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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.02.2023

Bekannte Themen, immer wieder neu und spannend erzählt

Die Heimkehr
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REZENSION – Seit Erscheinen seines Romandebüts „Die Jury“ (1989) ist der amerikanische Schriftsteller John Grisham (68) seit fast 35 Jahren für international erfolgreiche Justizthriller bekannt. Fast jeder ...

REZENSION – Seit Erscheinen seines Romandebüts „Die Jury“ (1989) ist der amerikanische Schriftsteller John Grisham (68) seit fast 35 Jahren für international erfolgreiche Justizthriller bekannt. Fast jeder seiner in insgesamt 45 Sprachen übersetzten Romane sicherte ihm Spitzenplätze in den Bestsellerlisten. Mit seinem neuen Buch „Die Heimkehr“, im November 2022 beim Heyne Verlag erschienen, veröffentlichte Grisham nun erstmals drei Kurzromane – „Die Heimkehr“, „Erdbeermond“ und „Sparringspartner“. Hier überzeugt der „Meister des Justizthrillers“ nicht nur durch komprimierte Handlungen und die dadurch erhöhte Spannung, nicht nur durch Beschränkung auf wenige Figuren und dafür deren tiefer gehende Charakterisierung, sondern als einst selbst praktizierender Strafverteidiger und Regionalpolitiker vor allem durch detaillierte Sachkenntnis sowohl des US-Justizwesens als auch des amerikanischen Politikgeschäfts.
Warum der Heyne Verlag für die deutsche Ausgabe ausgerechnet „Die Heimkehr“ als Gesamttitel bevorzugt hat, ist nicht nachvollziehbar, ist dies doch die harmloseste aller drei Geschichten: Rechtsanwalt Mack Stafford ist vor einigen Jahren mit einer halben Million Dollar untergetaucht, veruntreutes Geld seiner Mandanten aus einer schon vergessenen Schadensklage. Damals nachlässig unternommene Ermittlungen wurden ergebnislos eingestellt. Da seine Ex-Frau nun im Sterben liegt, will Stafford heimkommen, um sich seiner beiden heranwachsenden Töchter anzunehmen. Er kontaktiert Anwaltskollegen Jake Brigance, den Grisham-Leser bereits aus frühen Romanen als kleinen Südstaaten-Anwalt für scheinbar aussichtslose Fälle kennen. Er soll für Stafford die juristische Lage prüfen und bei der gefahrlosen Heimkehr behilflich sein. Anfangs scheint auch alles gut zu laufen.
Kaum spannend, dafür aber emotional umso berührender ist „Erdbeermond“ über den letzten Tag des seit 14 Jahren in der Todeszelle einsitzenden 29-jährigen Cody Wallace. Hier liest man das eindeutige Plädoyer des Juristen und Demokraten Grisham gegen die Todesstrafe. Obwohl Cody nicht selbst gemordet hat, wurde der damals erst 15-jährige Mittäter eines Einbruchs mit Todesfolge zum Tod verurteilt. Die Geschichte schildert Codys letzten Tag im Gefängnis, seine Gespräche mit dem Wärter und – dies sind die berührendsten Seiten – mit der alten, im Rollstuhl sitzenden Brieffreundin Iris, die Cody zwölf Jahre lang mit Taschenbüchern versorgt, ihn dadurch zum Erlernen des Schreibens und Lesens motiviert hatte und nun mit ihm nicht etwa über dessen Hinrichtung, sondern über die Macht der Literatur, seine Lieblingsautoren wie Raymond Chandler und seine Lieblingsbücher wie „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck spricht. Gar nicht gut kommt dabei Grishams Schriftsteller-Kollege Harold Robbins mit seinem „Schmuddelkram“ und „versauten Geschichten“ weg.
Der dritte, in wachsender Dramatik gut aufgebaute Kurzroman „Sparringspartner“, nach dem die Originalausgabe des Buches ihren Titel hat, handelt von zwei verfeindeten Juristen-Brüdern, gleichberechtigte Inhaber einer großen Familienkanzlei, deren Vater und Kanzlei-Gründer wegen Totschlags der eigenen Ehefrau seit fünf Jahren im Gefängnis sitzt und nun mit illegalen Mitteln für seine Begnadigung sorgt – sehr zum Unwillen beider Söhne. Hier zieht Grisham als ehemals aktiver Politiker nicht nur über das korrupte politische System der USA her, sondern erneut über die ihm vertraute Anwaltsbranche und das gesamte Justizwesen: „Wir sind hier bei Gericht, und seit wann interessiert uns, was fair ist? Hier geht es darum, wer gewinnt und wer verliert.“
Auch in seinem neuen Buch widmet sich Grisham altbekannten Themen, indem er klar und unmissverständlich auf Schwachstellen im amerikanischen Justiz- und Politsystem hinweist, so dass nach 30 Justizthrillern eigentlich alles geschrieben sein sollte. Doch der routinierte Autor findet für seine Geschichten immer wieder neue Ansätze, weshalb auch diese drei Kurzromane wieder spannend zu lesen und eine ausgezeichnete Ablenkung vom Alltag sind.

Veröffentlicht am 30.01.2023

Spannend erzählt, historisch interessant

Königsmörder
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REZENSION – Wie in seinen früheren historischen Romanen, darunter „München“ (2017) oder zuletzt „Vergeltung“ (2020), besticht der britische Schriftsteller Robert Harris (65) auch in seinem im November ...

REZENSION – Wie in seinen früheren historischen Romanen, darunter „München“ (2017) oder zuletzt „Vergeltung“ (2020), besticht der britische Schriftsteller Robert Harris (65) auch in seinem im November 2022 beim Heyne-Verlag veröffentlichten Roman „Königsmörder“ wieder durch intensive Fakten-Recherche in Archiven und historischen wie neuzeitlichen Publikationen. „Die Ereignisse, die Zeitangaben und die Orte sind historisch zutreffend, und fast jede handelnde Figur hat tatsächlich gelebt“, versichert der Bestseller-Autor in seinem Vorwort. Dennoch bleibt sein Roman die „fantasievolle Neuschöpfung einer wahren Geschichte, der Suche nach den 'Königsmördern' von König Karl I., der größten Menschenjagd des 17. Jahrhunderts“.
Harris schildert das, von notwendigen Ortswechseln abgesehen, lähmende Leben der beiden als „Königsmörder“ verfolgten und in den erst kürzlich an der amerikanischen Ostküste gegründeten Kolonien versteckten Offiziere Edward „Ned“ Whalley (1598 – 1674) und William Goffe (1618 – ca. 1679). Beide waren nachweislich mit dem Schiff aus England am 27. Juli 1660 im Hafen von Boston (Massachusetts) eingetroffen, womit auch die Romanhandlung beginnt. Beide hatten nach dem Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner unter Oliver Cromwell (1599-1658) das Todesurteil zur Enthauptung des 1649 abgesetzten Königs Karl I. (1600-1649) aus dem Haus Stuart an vorderster Stelle mitunterzeichnet. Sowohl Whalley als auch sein Schwiegersohn Goffe mussten trotz des erlassenen Amnestie-Gesetzes („Act of Oblivion“, so auch der Originaltitel des Romans) seit Wiederherstellung der Monarchie am 29. Mai 1660 und der Thronbesteigung Karls II. (1630-1685) mit der Todesstrafe rechnen. Seitdem werden sie in Harris' Roman bis zu ihrem Tod von Richard Nayler – eine vom Autor als Chef des königlichen Geheimdienstes erfundene Figur – nicht nur in dienstlichem Auftrag, sondern auch aus persönlicher Rache gejagt.
In atmosphärischer Dichte und immenser Faktenfülle sowie durch erstaunliche Realitätsnähe überzeugend erzählt Harris in seinem spannenden Geschichtsroman drei ineinander verwobene Handlungsstränge: Im Vordergrund steht das Leben der beiden Offiziere über einen Zeitraum von fast 20 Jahren in den teils von liberalen, teils von fanatischen Puritanern bevölkerten Kolonien Massachusetts und Connecticut. Wir erfahren viel über Leben und Denken dieser Pietisten in Neu-England, die sich nur in der Ablehnung englischer Herrschaft weitestgehend einig sind. Wir erleben 1664 die Eroberung der holländischen Siedlung Neu-Amsterdam im Auftrag des Herzogs von York, die fortan New York genannt wird, sowie 1675 die ersten kriegerischen Zusammenstöße der Siedler mit Indianern, wobei sich William Goffe als „Engel von Hadley“ besondere Verdienste erwirbt. Die zwangsläufig ereignislose Zeit in den Verstecken nutzt Autor Harris geschickt, in dem er Whalley seine – tatsächlich nie verfassten – Memoiren schreiben lässt. Darin berichtet uns der Offizier, und dies ist der zweite Handlungsstrang des Romans, über die ihrem Exil vorausgegangenen Jahre des englischen Bürgerkriegs und die wenigen Jahre der von Cromwell geführten Republik. Zeitgleich zum Aufenthalt der Exilanten in Neu-England (1660-1679) erfahren wir im dritten Handlungsstrang vom ärmlichen Leben der in London zurückgebliebenen Angehörigen von Whalley und Goffe in anhaltender Angst vor Sippenhaft sowie über die Herrschaft des neuen Königs und seinen Höflingen und Beamten. In diesen Zeitraum fallen auch die Pest von London (1665) und der große Brand des Jahres 1666.
Robert Harris gelingt es auf wieder faszinierende Weise, uns die Fülle historischer Fakten, denen er sogar dank seiner akribischen Recherche das bislang unbekannte Geburtsdatum von William Goffe hinzufügen konnte, als lebhaft geschilderten Szenen ein Gesamtbild zu vermitteln, ohne uns Leser damit zu erschöpfen. „Königsmörder“ ist ein spannender, realitätsnaher Roman, der, wie bei diesem Autor gewohnt, wieder das Zeug zum Bestseller hat. Lediglich das etwas überraschende „Happy End“ des Romans kann man als allzu phantasievolle Schwachstelle empfinden.

Veröffentlicht am 15.01.2023

Historisch interessant - trotz Erinnerungslücke

Zeit meines Lebens
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REZENSION – Es sind keineswegs nur „Erinnerungen eines Journalisten“, wie der bescheiden zurückhaltend klingende Untertitel der im November im Propyläen Verlag postum veröffentlichten Autobiografie „Zeit ...

REZENSION – Es sind keineswegs nur „Erinnerungen eines Journalisten“, wie der bescheiden zurückhaltend klingende Untertitel der im November im Propyläen Verlag postum veröffentlichten Autobiografie „Zeit meines Lebens“ vorgibt. Schließlich war deren erst drei Monate zuvor 92-jährig verstorbene Autor Theo Sommer nicht irgendein Journalist. Als politischer Chefreporter, Chefredakteur und schließlich langjähriger Herausgeber der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ war er eine herausragende Institution im bundesdeutschen Nachkriegsjournalismus. So ist sein intellektuell ansprechendes Buch eine politische Zeitreise durch vier deutsche Staaten von der Diktatur des Nazi-Regimes über zwei deutsche Staaten bis zur Wiedervereinigung und deren Folgen.
Sommers Autobiografie lässt sich nicht nur in zeitliche Epochen unterteilen, sondern auch thematisch gliedern. Da ist zunächst sein spannender Bericht über die Kindheitsjahre in kleinbürgerlichen Verhältnissen mit der Schulzeit auf der NS-Ordensburg in Sonthofen, gefolgt von richtungslosen Nachkriegsjahren, erster journalistischer Arbeit bei einer kleinen Lokalzeitung und seinem „Erweckungserlebnis“ als einer der ersten Studenten nach dem Krieg in Schweden und den USA. Allein für diese ersten 26 Lebensjahre braucht Sommer fast die Hälfte des über 500 Seiten starken Buches – zu Recht, sind sie doch entscheidend für seinen Werdegang.
Denn gerade das politisch Unbelastete des „Spätgeborenen“, seine journalistische Erfahrung und die prägenden Studienaufenthalte im Ausland sind es, die Marion Gräfin Dönhoff Anlass gaben, den 27-Jährigen ab Januar 1958 in die politische Redaktion der „Zeit“ zu holen. „Sie bot mir die Chance meines Lebens. Aus dieser Chance ist mein Leben geworden.“ Auch dieser Themenblock, in dem Sommer seine Jahrzehnte als Zeitungsmacher rückblickend und nicht ohne Kritik schildert, ist hochinteressant – vor allem die Charakterisierungen der „Hamburger Kumpanei“ seiner bis heute unvergessenen Chefs und Kollegen Gerd Bucerius (Verleger), Rudolf Augstein (Spiegel), Henri Nannen (Stern) und eben „die Gräfin“ Marion Dönhoff (Die Zeit), nicht zuletzt auch der spätere Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt. In Sommers Kritik am heutigen Journalismus spürt man die Schule der Dönhoff: „Ihr Journalismus hatte mehr mit Moral zu tun als mit Marketing; mehr mit Grundsätzen als mit Zielgruppenansprache; mehr mit nüchterner Redlichkeit als mit leicht verkäuflicher Aufgeregtheit.“
Der dritte Themenblock umfasst die Begegnungen Sommers mit den wichtigsten Politikern jener Jahrzehnte – sei es Erich Honecker, Henry Kissinger und Lyndon B. Johnson oder der schon gebrechliche Mao Zedong und sein Nachfolger Deng Xiaoping, Willy Brandt, der Sommer mit seiner Entspannungspolitik zum Umdenken zwang, oder auch Gerhard Schröder. Es gab kaum jemanden, den „der begabte Netzwerker“ auf internationaler politischer Bühne nicht kannte.
Ausgespart hat Theo Sommer dagegen ein viertes Thema – sein privates Leben als Erwachsener. Man erfährt kaum etwas über den Privatmann, der dreimal heiratete. Auch die 20 Jahre nach seinem Ausscheiden als Zeit-Herausgeber (2000) hat er ausgelassen – vielleicht nicht ohne Grund: Immerhin wurde er als 84-Jähriger wegen Steuerhinterziehung und Betrug als Herausgeber für das Verlagshaus Times Media (2005 - 2011) zu einer hohen Bewährungsstrafe verurteilt, nachdem er eine Steuerschuld von 650 000 Euro beglichen hatte. Auch darüber ein paar Worte in seinen „Erinnerungen eines Journalisten“ zu schreiben, hätte dem 92-jährigen Sommer gut zu Gesicht gestanden und wohl kaum seine Bedeutung als herausragender Publizist geschmälert. Denn trotz allem bleibt der studierte Historiker ein „alter weiser Mann“, der sich selbst in seinem Buch bei gelegentlicher Kritik an der Neuzeit selbstironisch einen „alten weißen Mann“ nennt.
Ungeachtet dieser „Erinnerungslücke“ ist Theo Sommers Autobiografie „Zeit meines Lebens“ eine lesenswerte Zeitreise durch neun Jahrzehnte Deutschlands und der Welt, gibt einen interessanten Einblick in die Entwicklung des Journalismus und erinnert an einen der bedeutendsten Meinungsmacher der Nachkriegszeit, der seinen namhaften Kollegen Augstein, Nannen oder Dönhoff in nichts nachsteht.

Veröffentlicht am 19.12.2022

Moderne Geschichten aus dem 19. Jahrhundert

Das Monster und andere Geschichten
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REZENSION – Der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), der während seiner Kur in Badenweiler an Tuberkulose starb, schuf in seinen nur 28 Lebensjahren ein beachtliches Werk aus Lyrik, ...

REZENSION – Der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), der während seiner Kur in Badenweiler an Tuberkulose starb, schuf in seinen nur 28 Lebensjahren ein beachtliches Werk aus Lyrik, Romanen und vielen Erzählungen. Während der 1895 erstveröffentlichte und seit 1954 mehrfach auf Deutsch übersetzte Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ auch durch seine Verfilmung mit Audie Murphy (1951) vielleicht noch manchem Leser ein Begriff sein mag, hat es sich der Pendragon Verlag zur Aufgabe gemacht, auch die Erzählungen des über Jahrzehnte vergessen Schriftstellers der heutigen Leserschaft bekannt zu machen. Im September erschien mit dem Erzählband „Das Monster und andere Geschichten“ mit überwiegend erstmals auf Deutsch übersetzten Erzählungen im Bielefelder Verlag schon die vierte Ausgabe mit Werken Cranes.
Es sind vor allem seine Erzählungen, die in ihren feinen Milieu-Schilderungen das literarische Talent Stephen Cranes beweisen. Die von ihm mit scheinbar leichter Hand in ihrem Charakter so treffend beschriebenen Menschen sind offensichtlich keine fiktiven Figuren, sondern dürften ausnahmslos reale Vorbilder im Leben des Schriftstellers haben – ob in seiner Kindheit in der ländlichen Provinz oder in seinem späteren Leben als Kriegsberichterstatter oder als Reporter in den Slums von New York. Denn die einfachen Soldaten, die kleinen Leute in den Armenvierteln und die Bürger des Provinzstädtchens Whilomville, die gleich in mehreren seiner Erzählungen wiederkehren, sind Cranes Hauptpersonen – allen voran die Arztfamilie Trescott mit dem kleinen Jimmy, in dem man das Alter Ego des Autors vermuten darf. Vielleicht ist es gerade diese Nähe zu realen Vorbildern, weshalb Crane seine Figuren manchmal durchaus kritisch wie in „Das Monster“, aber meistens humor- und liebevoll beschreibt.
Die titelgebende Erzählung „Das Monster“ (1898), mit ihrer Länge eher schon ein Kurzroman, ist zweifellos die beeindruckendste Geschichte in diesem Band. Der Schwarze Henry, Stallbursche der Familie Trescott und Freund des kleinen Jimmy, rettet diesen aus den Flammen und erleidet dabei schwerste Verbrennungen im Gesicht, die ihn zum „Monster“ machen. Jimmys Vater, der Henry gesund gepflegt hat, sorgt aus Dankbarkeit auch weiterhin für ihn. Crane beschreibt hier die typische Situation der Schwarzen im Norden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die zwar nicht als Sklaven, sondern frei, aber dennoch als Menschen letzter Ordnung sowohl räumlich als auch sozial am äußersten Rand der Gesellschaft leben. Zugleich prangert er die Bigotterie und Engstirnigkeit der weißen Provinzler an: Als vermeintlich tödlich verletzter Lebensretter wird Henry von ihnen noch gefeiert, als lebendes „Monster“ nun mitleidslos erst recht ausgegrenzt. Sogar der „Schwarzen-Freund“ Trescott, einst ein allseits beliebter Arzt, wird fortan gemieden.
Äußerst amüsant sind dagegen Cranes Erzählungen aus der Kindheit – mit uns vertrauten Szenen: So will der kleine Horace („Neue Handschuhe“) aus Angst vor Ärger mit der Mutter nach Kalifornien ausreißen: „Er würde fortlaufen. … Aber am Tor hielt er inne. … Da der Sturm sehr kalt war und dieser Punkt sehr wichtig, entschied er sich zum Rückzug in den Holzschuppen.“ Wer kennt nicht die Not des Schülers („Redner in Nöten“), beim Vortrag vor der Klasse zu versagen, und der deshalb seiner Mutter eine Krankheit vortäuscht: „Am nächsten Tag – ein Samstag und somit schulfrei – war er wunderbarerweise aus der Umklammerung der Krankheit befreit und nahm seine Spiele wieder auf, ein gesunder Junge, wie er lautstark bewies.“ In „Der kleine Engel“ erscheint uns die Jimmys selbstbewusste Cousine aus der Stadt wie eine frühe Ausgabe von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf: Sie lädt an ihrem Geburtstag die staunenden Dorfkinder zu Eis und anderen Süßigkeiten ein sowie – zum späteren Entsetzen der Eltern – zum gemeinsamen Friseurbesuch.
„Das Monster und andere Geschichten“ ist mit thematisch ganz unterschiedlichen Geschichten ein Buch zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken. Obwohl alle Erzählungen bereits vor 1900 entstanden, sind sie dank ihrer neuen Übersetzung von Lucien Deprijck (62), der im Nachwort Interessantes zum Autor und seinen Geschichten beisteuert, überhaupt nicht altbacken, sondern wirken modern wie aus unserer Zeit: Provinzielles Denken, Überheblichkeit und Rassismus sind immer noch aktuell wie vor 125 Jahren. Die beschriebenen Charaktere treffen wir auch heute so oder ähnlich in Familie und Nachbarschaft. Genau dies macht die Lektüre dieses Sammelbandes so reizvoll und empfehlenswert.

Veröffentlicht am 10.12.2022

Tragische Sehnsucht nach Liebe

Eine Liebe
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REZENSION – Einerseits von der ungewöhnlichen Handlung fasziniert, andererseits auch irgendwie ratlos bleibt man nach Lektüre des 190-seitigen Kurzromans „Eine Liebe“ der spanischen Schriftstellerin Sara ...

REZENSION – Einerseits von der ungewöhnlichen Handlung fasziniert, andererseits auch irgendwie ratlos bleibt man nach Lektüre des 190-seitigen Kurzromans „Eine Liebe“ der spanischen Schriftstellerin Sara Mesa (46) zurück, der im August beim Verlag Klaus Wagenbach erschien. Handelt es sich bei diesem spanischen Bestseller, dessen Original zum besten Buch des Jahres gekürt und mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet wurde, nun um eine Liebesgeschichte, wie der Titel vermuten lässt, oder doch nicht? Nach der Lektüre bleibt man mit einem unsicheren Gefühl zurück.
In jedem Fall geht es um einen Neuanfang: Die 30-jährige Natalie entflieht nach herber Enttäuschung und Kränkung aus der Großstadt ins winzige Dorf La Escapa (dt. Flucht) im ländlichen Nirgendwo, um in einem angemieteten Häuschen nicht nur ein neues Leben zu beginnen, sondern auch als Übersetzerin wissenschaftlicher Texte sich erstmals in der Übersetzung von Theaterstücken zu versuchen. Doch beides will ihr nicht gelingen.
Als Fremdling in der Dorfgemeinschaft wird sie von den Einheimischen neugierig und kritisch beobachtet. Trotz größtes Bemühens bleibt sie eine Außenseiterin – wie die Roma-Familie und die als „Hexe“ im Dorf verunglimpfte demente Greisin Roberta. Sogar ihr vom Vermieter überlassene, von ihm wohl misshandelte und verwilderte Hund, den sie Sieso (dt. Nichtsnutz) tauft, will ihr nicht vertrauen und beobachtet sie kritisch aus sicherem Abstand. Der „Nichtsnutz“ bleibt wie auch Nat ein Außenseiter. Fühlt auch sie sich als Nichtsnutz – unfähig, ihrem Leben einen Sinn zugeben und Freunde zu finden?
Da der aufdringliche Vermieter nur an der Mietzahlung, nicht aber am Zustand seines Hauses interessiert ist, legt sie selbst unter Mühen auf dem verwilderten Grundstück einen neuen Garten an. Im Haus tropft der Wasserhahn, die Bohlen des Fußbodens sind verzogen und es regnet durchs Dach. Der wie ein Einsiedler lebende „Deutsche“ Andreas, von dem niemand weiß, woher er seinen Spitznamen hat, bietet ihr an, das Dach kostenlos zu reparieren, verlangt allerdings als Gegenleistung Sex. Anfangs nüchtern als „Tauschgeschäft“ eingegangen, wird für die noch unsichere und zurückhaltende Nat aus dem ungewöhnlichen Verhältnis zu diesem älteren Mann „eine Liebe“ - obsessiv und fordernd, aus Sehnsucht nach Vertrauen und Halt. Doch Liebe und Freundschaft bleiben einseitig. Halt findet Nat weder beim Sexpartner Andreas noch bei dem als hilfreicher Freund erscheinenden Píter.
Sara Mesas Roman fasziniert durch die abschreckende, brutal wirkende Nüchternheit in seiner Handlung, in den in ihrem Handeln widersprüchlich auftretenden Dorfbewohnern und in der sachlich knappen Sprache der Autorin: Die verhärmt und in ihrem Leben perspektivlos wirkenden Dorfbewohner sind hart in ihrem Urteil, verachten nicht nur Außenseiterin Nat, deren Liaison ausgerechnet mit dem „Deutschen“ für weiteres Misstrauen sorgt, sondern auch ihre Nachbarn. Die Dörfler scheinen mal vertrauensvoll, mal abweisend, werden unerwartet aggressiv. Erst wenn es gilt, Nat aus dem Dorf zu treiben, scheinen sich alle einig. Von einer harmonischen Dorfgemeinschaft ist jedenfalls nichts zu spüren. Nicht einmal die karge Landschaft bietet einen Hauch von Romantik. Alles erinnert an das ebenfalls vom Wagenbach Verlag im September veröffentlichte Buch „Leeres Spanien“ von Sergio Del Molino über Spaniens sterbende Dörfer. Aber gerade diese Nüchternheit und Gefühlskälte ist es, die Sara Mesas Kurzroman „Eine Liebe“ zu einer dramatischen und auf ihre Art ungemein fesselnden Geschichte, in deren Ablauf sich die Autorin – wie in einem eindrucksvollen Kammerspiel – allein auf ihre Protagonistin beschränkt, auf deren Gefühle und Gedanken, und alle anderen Personen eher als Randfiguren auftreten lässt.