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Veröffentlicht am 15.03.2023

Lesenswert, stark, wichtig

Der ehemalige Sohn
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Die Hauptfigur dieses Romans ist Franzisk Lukitsch, auch Zisk genannt, der zu Beginn der Geschichte Schüler an einem Lyzeum für Musik ist. Zusammen mit seinen Freunden macht er sich an einem sonnigen Abend ...

Die Hauptfigur dieses Romans ist Franzisk Lukitsch, auch Zisk genannt, der zu Beginn der Geschichte Schüler an einem Lyzeum für Musik ist. Zusammen mit seinen Freunden macht er sich an einem sonnigen Abend zu einem Konzert auf. Als plötzlich ein Regenschauer über die Stadt hereinbricht, findet sich Zisk in einer U-Bahn Unterführung wieder. Da alle Konzertgänger in dieser den einzigen Unterschlupf erkennen, kommt es zu einem Massengedränge und dutzende Menschen werden zerquetscht, zertrampelt und sterben. Zisk kommt zwar mit seinem Leben davon, fällt aber in ein Koma, das die nächsten zehn Jahre andauern wird. Als er dann erwacht, scheint alles wie zuvor, als läge nicht ein ganzes Jahrzehnt zwischen dem Unfall und seinem Erwachen.

Dieselbe Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit prägt auch nach einem Jahrzehnt noch das Leben der Menschen. Und obwohl die Mehrheit des Volkes den Präsidenten nicht unterstützt und unzufrieden ist, schaffen sie es nicht, etwas gegen das Regime zu tun. Denn durch Angst und Gewalt wird die Macht erfolgreich aufrecht erhalten. Filipenko zerlegt das politische System in seine einzelnen Bestandteile und stellt dar, durch welche Mechanismen und Strukturen es aufrecht erhalten wird. Diese überraschen nicht, weil sie in jeder Diktatur zu finden sind: Das Einsperren von Oppositionellen und von allen kritischen Stimmen (denn “gesunde Menschen stellen keine Fragen”), die Ermordung von Journalisten, das gewalttätige Vorgehen gegen Demonstranten, das Festhalten an einer bestimmten Version der Geschichte, die Kontrolle und Gleichschaltung der Medien, die Zensur der Kunst, die politische Isolation, usw. Diese Strukturen führen dazu, dass es überhaupt keine Veränderungen und keine Entwicklung gibt. Einer der Ärzte fasst das sehr treffend zusammen: “Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten. Hier ändert sich absolut nichts. Egal, wie lang sie im Koma liegen. Monatelang, jahrelang, ewig...”

Filipenko erschafft durch seinen Erzählstil eine greifbare und dichte Atmosphäre und erweckt ein Land und seine Menschen zum Leben. Der Ton ändert sich immer wieder, manchmal mutet er poetisch an, dann kritisch und ernst und er kann auch durchaus humorvoll sein. Das Besondere an dem Roman ist meiner Meinung nach jedoch, dass seine Figuren selbst sehr häufig zu Wort kommen, wodurch ein Gefühl von Nähe und Authentizität entsteht. Die Charaktere wirken vielschichtig und greifbar. An Zisks Krankenbett beispielsweise werden zahlreiche Monologe von unterschiedlichen Figuren gehalten und es sind diese Monologe, die so viel über die Entwicklung und den Zustand im Land verraten. Außerdem wird der Roman durch sie zu einer Bühne, auf der die Figuren ihre Meinungen, Gedanken, Sorgen, Nöte und ihre Wut äußern können.

Fazit: Ein lesenswerter, wichtiger und starker Roman, der die Stimmen eines Landes einfängt und den Horizont des Lesers erweitert.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Großartig!

Der Granatapfelbaum
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Memed, Yusuf, Hösük, Ali der Barde und Klein Memed beschließen eines Tages, ihr Dorf zu verlassen und in der Çukurova Ebene nach Arbeit zu suchen. Sie brechen voller Hoffnung auf, wollen Geld verdienen ...

Memed, Yusuf, Hösük, Ali der Barde und Klein Memed beschließen eines Tages, ihr Dorf zu verlassen und in der Çukurova Ebene nach Arbeit zu suchen. Sie brechen voller Hoffnung auf, wollen Geld verdienen und ihren Familien ein besseres Leben ermöglichen. Was sie in der Ebene erwartet ist jedoch nicht Arbeit, sondern Krankheit, Durst, Hunger, Erschöpfung, Hitze und Demütigungen.

Yaşar Kemal schreibt meisterhaft über Menschen, deren Stimmen in der Literatur sonst kaum berücksichtigt werden. Er lässt Tagelöhner und Landarbeiter zu Wort kommen, gibt ihnen eine Bühne und schafft damit das Abbild einer Welt, in der soziale Ungerechtigkeit und Hierarchien, Armut und Ausbeutung den tagtäglichen Überlebenskampf der Menschen prägen.
Der Granatapfelbaum bedient sich einer klaren, hellen und gleichzeitig tiefgründigen Sprache. Es ist ein Roman, der großartig geschrieben ist und lange nachhallt.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Armut, Prekarität und Trostlosigkeit

Milch und Kohle
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Ralf Rothmann erzählt episodenartig aus dem Leben Simons, der im Ruhrgebiet der sechziger Jahre aufwächst. Simons Vater arbeitet auf der Zeche, hat einen Arbeitsunfall und muss ins Krankenhaus. Seine Mutter ...

Ralf Rothmann erzählt episodenartig aus dem Leben Simons, der im Ruhrgebiet der sechziger Jahre aufwächst. Simons Vater arbeitet auf der Zeche, hat einen Arbeitsunfall und muss ins Krankenhaus. Seine Mutter will leben und sucht, während der Vater seine Verletzungen auskuriert, in den Beziehungen zu anderen Männern nach Erfüllung und nach Freiheit. Simons Bruder ist geistig behindert, leidet unter Anfällen und verletzt sich bei einem Anfall so stark, dass er für längere Zeit ebenfalls ins Krankenhaus muss. Der Protagonist selbst geht auf die Berufsschule, aber scheint nicht wirklich bei der Sache zu sein. Stattdessen zieht er mit seinem Freund Pawel um die Häuser, der jedoch später bei einem Autounfall stirbt.

Rothmann erzählt mit viel schriftstellerischem Talent und Einfühlsamkeit aus dem Leben dieser Menschen. Er wertet nicht, blickt nicht auf sie herab, aber beschönigt auch nicht. Das Erzählte bleibt immer nachvollziehbar, greifbar und authentisch. Er schreibt über Armut, Prekarität, über die Trostlosigkeit und die schwere Arbeit auf der Zeche, aber trotz dieser düsteren Themen wirken seine Ruhrgebietsromane nie erdrückend, denn sie sind aus der Perspektive von Protagonisten erzählt, die nach Freiheit suchen und nach ihrem Platz in der Welt.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Portrait eines Arbeiters

Stellenweise Glatteis
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Der Roman versetzt den Leser in die 70er Jahre ins Ruhrgebiet. Karl Maiwald arbeitet in einem Betrieb, der Industriegase herstellt. Zuerst war er dort als Lastwagenfahrer angestellt, doch Bandscheibenprobleme ...

Der Roman versetzt den Leser in die 70er Jahre ins Ruhrgebiet. Karl Maiwald arbeitet in einem Betrieb, der Industriegase herstellt. Zuerst war er dort als Lastwagenfahrer angestellt, doch Bandscheibenprobleme und Abszesse haben ihm das Fahren bald unmöglich gemacht. Jetzt arbeitet er in der Werkstatt und ist im Betriebsrat. Eines Tages entdeckt er durch Zufall, dass die Betriebsleitung die Arbeiter ohne deren Wissen abhört. Maiwald ist angesichts dieser Verletzung von Vertrauen und Privatsphäre entsetzt. Er findet heraus, dass die Gespräche unter den Arbeitern systematisch aufgeschrieben und in Akten angelegt werden. Zusammen mit seinem Kollegen bricht er in den Betrieb ein und stiehlt die Akten, um die Betriebsleitung bei der Weihnachtsfeier konfrontieren zu können.
Es folgen Streiks, Gerichtsverfahren, Erpressungen, Solidarität, Uneinigkeit und vor allem Enttäuschungen. Maiwald fühlt sich immer wieder missverstanden, ignoriert und alleingelassen. Nicht nur das kriminelle Verhalten der Betriebsleitung enttäuscht ihn, sondern auch die Tatenlosigkeit seiner Arbeitskollegen und sogar die Gewerkschaft, die später einen Teil des Unternehmens kauft und deshalb gar nicht an einer Aufklärung des Skandals interessiert ist.

Max von der Grün erzählt aus dem (Arbeits-)Leben eines Menschen, für den Moral und Gerechtigkeit Werte sind, für die es sich zu kämpfen lohnt, der aber immer wieder erfahren muss, dass er mit seinen Prinzipien alleine dasteht. Er erzählt von sozialer Ungerechtigkeit, die sich in allen Bereichen des Lebens manifestiert, zum Beispiel in der Aufteilung der Straße: Auf der einen Seite stehen die Villen der Ärzte und Anwälte, auf der anderen die Wohnungen der Arbeiter und hinter deren Häusern die Baracken der Gastarbeiter. Soziale Hierarchien und die Macht, bzw. Machtlosigkeit, die mit ihr einhergeht, prägen die Geschichte. Auch die Angst davor, den Job zu verlieren, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Prekarität ist allgegenwärtig und allein der Gedanke, dass der eigene Körper versagen könnte oder dass man aus anderen Gründen den Job verlieren könnte, ist maßgeblich an allen Entscheidungen, Handlungen und sogar Meinungen des sozialen Umfelds Maiwalds beteiligt.

Stellenweise Glatteis ist ein Roman, der durch seine Thematik überzeugt und durch sein klares Porträt eines Arbeiters, der an der Ungerechtigkeit der Arbeitswelt zu verzweifeln droht, aber trotzdem niemals aufhört, sich zur Wehr zu setzen und für seine Ideale einzustehen.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Muss man gelesen haben

Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis
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“So ist das Leben und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd - trotz alledem.”

Wenn man Rosa Luxemburg nicht schon vor der Lektüre dieses Büchleins mochte, dann tut man es spätestens danach. ...

“So ist das Leben und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd - trotz alledem.”

Wenn man Rosa Luxemburg nicht schon vor der Lektüre dieses Büchleins mochte, dann tut man es spätestens danach. Denn dass sie trotz der Umstände, trotz der Sinnlosigkeit und trotz der Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren ist, solch wunderbar positive, aufmunternde und poetische Briefe geschrieben hat, das Gute in der Welt gesehen hat und sich Büchern, Kunst, der Natur und Geologie gewidmet hat, ist absolut bemerkenswert. Sogar fünf Sterne können diesem Buch deshalb nicht gerecht werden.

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