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Veröffentlicht am 26.01.2023

Historisch informativ, lebendig erzählt

In den Häusern der anderen
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REZENSION – Noch immer vom überraschenden Erlebnis beeindruckt, berichtete mir mal vor langer Zeit ein Verwandter von seinem Besuch mit seiner alten Mutter in den frühen Siebziger Jahren in deren Elternhaus ...

REZENSION – Noch immer vom überraschenden Erlebnis beeindruckt, berichtete mir mal vor langer Zeit ein Verwandter von seinem Besuch mit seiner alten Mutter in den frühen Siebziger Jahren in deren Elternhaus im niederschlesischen Wrocław (Breslau): Drinnen entdeckte die alte Dame die ihr aus der Jugend vertrauten Bilder an der Wand, wo sie bereits jahrelang hingen, bevor die Familie im Jahr 1945 in den Westen floh. So erstaunlich dies heute klingen mag, war es zu jener Zeit kein Einzelfall, wie die 1977 in Legnica (Liegnitz) geborene polnische Autorin Karolina Kuszyk (46) anhand ähnlicher Erlebnisberichte in ihrem im Oktober 2022 im Ch. Links Verlag erschienenen Sachbuch „In den Häusern der anderen“ nachweist. Das in Polen bereits 2019 veröffentlichte Buch soll dort – so die Angabe des Verlags – „eine lebhafte Diskussion über den Umgang mit dem deutschen Erbe“ angeregt haben.
Bücher über Flucht und Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostprovinzen gibt es in Deutschland zuhauf, meist basierend auf Erinnerungen Betroffener, nicht selten subjektiv und einseitig aus deren Sicht. Genau darin unterscheidet sich das Buch der seit vielen Jahren in Berlin lebenden und mit einem Deutschen verheirateten polnischen Autorin. In ihrem bis ins Detail sorgsam recherchierten und durch mehrseitigen Quellen- und Literaturnachweis belegten Text erzählt sie zwar ebenfalls von Flucht und Vertreibung, doch diesmal aus polnischer Sicht über das vergleichbare Vertreibungsschicksal ihrer Landsleute aus den gegen Kriegsende von der Sowjetunion besetzten Gebieten Ostpolens. Die dortige Einwohnerschaft wurde gemeinsam mit anderen ethnischen Minderheiten wie Ukrainern und Juden in die von Deutschen verlassenen „wiedergewonnenen Gebiete“ Westpolens zwangsumgesiedelt. Auch sie verloren ihre Heimat, ihr Hab und Gut und kamen mit kaum mehr als den Kleidern am Leib im Westen an. In der Fremde mussten sich diese Zwangsumgesiedelten entweder selbstständig eine von Deutschen verlassene und - sofern nicht von Soldaten der Roten Armee vorher ausgeplündert – noch immer voll eingerichtete Wohnung suchen, oder ihnen wurde ein neues Zuhause von der polnischen Ortsverwaltung zugewiesen. Da die aus Ostpolen Vertriebenen in der westlichen Fremde nichts Eigenes hatten, blieb ihnen keine andere Wahl, als in diesem „deutschen Erbe“ weiterzuleben und sich „von deutschen Gegenständen, Geräten, Formen und vom deutschen Geist“ prägen zu lassen. „Es war nicht schön, das deutsche Zeug zu benutzen, aber was hätten wir tun sollen?“, erinnert sich eine damals Vertriebene. Zu seiner Überraschung findet sogar noch der deutsche Ehemann der Autorin beim Besuch seiner polnischen Schwiegereltern auf der Unterseite einer Porzellanschale ein kleines Hakenkreuz im Markenzeichen. Die robuste Schale hatte sich seit 1945 im Haushalt bewährt. Erst die Kinder, die zweite Generation in den von Polen „wiedergewonnenen Gebieten“, entledigten sich bei Gründung des eigenen Hausstandes dieses „deutschen Plunders“, um sich zeitgemäß modern („sozialistisch“) einzurichten. Denkmäler wurden in den 1970er Jahren abgetragen und zerstört, deutsche Inschriften an Gebäuden entfernt, deutsche Häuser abgerissen und Friedhöfe zerstört. Eine Rückbesinnung erfolgte erst wieder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei der dritten Generation, zu der sich auch die 46-jährige Autorin zählt. Deren Angehörige erinnern sich des deutschen Erbes und bemühen sich, die einst unter kommunistischer Herrschaft in Misskredit geratenen „Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen“ wieder aufzudecken und zu bewahren. Wo früher deutsche Denkmäler abgebaut wurde, fallen heute solche aus Sowjetzeiten.
Mit wissenschaftlicher Genauigkeit, dank zeitlichen Abstands ohne Vorurteil, dafür mit Empathie für die deutschen wie polnischen Vertriebenen zeigt Karolina Kuszyk in ihrem Buch die Spuren deutscher Vergangenheit auf und erläutert anhand der aufgezeichneten Erlebnisse und Anekdoten den wechselhaften Umgang ihrer Landsleute damit. „Ich bin fest überzeugt, … dass wir den nachwachsenden Generationen das ehemals Deutsche erklären müssen, so gut wir können“, schreibt die Autorin am Schluss ihres noch vor der Übersetzung mit dem deutschen Arthur-Kronthal-Preis 2020 ausgezeichneten Buches, mit dem sie zweifellos auch bei der heranwachsenden vierten Generation Polens und Deutschlands für ein besseres Verständnis beider Völker beitragen kann.

Veröffentlicht am 21.01.2023

Meisterhaft erzählt

Nachmittage
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REZENSION – Jeder Versuch, die seit fast 15 Jahren veröffentlichten Werke des deutschen Bestseller-Autors und Juristen Ferdinand von Schirach (58) einem bestimmten Genre zuzuordnen, muss scheitern. Ob ...

REZENSION – Jeder Versuch, die seit fast 15 Jahren veröffentlichten Werke des deutschen Bestseller-Autors und Juristen Ferdinand von Schirach (58) einem bestimmten Genre zuzuordnen, muss scheitern. Ob Erzählungen, Romane, Essays, Theaterstücke, philosophische Gespräche oder ganz persönliche Ansichten und Einsichten – mit fast jedem neuen Band dieses Autors wird man aufs Neue überrascht. Dies gilt auch für Schirachs aktuelles Buch „Nachmittage“, im August 2022 beim Luchterhand Verlag erschienen. Dieser schmale Band, den man zum Titel passend, an zwei ruhigen Nachmittagen genießen sollte, gleicht mit seinen kurzen, nur selten längeren Erzählungen, Erinnerungen und Gedanken einem Querschnitt aus allem.
Wir lesen von Kriminalfällen des einstigen Strafverteidigers, von Begegnungen mit fremden und vertrauten Menschen sowie persönliche Erinnerungen und Eindrücke aus Lesereisen – oft alles in nur einer Erzählung. Es sind „Geschichten über die Dinge, die unser Leben verändern, über Zufälle, falsche Entscheidungen und die Flüchtigkeit des Glücks“, verspricht der Verlag. Nicht nur die Vielfalt der Handlungsabläufe, auch die Vielfalt der Themen „von der Einsamkeit der Menschen, von der Kunst, der Literatur, dem Film und immer auch von der Liebe“ zeugt von Intellekt und Lebenserfahrung des Schriftstellers und macht auch diesen Band wieder zu einem literarischen Leckerbissen hohen Niveaus. Wo andere Autoren Romane schreiben, reichen Ferdinand von Schirach nur wenige Sätze. Seine Erzählungen gehen nicht in die Breite, sondern tauchen in die Tiefe und treffen punktgenau die psychische Befindlichkeit seiner Figuren, von denen man nie weiß, ob sie real oder fiktiv sind.
In einer seiner 26 Erzählungen wird der Autor in Marrakesch im Garten des Hotels von einem Deutschen angesprochen. Schirach hatte dem des Mordes Angeklagten einst zum Freispruch verholfen. Der homosexuelle Fabrikant war erpresst worden, der alkoholisierte Erpresser auf dem Anwesen des Fabrikanten in den Tod gestürzt, also ein Unfall. Doch nach Jahren stellt sich Schirach beim Wiedersehen nun die Frage, ob der Freispruch gerechtfertigt und der nun in Marokko lebende Geschäftsmann nicht doch ein Mörder war. Bei einer anderen Begegnung mit einer alkoholisierten Witwe erfährt Schirach während seines Urlaubs in Venetien von einem besonders tragischen Unglücksfall: Franziska hatte einst ihren Ehemann, einen erfolgreichen und geschätzten Tierarzt, für den von der Polizei gesuchten Exhibitionisten gehalten. Bei einer Auseinandersetzung zwischen beiden während einer Autofahrt, bei der sie deshalb die Scheidung verlangte, kam es zum Unfall. Der Mann wurde tödlich verletzt, Franziska überlebte. „Vier Tage nach Alexanders Beerdigung … wurde, ganz in der Nähe der Tierarztpraxis, der Exhibitionist festgenommen.“
Doch nicht nur über das Schicksal anderer Menschen, auch über sich selbst verrät der Autor manches, der sich als „Literatur-Star wider Willen“ jedem Rummel um seine Person gern entzieht: „Ich rauche weiter auf dem Balkon in dem Hotel in Zürich. Es schneit immer noch, ...“ Er sinniert über sein Leben: Das berufliche Scheitern und die Haltlosigkeit seines Vaters bis zu dessen Tod veranlassen den an Literatur begeisterten Internatsschüler, entgegen seiner Absicht nun doch nicht Autor zu werden, sondern Jura zu studieren: „Ein bürgerliches Leben würde Halt geben, ich wäre sicher, glaubte ich. Erst viel später, erst nach einem halben Leben, begann ich wieder zu schreiben“, hält der bald 60-Jährige Rückblick auf sein Leben, dessen zweite Hälfte er erst 2009 als 45-Jähriger mit der Veröffentlichung seines Erzählbandes „Verbrechen“ begann.
Wer sich in Schirachs neues Buch „Nachmittage“ vertieft, wird leicht die Zeit vergessen. „Jede Komposition besteht zwar aus strengen Zeitangaben, aber wenn du spielst gibt es keine Zeit“, sagt die Komponistin in einer Erzählung. „Es gibt dann nur noch die Musik, .... Alles andere ist belanglos, es findet nichts sonst statt.“ Wie die Komponistin aus Angst vor dem Burnout hat auch Ferdinand von Schirach vor 15 Jahren seinen Beruf als Strafverteidiger aufgegeben, um für sich selbst und das Schreiben Zeit zu haben: „Der Wind geht durch die leichten Vorhänge, eine geisterhafte Bewegung vor dem fahlen Weiß des Morgens. Ich zünde eine Zigarette an und bleibe sitzen.“

Veröffentlicht am 16.01.2023

Voller Selbstironie und Empathie

Das glückliche Geheimnis
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REZENSION – War es vielleicht doch der literarische Erfolg, der Arno Geiger (54) letztlich zwang, mit seiner im Januar bei Hanser Literaturverlage veröffentlichten autobiografischen Erzählung „Das glückliche ...

REZENSION – War es vielleicht doch der literarische Erfolg, der Arno Geiger (54) letztlich zwang, mit seiner im Januar bei Hanser Literaturverlage veröffentlichten autobiografischen Erzählung „Das glückliche Geheimnis“ sein über 25 Jahre geheimnisvolles „Doppelleben“ als unbeachteter Altpapiersammler in den Straßen Wiens und inzwischen mehrfach ausgezeichneter Autor preiszugeben? Freimütig und voller Selbstironie erzählt der österreichische Schriftsteller auf knapp 240 Seiten über seine schwierigen Anfangsjahre als schreibender Student und unbekannter Literat in Wien, über die damit einhergehenden Enttäuschungen und gelegentliche Hoffnungslosigkeit. „Diese Offenheit passiert mir nicht einfach, ich entscheide mich bewusst für sie, weil ich glaube, das sie das Leben sichtbar macht. Das ist es, worum es mir in der Literatur geht: das Leben sichtbar und dadurch verständlicher machen.“
Vor 25 Jahren begann er auf den Straßen Wiens nicht nur, seinen Frust abzustrampeln, sondern in den Altpapiertonnen nach verwertbarem Material wie Bücher, Tagebücher, Postkarten und Briefen zu suchen. „Meine künstlerische Entwicklung wurde nicht nur von Weltliteratur vorangetrieben, sondern ganz wesentlich auch von Abfall. … Erfahrungen, die außerhalb meiner Reichweite lagen, wurden mir zugänglich.“ Geiger erzählt vom Suchen und Finden – nicht nur von weggeworfenen Briefen anderer Menschen, sondern auch von sich selbst. Als junger, noch erfolgloser Schreiber war er auf der Suche nach sich selbst, zweifelte oft an seiner Berufung. Die Erfolge des jungen Österreichers lagen damals eher auf anderem Gebiet: „Als ich im Herbst eingeklemmt war zwischen mehreren Frauen, bekam ich vom Nervenstress Hautausschlag. Ich war auf ein Bohèmeleben aus gewesen und musste mit großem Bedauern feststellen, dass ich dem nicht gewachsen war. Nicht mein Metier.“
Er konzentriert sich doch lieber auf das Schreiben: „Man kann einige Jahre erfolgreich mit dem Rücken zu den Tatsachen leben, aber irgendwann gehen die Tatsachen um einen herum, und dann blickt man ihnen ins feindliche Gesicht.“ Endlich wendet sich sein Schicksal: Trotz Ablehnung seines Verlags reicht Geigers Lektor seinen Roman „Es geht uns gut“ zum Deutschen Buchpreis 2005 ein – und gewinnt ihn. Geigers Leben ändert sich. Überall wird er plötzlich herumgereicht und hofiert. Dennoch bleibt er bei seinen Runden zu den Altpapier-Containern. „Durch den sich nun einstellenden beruflichen Erfolg und den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg veränderte sich die Perspektive, veränderte sich das Sinnbild. Jetzt standen die Runden für Eigensinn, waren Ausdruck der Fähigkeit, unkonventionelle Wege zu gehen.“ Seine Altpapierfunde bleiben seine entscheidende Inspirationsquelle, „mein versteckter Eingang zu jener unterirdischen Welt, die der Gegenstand der Literatur ist.“
Parallel zur amüsanten Schilderung seines anfangs noch hoffnungslosen Werdegangs schildert Geiger im Rückblick des inzwischen abgeklärten 54-Jährigen voller Selbstironie von seinem meist komplizierten Verhältnis zu Frauen, nicht zuletzt zu seiner heutigen Ehefrau K., die nach langjähriger Beziehung erst ein halbes Jahr nach Geigers Antrag diesem zustimmte. Ganz anders, tief berührend und schmerzend, offenbart Geiger auch das Schicksal seiner Eltern, die beide gleichzeitig im Rollstuhl sitzen, der Vater an Alzheimer erkrankt im Pflegeheim, die Mutter nach einem Schlaganfall gelähmt im Krankenhaus. Der Sohn begleitet seine Eltern bis zu deren Tod und schämt sich seiner Tränen nicht.
„Ein glückliches Geheimnis ist gelüftet“, schließt Geiger seine Erzählung. „Ich schreibe ein letztes Kapitel. … es wäre zu wünschen, dass alle, die das Buch lesen, darin etwas für sie Wichtiges finden.“ Davon darf der Autor getrost ausgehen. Sein Buch ist ehrlich, lebenserfahren mit allen Höhen und Tiefen, mal beklemmend offen, mal im Rückblick ironisch über sich selbst schmunzelnd. Nach Lektüre seines empathischen, stellenweise tief berührenden Buches wünscht man Geiger den erhofften Erfolg. Dies mag sich auch darin zeigen, dass irgendwann ein zerlesenes Exemplar im Altpapier-Container zu finden sein wird, wie es Geiger einst selbst auf einer seiner geheimnisvollen Runden mit der Taschenbuchausgabe seines Romans „Es geht uns gut“ (2005) passiert ist.

Veröffentlicht am 03.01.2023

Spannende Fantasy, historisch interessant

Die Bücher, der Junge und die Nacht
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REZENSION – Schon in seinen eher für junge Leser verfassten Romanen vergangener Jahre hatte sich der vielfach prämierte Schriftsteller Kai Meyer (53) dem Thema der Bibliomanie, also der übersteigerten ...

REZENSION – Schon in seinen eher für junge Leser verfassten Romanen vergangener Jahre hatte sich der vielfach prämierte Schriftsteller Kai Meyer (53) dem Thema der Bibliomanie, also der übersteigerten bis krankhaften Leidenschaft zum Sammeln von Büchern, sowie der Bibliomantik, mit Hilfe von Büchern magische Kräfte ausüben zu wollen, zugewandt. Doch während sich die Figuren des „Meisters der deutschen Phantastik“ in dessen Trilogie „Die Seiten der Welt“ (2014-2016) sowie im zweibändigen Roman „Die Spur der Bücher (2017/2018) noch in reinen Fantasy-Welten bewegten, ist Kai Meyers neuester Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“, im November 2022 beim Knaur Verlag erschienen, ganz anders konzipiert und allein schon deshalb lesenswert.
Seine diesmal für erwachsene Leser geschriebene „Liebeserklärung an die Welt der Bücher“, wie es der Verlag im Klappentext ausdrückt, spielt im Gegensatz zu üblichen Fantasy-Romanen nicht in einer mittelalterlich anmutenden Märchenwelt, sondern die fiktive Handlung ist im durchaus realen Umfeld der historischen Bücherstadt Leipzig und dessen Graphischem Viertel verortet und in die Neuzeit der Jahre 1933, 1943 und 1971 verlegt. Gerade dieses Spannungsfeld zwischen einerseits absoluter Realität von Ort und Zeit und andererseits der eher mystisch als phantastisch wirkenden Handlung macht Meyers Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ auch für Nicht-Fantasy-Leser zu einer interessanten und spannenden Lektüre.
Die Chronologie der Geschichte – in wechselnden Zeitsprüngen abschnittweise erzählt, ohne allerdings den Leser zu verwirren – beginnt 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nazis, im Graphischen Viertel der alten Bücherstadt Leipzig. Juliana Pallandt, Tochter des mächtigen Leipziger Verlegers Konrad Pallandt, mit dem der benachbarte Antiquar und Buchbinder Jakob Steinfeld verfeindet ist, bittet ausgerechnet ihn, das Manuskript eines von ihr verfassten Buches zu binden. Steinfeld lehnt zunächst ab, verliebt sich aber spontan in die junge Frau. Bald darauf ist Juliana verschwunden. Vierzig Jahre später bittet die Bibliothekarin Marie den mit ihr befreundeten Kollegen Robert Steinfeld, Jakobs Sohn, der allerdings seine Eltern nie kennenlernte, die Bibliothek des seit Kriegsende in München wirkenden und nun verstorbenen Verlegers Konrad Pallandt aufzulösen. Einige dort aufgefundene Bände aus der Leipziger Buchbinderei Steinfeld geben den beiden Experten allerdings Rätsel auf, weshalb das Paar den Spuren bis hin zu jenen unheilvollen Ereignissen der 1930er und 1940er Jahre in Leipzig nachgeht. Dabei stoßen sie auf das Mysterium des Buches „Das Alphabet des Schlafs“, dessen Geschichte eng mit Roberts eigener verknüpft ist, und des einzigen Exemplars eines angeblich magischen, vielleicht sogar teuflischen Buches mit dem Titel „Der König im Exil“, das einst im Besitz der Buchbinder-Loge der „Dreizehn Meister“ war.
Kai Meyer versteht es ausgezeichnet, seine rein fiktive Geschichte um die bibliophilen Steinfelds, die Drucker- und Verlegerfamilie Pallandt sowie Pallandts geheimnisvollen Sekretär Flügelschlag und die historische Buchbinder-Loge im Umfeld des Graphischen Viertels so plastisch, in atmosphärischer Dichte packend und realitätsnah zu schildern, dass man versucht ist, im Internet Informationen über die „Dreizehn Meistern“ zu finden. So ist der Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ einerseits eine spannend geschriebene Fiktion, wobei die Tragik des Geschehens hin und wieder humorvoll aufgelockert wird, andererseits aber auch ein interessantes Stück Zeitgeschichte über die Bücherstadt Leipzig während der Weimarer Republik und der Kriegsjahre bis hin zu jener Nacht am 4. Dezember 1943, in der 1 800 Menschen im Bombenhagel umkamen und das Graphische Viertel zerstört wurde. Zudem dürfte dieser Roman mit seinen Beschreibungen des Steinfeld'schen Antiquariats, des Handwerks der Buchbinder, der Pallandt'schen Bibliothek und den Bezügen zu Werken klassischer Literatur wohl jeden wahren Bücherfreund begeistern.

Veröffentlicht am 04.12.2022

Abenteuerlich und historisch sehr interessant

Labyrinth der Freiheit
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REZENSION - Nach „Schatten der Welt“ (2020) und „Revolution der Träume“ (2021) erschien nun mit „Labyrinth der Freiheit“ im November beim Dumont Buchverlag der letzte Band der historischen Trilogie „Wege ...

REZENSION - Nach „Schatten der Welt“ (2020) und „Revolution der Träume“ (2021) erschien nun mit „Labyrinth der Freiheit“ im November beim Dumont Buchverlag der letzte Band der historischen Trilogie „Wege der Zeit“. Darin begleitet der Schriftsteller und Drehbuch-Autor Andreas Izquierdo (54) drei junge Menschen – den schüchternen Carl, den draufgängerischen Artur und die eigensinnige Isi – auf ihrem Lebensweg während der Wirren des frühen 20. Jahrhunderts, beginnend 1910 in der westpreußischen Kreisstadt Thorn bis zum Inflationsjahr 1923 in Berlin.
Der dritte Band beginnt in Berlin im Jahr 1922, wo sich die drei jungen, charakterlich so unterschiedlichen Freunde nach Ende des Ersten Weltkriegs und dem Verlust ihrer Heimat – Thorn gehörte seit dem Versailler Vertrag ab 1920 zu Polen – wiedergefunden hatten und es seitdem mehr oder minder erfolgreich geschafft haben, sich ein eigenständiges Leben als junge Erwachsene aufzubauen. Der Fotograf Carl ist Kameramann bei der UFA, Artur hat esals „Edel-Ganove“ – aber falls erforderlich auch vor Mord nicht zurückschreckend – zum Kiez-König in der Berliner Unterwelt geschafft und Isi hat es durch ihre Hochzeit mit dem dandyhaften Adelssprössling Aldo von Torstayn in den Adelsstand geschafft. Soweit scheint es, als wäre nach den Wirren des Krieges im Leben der drei Freunde etwas Ruhe eingekehrt. Doch neues Unheil kündigt sich an: Die Weimarer Republik steuert auf die Inflation zu und die konservativen Feinde der jungen Demokratie, in deren Einflussbereich über altbekannte Widersacher aus Thorn auch die drei Freunde geraten, werden im Untergrund aktiv: Artur, Isi und Carl entgehen nur knapp einem von rechtsgerichteten Verschwörern unternommenen Mordanschlag. Doch Artur geht mit seinen Männern vom Ringverein zum Gegenangriff über.
Wie die beiden Vorgänger liest sich auch der dritte Band „Labyrinth der Freiheit“ wieder gleichermaßen als spannender Abenteuer- und informativer Geschichtsroman. Izquierdo gelingt es meisterhaft, uns auf leicht lockere Art mit den historischen Fakten, ihren Ursachen und Folgen sowie den gesellschaftlichen Begleitumständen vertraut zu machen. Wir erfahren fast beiläufig die wichtigsten politischen Hintergründe, die – als Folge des von vielen Deutschen damals nicht akzeptierten Versailler Vertrags – in die Radikalisierung konservativer Gruppierungen und zum schleichenden Erstarken der Nazis führen: „Einhunderttausend Nationale in Nürnberg feierten sich zwei Tage lang selbst, angeführt von einem gewissen Adolf Hitler, dessen NSDAP mir erst Anfang des Jahres zum ersten Mal aufgefallen war.“
Wir erleben die anfangs noch schleichende Inflation als Folge der Deutschland überfordernden Reparationszahlungen bis hin zur Hyperinflation des Jahres 1923. Wir beobachten die Zweiteilung der deutschen Gesellschaft in wohlhabende Kriegsgewinnler in ihren Villen und in Arme-Leute-Vierteln hungernde Kriegsverlierer sowie das Chaos einer scheinbar rechtlosen Zeit, in der die mafiös-strukturierten Ringvereine Berlins mit Anführern wie Artur als eigentliche Herrscher das Alltagsleben in ihren Stadtvierteln zu bestimmen scheinen. Nicht zuletzt lernen wir durch Carls Arbeit bei der UFA viel über die ruhmreiche Schaffenszeit der deutschen Filmwirtschaft sowie über die das Filmgeschäft revolutionierende Wende vom Stumm- zum Tonfilm und hören von noch heute berühmten Regisseuren wie Erich Pommer und Fritz Lang.
Es gelingt Andreas Izquierdo auf erstaunliche Weise, diese fast grenzenlos wirkende Sammlung politischer, wirtschaftlicher sowie gesellschaftlicher Fakten und Aspekte scheinbar mühelos in die abenteuerliche Lebensgeschichte der drei Freunde einzubauen, so dass trotz allem historisch Wissenswerten niemals das Gefühl aufkommt, vom Autor historisch belehrt zu werden. Vielmehr nimmt man dank des lockeren Schreibstils eines Unterhaltungsromans diese wichtigen Informationen eher nebenbei und unbewusst auf, während man den drei Freunden in ihrem aufreibenden Alltag folgt. Es lohnt sich also aus vielerlei Gründen, Izquierdos Roman „Labyrinth der Freiheit“ zu lesen. Hilfreich wäre es sicher, die beiden früheren Bände schon zu kennen. Doch auch unabhängig davon ist auch dieser dritte Band der Trilogie „Wege der Zeit“ wieder eine lohnende Lektüre.