt es letztlich doch ganz anders...

Garniert wird dieser phantasievolle Roman in Form eines Endes, das manche LeserInnen so vielleicht schon nach dem ersten Abschnitt erahnen, was der Qualität des Buches und dem Lesevergnügen jedoch keinen Abbruch tut. Vorherrschend ist letztlich nämlich nicht der Wunsch nach einem besonders geistreichen und überraschenden Ende, sondern vielmehr geht es in den letzten Kapiteln vor allem darum, sich mit Nora zusammen über ihre klugen, fast weisen Erkenntnisse zu freuen und diese mit der eigenen Lebensgestaltung abzugleichen. Bei so viel in Gang gesetzter Selbstreflexion würde ein allzu exotisches, komplexes oder verworrenes Ende nur stören.

„Die Mitternachtsbibliothek“ ist in meinen Augen eine niedrigschwellige, phantasievolle und kreative Einladung, sich mit sich selbst und seinem Leben auseinanderzusetzen und liefert dabei ganz nebenbei eine friedvolle sowie wohlige Antwort auf die Frage, was einem nach dem Tod erwartet.

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Veröffentlicht am 12.10.2022

Unterhaltsamer Fantasy-Roman, spicy abgeschmeckt

Spicy Noodles – Der Geschmack des Feuers
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Als klar ist, dass Toma keinen Studienplatz bekommt und folglich nicht in die beruflichen Fußstapfen seines leistungs- und karriereorientierten Vaters treten wird, setzt ihn dieser in Folge eines Streits ...

Als klar ist, dass Toma keinen Studienplatz bekommt und folglich nicht in die beruflichen Fußstapfen seines leistungs- und karriereorientierten Vaters treten wird, setzt ihn dieser in Folge eines Streits auf die Straße. Was für jeden jungen Menschen herausfordernd wäre, gestaltet sich für Toma sogar gefährlich, schließlich treibt ein Serienmörder sein Unwesen auf den Straßen New Yorks, der seine Opfer auf brutale Art und Weise tötet und die Polizei vor ein Rätsel stellt. Toma, der weder eine Vorstellung von seiner beruflichen Zukunft noch eine Idee hat, wie er sich eine Wohnung leisten soll, kommt schließlich bei seinem Großvater Shiro unter. Dieser betreibt seit Jahrzehnten das „Spicy Noodles“, ein Restaurant, in dem ebenso viel Herzblut steckt wie in den dort angebotenen, von ihm persönlich und mit langer Tradition verfeinerten Ramen. Shiro nimmt seinen Enkel herzlich bei sich auf, stellt ihm eine kleine Wohnung zur Verfügung und bindet ihn in den Restaurantbetrieb ein. Die Dankbarkeit, die Toma ihm gegenüber empfindet, lässt ihn über die verwirrte und schrullige Seite seines Großvaters hinwegsehen. Dieser ist felsenfest davon überzeugt, dass die Familie von einem Feuergott abstammt und - dank der sich im Familienbesitz befindlichen, von Shiro gehüteten, magischen Essstäbchen - zu Großem fähig ist. Toma belächelt diese vermeintlichen Hirngespinste so lange, bis immer mehr zwielichtige Gestalten auftauchen und die Essstäbchen plötzlich gestohlen werden. Gemeinsam mit Akari, einer Stammkundin des „Spicy Noodles“, begibt er sich auf die Jagd nach den Dieben und gerät so in einen gefährlichen Kampf, bei dem er nicht nur feststellen muss, dass sein Großvater weitaus weniger senil ist als angenommen, und bei dem er dem gefürchteten Serienkiller näherkommt als ihm lieb ist…

Während die Geschichte zunächst nur langsam an Fahrt aufnimmt, entwickelt sich „Spicy Noodles“ schließlich zu einer unterhaltsamen und einfach zu lesenden Fantasy-Lektüre, die gerade im finalen Endkampf mit raffinierten Stilmitteln spielt und so für Spannung sorgt.

Marie Graßhoff bedient sich souverän unterschiedlicher Schreibtempi und verleiht mit ihrem Wechsel aus eher dichten, „eiligen“ Kapiteln einerseits und detailverliebten, sich zeitnehmenden Passagen andererseits, ihren Charakteren Authentizität und Kontur. In Form von Toma ist es ihr gelungen, einen sensiblen, gutgläubigen und sympathischen „Antihelden“ zu erschaffen, mit dem man ebenso wie mit dem liebenswerten Shiro gerne mitfühlt und mitfiebert. Die weiteren Protagonisten werden eher knapp beschrieben, sodass ein klares Gefühl für die Figuren ausbleibt. Dies stellt insofern keinen Abbruch für das Lesevergnügen dar, als dass dadurch ein Misstrauen bleibt, wodurch beim Lesen immer wieder neu versucht wird die Charaktere in die Kategorien „Gut“ und „Böse“ einzuordnen.

Mit der Erwartungshaltung des Vaters, wonach sein Sohn in seine beruflichen Fußstapfen treten soll, ohne dass dieser überhaupt eine Idee von seinen persönlichen Fähigkeiten und Interessen hat, greift Marie Graßhoff wichtige Themen auf: Identität und Autonomie – zwei Aspekte, die den Zeitgeist der heutigen Jugend mehr denn je treffen. Es gelingt Toma zwar sich den Vorstellungen seines Vaters zu widersetzen und dahingehend eine Vorbildrolle einzunehmen, er lässt sich dann aber fast wie von selbst in den Restaurantbetrieb des Großvaters einbinden und kann sich von dessen Erwartungshaltungen wiederum nicht lösen. Hinterfragt wird dies jedoch nicht, sodass das gesellschaftlich relevante Thema nicht konsequent zu Ende geführt wird und Toma ein wenig an Glaubwürdigkeit verliert. Der Geschichte tut dies jedoch keinen Abbruch.

Gesellschaftlich relevante Bezüge stellt Marie Graßhoff auch insofern her, als dass sie mit der Gefahr, die durch den Serienkiller ausgeht, eine Situation schafft, die an die Corona-Pandemie erinnert: Begriffe wie „Lockdown“ und „Homeoffice“ werden beim Lesen unweigerlich mit der gesundheitspolitischen Lage der vergangenen zwei Jahre verknüpft. Das kann im ersten Moment auf sensiblen Grund stoßen und im schlimmsten Fall etwas säuerlich aufstoßen, könnte aber mit einigen Jahren Abstand eine wertvolle Hommage „an alte Zeiten“ sein und den „Ich-War-Dabei-Nerv“ treffen.

Marie Graßhoff ist es in „Spicy Noodles“ gelungen, eine fantasievolle, kreative und detailreiche Welt zu schaffen, die viel Potential für weitere Bücher und Erzählungen bietet und hinsichtlich Humor, Sprache und Schreibstil gerade auch den Geschmack einer jüngeren Leserschaft treffen dürfte.

Insgesamt stellt „Spicy Noodles“ wenig Anspruch – die Geschichte möchte einfach gelesen werden, unterhalten und Freude machen. Genau das ist Marie Graßhoff gelungen.

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