Profilbild von GAIA_SE

GAIA_SE

Lesejury Star
offline

GAIA_SE ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit GAIA_SE über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.02.2023

Immer mehr geben als nehmen

Wovon wir leben
0

In Birgit Birnbachers neustem Roman geht es nicht nur darum wie wir leben, sondern eben vor allem wovon wir leben. Wir leben nicht nur von der Erwerbsarbeit, sondern müssen auch mit einer erzwungenen Arbeitslosigkeit ...

In Birgit Birnbachers neustem Roman geht es nicht nur darum wie wir leben, sondern eben vor allem wovon wir leben. Wir leben nicht nur von der Erwerbsarbeit, sondern müssen auch mit einer erzwungenen Arbeitslosigkeit leben. Und - besonders Frauen – müssen auch noch zusätzlich mit der ihnen auferlegten Care-Arbeit leben. Welche Auswirkungen das auf die eigene Gesundheit, den Lebensentwurf und letztlich das eigene Ich haben kann, damit beschäftigt sich Birnbacher verdichtet auf nur knapp 190 Buchseiten.

Julia ist Mitte Dreißig und war bis vor kurzem noch Krankenschwester auf der Inneren Station eines Kreiskrankenhauses in Österreich. Nach einem fatalen Fehler kann sie nicht mehr atmen, im übertragenen wie auch wörtlichen Sinne. Sie wird arbeitsunfähig und steht zu Beginn des Romans vor ihrer Entlassung. Da sie in einer Betriebswohnung lebt, zieht sie kurzerhand zurück in ihren Heimatort zu den Eltern. Nur erwarten sie dort neben der Nachricht, dass die Mutter gar nicht mehr zuhause lebe, noch weitere Neuigkeiten und Neulinge. Die nahegelegene Schokoladenfabrik hat geschlossen und nun ist der halbe Ort arbeitslos, hinzu gesellt sich der Städter Oskar, der kürzlich einen kleinen Herzinfarkt erlitt, einen sogenannten „Luxusinfarkt“, aber Glück im Unglück hatte und ein einjähriges Grundeinkommen gewonnen hat. So treffen nun diese verschiedenen Welten aufeinander und es entsteht des Bild einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit definiert, in dieser Arbeit die sogenannte Care-Arbeit aber gar nicht mitgedacht wird. Julia muss einen Weg und ihren Weg finden, sich neu zu definieren, und trifft dabei auf diverse Widerstände in der Gemeinschaft aber auch in sich selbst.

Durch ihre nüchterne, mitunter lakonische Sprache erschafft Birnbacher in ihrem Roman das realitätsnahe Bild einer Dorfgemeinschaft mit den ganz individuellen Nöten der dort lebenden Menschen. Während sie ganz präzise Beschreibungen findet, schwingen in den meist einfach anmutenden Sätzen, tiefgründige Erkenntnisse mit. Gleich auf der ersten Seite lese von wir von der Ich-Erzählerin, dass sie aufgrund ihrer schweren asthmatischen Erkrankung, durch welche sie „nur knapp am Sauerstoff vorbei“ geschrammt ist (soll heißen, der Sauerstoffflasche zur Erleichterung der Atmung), die „vollständige Atmung“ hat erlernen müssen: Immer mehr aus als ein. Ziemlich einfach zu merken: immer mehr geben als nehmen.“ Dieses „immer mehr geben als nehmen“ scheint die Überschrift über dem Leben so vieler Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein und auch dem von Julia und ihrer Mutter. Zu ihrem Vater und seiner Rolle in der Familie macht sie sich folgende Gedanken (S. 151):

„Wie hat er sich das eigentlich vorgestellt, damals bei der Familiengründung? Er macht eine Skizze, einen Grundriss vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“

Julia hadert aber auch mit ihrer Rolle und versucht einen eigenen Weg zu finden. Der gesamte Roman ist überzeugend, was mich aber schlussendlich vollends für diese unglaublich realitätsnahe Zeichnung der Gefüge innerhalb der Familie, ja innerhalb der Gesellschaft, eingenommen hat, ist das Ende des Romans. Weder ein Happy noch ein Sad Ending ist es geworden. Nein, ein allzu realistisches Ende hat Birgit Birnbacher ihrem Roman gegeben. Nach dem Zuklappen der Buchdeckel ist man ob der präsentierten Wahrheiten, die man doch eigentlich schon zur Genüge kennt, sprachlos. Hier handelt es sich beileibe nicht um einen happy-go-lucky-Aussteigerroman, aber auch nicht um ein belehrendes Buch, sondern ein nüchternes Abbild der Realität inklusive der Innenansicht einer ganz normalen Frau, die ihr Schicksal nicht hinnehmen kann und will, und gleichzeitig mit sich und den Umständen zu kämpfen hat. Das ist grandios gemacht und damit eins meiner diesjährigen Highlights. Klare Leseempfehlung!

5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.02.2023

Entlarvend tiefgründige Milieustudie

Die Mütter
0

Mit nur 26 Jahren veröffentlichte die afroamerikanische Autorin Brit Bennett ihren überzeugenden Debütroman „Die Mütter“. Darin zeichnet die Amerikanerin das entlarvende Bild einer Gesellschaft, die hohe ...

Mit nur 26 Jahren veröffentlichte die afroamerikanische Autorin Brit Bennett ihren überzeugenden Debütroman „Die Mütter“. Darin zeichnet die Amerikanerin das entlarvende Bild einer Gesellschaft, die hohe moralische Standards propagiert, während sie diese selbst nicht einzulösen vermag.

Die afroamerikanische Nadia Turner ist gerade einmal 17 Jahre alt als sie von ihrem Freund schwanger wird. Die Beziehung zu ihm stellte für sie einen Fluchtpunkt dar, nachdem sich ein halbes Jahr zuvor ihre eigene Mutter mit der Pistole des Vaters das Gehirn weggeschossen hat. Für Luke, Kindsvater und Pastorensohn, sollte eigentlich schon die Beziehung zu Nadia geheim bleiben, eine öffentliche Schwangerschaft wäre somit eine Katastrophe für ihn aber vor allem für das Pastorenehepaar. Die einzige Lösung scheint eine Abtreibung. Diese zerstört die Liebesbeziehung der beiden jungen Leute vorerst, und doch wird sich ihr Lebensweg in den nächsten Jahren immer wieder kreuzen. Und immer wieder wird das nicht ausgetragene Kind mal trennend, mal verbindend zwischen diesen beiden Menschen stehen. Nadia verlagert ihren Wunsch nach Nähe auf eine Mädchenfreundschaft mit Aubrey, ein eifriges Kirchengemeindemitglied. Das Geheimnis um die Abtreibung, die Freundschaft der beiden jungen Frauen sowie Liebesverflechtungen mit Luke machen den Plot des Romans nun fast zu einer griechischen Tragödie.

Aber nicht nur der Plot legt den Vergleich mit der griechischen Tragödie nahe. Auch die grandiose Struktur des Romans lässt daran denken und gibt ihm eine weitere Dimension. So beginnt der Roman quasi mit einem „Chorgesang“, denn die ältesten Damen der Kirchengemeinde, genannt „Die Mütter“, kommentieren durch ihren Klatsch und Tratsch, welcher immer in der Pluralform „Wir“ formuliert wird, die Geschehnisse um die drei jungen Leute. Über das gesamte Buch hinweg vervollständigen die Kommentarszenen die Handlungsszenen des Romans, ohne in die Handlung als solche einzugreifen.

Die Handlung ist nicht nur spannend und präzise konstruiert, sondern auch doppelbödig und entlarvend für die amerikanische Gesellschaft. Wenn wir durch die Mütter erfahren, dass die Kirchengemeinde damals bei der Eröffnung der Abtreibungsklinik vor zehn Jahren massiven Protest angewendet hat und gleichzeitig auf der Handlungsebene Lukes Eltern als Pastorenehepaar dieser Gemeinde die Kosten für die Abtreibung übernehmen, um ihrem Sohn „aus der Patsche“ zu helfen, wird das Ausmaß der Perfidität erst so richtig deutlich. Auch deckt Bennett durch das Aufeinandertreffen verschiedenster Figuren mit verschiedenen ethnischen Hintergründen nicht nur den Alltagsrassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen auf, sondern auch gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen sowie dieser Minderheiten untereinander. All das verbindet Bennett durch ihren hervorragenden, gelassenen, nicht übermäßig dramatisierenden Schreibstil, der auf den Punkt genau die gewünschten Erkenntniseffekte erzielt.

So entspinnt sich nicht nur eine Geschichte um Verrat und Lügen auf persönlicher Ebene, sondern auch um die Emanzipation einer Frau aus ihrem Milieu in einem Kaff in San Diego County, welches außer einer Laufbahn auf dem nahen Militärstützpunkt oder als Football-Nachwuchs kaum Aufstiegschancen für eine Person aus einer marginalisierten Gruppe bietet, erst recht nicht für eine weibliche (!). Ein ganz großartiger Roman, welchen ich vorbehaltlos für eine aufschlussreiche Lektüre empfehlen kann.

5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.05.2025

Poetischer, aber klarsichtiger Blick auf Menschen in prekären Lebenssituationen

Der Kaiser der Freude
0

Ocean Vuong ist mit seinem zweiten Roman der große Wurf gelungen. Mithilfe eines jungen Mannes von 19 Jahren, der als kleines Kind mit seiner Familie Anfang der 1990er Jahre aus Vietnam in die USA emigrierte, ...

Ocean Vuong ist mit seinem zweiten Roman der große Wurf gelungen. Mithilfe eines jungen Mannes von 19 Jahren, der als kleines Kind mit seiner Familie Anfang der 1990er Jahre aus Vietnam in die USA emigrierte, seiner nächsten Verwandten sowie seinem direkten sozialen Umfeld zeigt Vuong auf, dass das Versprechen des amerikanischen Traums, vom Tellerwäscher zum Millionär, schon lange nicht mehr gilt, wenn es denn je gegolten hat. Scheinbar in einer langsamen aber dauerhaften Abwärtsspirale befindet sich Hai, den wir zu Beginn am scheinbaren Tiefpunkt antreffen. Er lebt in Gladness, einem Arbeitervorort Hartfords in Connecticut, und ist gerade dabei von einer Brücke in den Fluss Connecticut zu springen, um sich das Leben zu nehmen. Denn viel ist nicht mehr für ihn zu holen in dieser trostlosen Welt aus verlassenen Fabriken, heruntergekommenen Wohngebieten und Drogen. Doch die hochbetagte Grazina, die selbst einmal vor langer Zeit auf der Flucht vor Stalin und Hitler aus Litauen in die USA emigrierte, unterbricht Hais Plan und nimmt ihn als ihren neuen Pfleger bei sich im ansonsten leerstehenden Haus auf.

Nun könnte man meinen, hieraus entwickelt sich eine Feel-Good-Geschichte um dieses ungleiche Paar herum. Nur ist hier nicht viel „Feel-Good“ in diesem Roman, wenn auch trotzdem Witz und Humor an der ein oder anderen Stelle. Es gibt kleine, zwischenmenschliche Lichtblicke in dieser harten Geschichte. Lichtblicke, die selbst eine zum Zeitpunkt der Geschehnisse bestehenden Obama-Regierung nicht zu bieten vermag. Die Lichtblicke entstehen durch den genauen Blick auf die Arbeiter:innen, die hier im Mittelpunkt stehen, wie sie miteinander umgehen und einander auch aushelfen. So kann man einigermaßen überleben, aber von Leben kann kaum die Rede sein, wenn zwei oder drei Jobs gleichzeitig kaum ausreichen, um den existenziellen Bedürfnissen nachzugehen. Alle Figuren tun es irgendwie doch, leben.

Sprachlich vermittelt Vuong diese Atmosphäre der objektiven Hoffnungslosigkeit und des subjektiven Durchhaltevermögens einfach nur herausragend. Die genutzten Sprachbilder sind so poetisch und pointiert, dass man über fast jeden Satz Ewigkeiten nachdenken kann. Da steckt so viel in Vuongs Sprache, Dinge, die eventuell im englischsprachigen Original noch besser in ihrer Mehrdeutigkeit erfasst werden können. Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl haben hier trotzdem hervorragende Arbeit in der Überführung ins Deutsche geleistet. Allein die brillante Mehrdeutigkeit des englischsprachigen Originaltitels kann gar nicht richtig ins Deutsche überführt werden. „The Emperor of Gladness“. Was es mit diesem „Kaiser“ auf sich hat, und dass dies rein gar nichts mit der sozialen Stellung eines tatsächlichen Herrschers als Staatsoberhaupt zu tun hat, erfährt man erst im Laufe des Romans. In genau einem Satz fast am Ende des Buches wird die Tiefgründigkeit dieser Formulierung deutlich und haut einem beim Lesen einfach nur um. Und natürlich „der Freude“, die Direktübersetzung vom Wort „Gladness“. Dass der Handlungsort des Romans absolut nichts mit wahrer Freude zu tun hat, aber doch mit zwischenmenschlichen Freudenmomenten, schwingt alles in diesem fiktiven Ortsnamen mit. Bei Vuong könnte man jedes Wort auf die Goldwaage legen und hätte seine helle Freude am Interpretationsspielraum.

Ich könnte jetzt noch ewig weiter jubeln über diesen umwerfenden Roman, empfehle stattdessen aber, ihn selbst zu lesen. Und ich selbst nehme mir vor, nun endlich auch den Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ von Ocean Vuong zu lesen. Er konnte mich mit seinem Schreibstil komplett von seinem Können überzeugen. Dieser 1988 in Vietnam geborene Autor steht nun auf meiner „muss ich lesen“-Liste.

4,5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.05.2025

Menschlich breiter Panoramablick über den Bau des Panamakanals

Der große Riss
0

Ich muss zugeben, dass sich dieser historische Roman von Cristina Henríquez für mich überraschend als Highlight gemausert hat. Er gibt mithilfe von vielen Figuren einen breiten Überblick über den Bau des ...

Ich muss zugeben, dass sich dieser historische Roman von Cristina Henríquez für mich überraschend als Highlight gemausert hat. Er gibt mithilfe von vielen Figuren einen breiten Überblick über den Bau des Panamakanals, die Arbeitsbedingungen unter denen dies Anfang des vergangenen Jahrhunderts geschehen ist, das Leben auf dem Isthmus zur damaligen Zeit, die politischen Verwicklungen und Einflüsse, sowie die ganz persönlichen Befindlichkeiten von einfachen Menschen, die irgendwie – unter anderem auch eher lose - in Verbindung mit dem Bau dieses Mammutprojekts von Menschenhand standen. Dabei wird nicht minutiös über die Baufortschritte berichtet, sondern Schlaglichter auf einzelne Szenen und Personen geworfen.

Nach den ersten 100 Seiten des Romans kam mir der Gedanke: „Sollten jetzt nicht so langsam mal alle Hauptfiguren vorgestellt sein, oder wie viele Personen sollen hier noch eingeführt werden?“ Denn eins muss man Henríquez lassen: Sie spart nicht an Figuren, deren Lebensgeschichten bis zum Punkt, an dem wir sie im Buch antreffen, in kleinen Vignetten knackig vorgestellt werden und die uns meist bist zum Schluss des Romans begleiten. Oder auch nicht, denn es gibt auch Todesfälle, die das Erzählte nur umso realistischer und nie heroisierend wirken lassen. Und gerade diese Art des Erzählens, dass ich so viele Einblicke in so viele Leben bekommen habe, und dabei die Hand, an die ich genommen wurde, niemals fallen gelassen wurde, ich also dem immensen Personal problemlos folgen konnte, hat mich bis zuletzt gefesselt. Innerhalb von zwei Tagen war dieser historische Pageturner von über 400 Seiten eingesogen. Nebenbei lernt man die wichtigsten historischen, politischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen Zusammenhänge zum Panamakanal, die einen denken lassen: „Warum habe ich bisher so unwissend diesen Kanal, den man im Geografieunterricht kurz kennengelernt hat, als gegeben hingenommen?“

Cristina Henríquez schreibt unglaublich süffig und zügig. Keiner einzigen Länge begegnete ich in diesem Roman und trotzdem fehlte meines Erachtens nichts. Ich habe selten mit so vielen Figuren gleichzeitig mitgefiebert, denn geschickt wechselt sie in den Kapiteln zwischen den Figuren, kein Erzählstrang fällt hinten runter, jeder wird zielsicher zum richtigen Moment wieder aufgegriffen.

Allein die deutsche Übersetzung, welche inhaltlich und stilistisch grundsätzlich gelungen ist, braucht für diese erste Auflage noch einmal ein aufmerksames Lektorat, welches an der ein oder anderen Stelle ein paar Tippfehler korrigiert. Die Schutzumschlag- und Buchdeckelgestaltung finde ich äußerst gelungen und nach der Lektüre erkennt man auch, dass genau das richtige Bild- und Kartenmaterial hier herausgesucht und genutzt wurde. Eine runde Sache.

Somit bin ich insgesamt durchaus begeistert von „Der große Riss“, habe viel Wissenswertes erfahren, wurde gut unterhalten und kann die Lektüre demnach guten Gewissens empfehlen.

4,5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.04.2025

Endlich eine neue Idee im Bereich Dystopie/Utopie!

Das Ende ist beruhigend
0

Die Autorin Carla Kaspari entwirft in ihrem aktuellen Roman „Das Ende ist beruhigend“ mal ganz neue Ideen bezüglich einer Zukunftsversion und dem ungewöhnlichen Art und Weise, wie den Menschen der Zukunft ...

Die Autorin Carla Kaspari entwirft in ihrem aktuellen Roman „Das Ende ist beruhigend“ mal ganz neue Ideen bezüglich einer Zukunftsversion und dem ungewöhnlichen Art und Weise, wie den Menschen der Zukunft „geholfen“ werden soll.

Wir lernen Dean im Jahre 2125 kennen, ein sogenannter „Sponsor“, was für nichts anderes als „superreich“ steht und der mit seinem Geld in der Städte- und gesellschaftlichen Entwicklung dem Staat (sofern dieser überhaupt noch existiert) unter die Arme greift. Soll heißen: Die Sponsor:innen dieser Zukunft entscheiden in eigenen Gremien, in denen nur der eigene Finanzwert zur Teilnahme befähigt, was gebaut werden soll, wie die Menschen leben sollen. Wichtig bleibt dabei immer der Profit, denn eigentlich erscheint das Leben für die Durchschnittsbevölkerung kaum noch lebenswert. Die Luft ist mit Partikeln so durchsetzt, dass man sie kaum noch atmen kann und die UV-Werte der Sonnenstrahlen so hoch bzw. die Hitze so stark, dass man sich kaum noch im öffentlichen Raum aufhalten/leben kann. Berlin ist kaum noch bewohnbar, die Randgebiete sind längst aufgegeben. Nur Dean hat sich entschieden, seinen eigenen Luxuswohnkomplex in Berlin bauen zu lassen. Die Menschen um ihn herum verlieren jegliche Hoffnung, für sich selbst und für unseren Planeten. Aus dieser Situation heraus kommt Dean eines Tages eine Idee und er lässt eine verlasse Ortschaft in Italien zu einem Kreativen-Paradies umbauen. Dort gibt es saubere Luft, genügen gesunde Nahrung und entspannende Mediationen, damit sich die dorthin eingeladenen kreativen Menschen, aus allen möglichen Bereichen, auf ihre Arbeit und kreativen Prozesse konzentrieren können. Um mit den entstanden Werken die „Normalbevölkerung“ bei Laune zu halten. So meint man zumindest zu Beginn der Lektüre. Was sich hinter dieser Siedlung wirklich verbirgt und damit auch die ungewöhnliche Idee der Autorin, kann an dieser Stelle nicht verraten, sondern muss selbst erkundet werden. Dies muss man zusammen mit der Ich-Erzählerin Esther, einer deutschen Malerin, die mit ihrer besten Freundin Théa seit 2130 in Spes I (so der Name der Siedlung) lebt, herausfinden.

Was genau Carla Kasparis Roman ist, eine Dystopie oder eine Utopie, oder eine Utopie in der Dystopie, ist kaum zu greifen. Sie macht auf jeden Fall einiges richtig, wenn es um das Erzählen ihrer Idee geht. So gefällt mir besonders der ganz fein abgestimmte Schreibstil. Die Parts, die sich mit Dean beschäftigen sind aus der personalen Perspektive verfasst und wirken recht konventionell im Stil. So richtig interessant wird es, wenn wir die Stimme von Esther lesen. Diese hat nämlich eine sehr spezielle Wortwahl und Art des Beschreibens. Zunächst wundert man sich noch, aber dann wird mit Erfassen ihrer Lebensbedingungen in Spes I, woher ihre Art kommt. Sie ist nämlich unglaublich achtsam und psychologisch geschult, in ihrem Denken. Jeder Satz ist genau austariert, klingt wie aus psychologischen angehauchten Selbsthilfebüchern zu Achtsamkeit und Fremd- bzw. Selbstwahrnehmung. Dies ist keine artifizielle Art des Schreibens von der Autorin, die sie nicht im Griff hat, sondern gezielt eingesetzt, denn wir merken im Verlauf: In Esthers Denken, Fühlen und Handeln wird quasi eine Form der Gehirnwäsche sichtbar. Wie diese funktioniert? Bleibt erneut ein Geheimnis in dieser Buchbesprechung und muss selbst erlesen werden. ;)

Hier eine kleine Kostprobe von Esthers Gedankenwelt:

„Obwohl ich es nicht anders kannte [Anm.: selbst zu kochen], habe ich hier im Dorf gemerkt, wie sehr mir der Vorgang gefehlt hat. Produkte auszuwählen, die man später zubereiten und dann zu sich nehmen wird, ist eine zutiefst befriedigende Tätigkeit, die mich mit Glück und Ruhe erfüllt. Vor allem, wenn es sich um Produkte handelt, die größtenteils lokal angebaut oder hergestellt werden. Einen Moment halte ich inne, um dankbar zu sein für die qualitativ hochwertigen Lebensmittel in Spes I.“

Esther zuzuhören ist, als ob man einen Werbespot für ein Bio-Wellness-Achtsamkeits-Ressort mit idyllischen Bildern und in Weichzeichner ansieht. Uns ist natürlich klar, dass diese Idylle nur trügerisch sein kann.

Schlussendlich hat mir die Lektüre von „Das Ende ist beruhigend“ auf literarischer Ebene und auch bezüglich der inhaltlichen Ideen sehr gefallen. Das Buch liest sich ganz wunderbar in kurzer Zeit, ist ein knackiger Pageturner. Definitiv eine Leseempfehlung für alle, die aus dem Bereich Dystopie/Utopie mal etwas anderes lesen wollen.

4,5/5 Sterne

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere