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Veröffentlicht am 01.09.2023

Was ihre Mutter ihr mitgegeben hat...

Paradise Garden
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Die in diesem Roman erzählte Geschichte mündet in den nachdenklichsten Roadtrip, von dem ich je gelesen habe: Als Roadnovel würde ich „Paradise Garden“ nicht bezeichnen, da er sich über weite Strecken ...

Die in diesem Roman erzählte Geschichte mündet in den nachdenklichsten Roadtrip, von dem ich je gelesen habe: Als Roadnovel würde ich „Paradise Garden“ nicht bezeichnen, da er sich über weite Strecken im Wohnblock abspielt, in dem die Jugendliche Billie den Großteil ihres Lebens; jenen, an den sie sich klar erinnern kann; gemeinsam mit ihrer alleinerziehenden Mutter verbracht hat, wobei sie dieses diffuse Gefühl hat, als Kleinkind zunächst mit ihrer Mutter am Meer gelebt zu haben, was von ihrer Mutter ebenso abgetan wird wie genauere Nachfragen bzgl. ihres Vaters.
Trotz ihrer Armut haben ihre Mutter und Billie es gemeistert, mit dem wenigen Geld auszukommen, und ihren Alltag nicht von den Geldsorgen beherrschen zu lassen, doch ihr Leben wird auf die Probe gestellt, als ihre Billie fremde Großmutter aus Ungarn anreist und erschüttert auf die Verhältnisse, in der Tochter und Enkelin leben, reagiert. Hier zeigen sich zudem deutliche Unterschiede zwischen den beiden Mutter-Tochter-Beziehungen, denn während Billie und ihre Mutter sehr innig miteinander sind, ist der Umgang zwischen ihrer Mutter und ihrer Oma eher befremdlich.
Kurz nachdem ihre Mutter plötzlich verstirbt (kein Spoiler; deren Tod ist nicht nur aus der Buchbeschreibung zu erahnen, sondern wird bereits während der ersten Seiten angesprochen), weiß Billie in ihrer Überforderung nicht wohin und kurzerhand haut sie mit dem klapprigen Auto ihrer Mutter und einer kleinen Kiste voller deren Erinnerungsstücke, ab, um nicht nur die Geschichte ihrer Eltern, sondern auch sich, zu finden.

„Paradise Garden“, aus der Sicht Billies erzählt, ist ein sehr berührender Roman, dem man Billies Hilflosigkeit und Verzweiflung nach dem Tod der Mutter regelrecht anmerkt (ich habe während des Lesens auch mehrfach in Betracht gezogen, dass es schließlich einen krassen Mindf***-Plottwist geben könnte, bei dem sich herausstellen würde, dass Billie selbst bereits tot wäre und aus einer Zwischenwelt heraus berichtete); da fand ich es ferner erschreckend, dass ein 14jähriges Mädchen derart wenig Unterstützung erfuhr, nachdem ihre Mutter starb. Die Betreuung, die man ihr zuteilwerden ließ, war da eher rein logistisch; aber auch unterwegs reagierten die Leute, die Billie später mitunter doch ansprachen, da sie als offensichtlich Minderjährige alleine unterwegs war, eher nachlässig und gaben sich bereits mit halbgaren Erklärungen zufrieden – das ließ mich doch überlegen, ob sich das Gros unserer älteren Gesellschaft wirklich dermaßen wenig um die jüngeren Generationen schert. Würde ich noch so gerne glauben, dass Billies Ausreißertum hier zu unrealistisch dargestellt ist: jugendliche Obdachlose in den Städten sprechen doch dafür, dass tatsächlich eventuelle Suchaktionen häufig versanden oder diese Menschen allzu leicht aufgegeben werden.
Da bleibt als Trost nur, dass Billie letztlich doch ein wenig mehr ihrer Familiengeschichte aufzudecken vermag; dennoch bildet „Paradise Garden“ eher eine zeitweilige Aufnahme ab, an dessen Ende unter Anderem einfach nur wieder die Hoffnung (auf ein, in diverser Hinsicht, reicheres Leben) steht, die Billie und ihre Mutter immer verbunden hatte. Aber die Melancholie blieb immer und in diesem Fall habe ich es ferner von Anfang an vorgezogen, den Roman nicht am Stück, sondern Stück für Stück, zu lesen und die Geschichte immer etwas mehr sacken zu lassen.

Veröffentlicht am 28.08.2023

Überzeugend

Heartbreak
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In diesem Roman laufen die Geschichten der unter Angstzuständen leidenden Marie, die nach einem Jahr urplötzlich von ihrem Freund geghostet worden ist, und des als Schauspieler durchstartenden Newcomer ...

In diesem Roman laufen die Geschichten der unter Angstzuständen leidenden Marie, die nach einem Jahr urplötzlich von ihrem Freund geghostet worden ist, und des als Schauspieler durchstartenden Newcomer Tom, der sich aber vielmehr als Sänger sieht und zunächst damit hadert, dass er jetzt doch eher als Mime wahrgenommen wird, spitz aufeinander zu, ehe sie quasi zu einer gemeinsamen Geschichte werden, nachdem Tom als Sündenbock in eine Ecke gedrängt worden war, in der er mit dem Hass einer ganzen Nation überschüttet wird: Ein wenig ist die Begegnung der beiden Hauptfiguren hier also ein Treffen der Alleingelassenen, die gestern noch geliebt wurden und denen heute ganz andere Gefühle entgegengebracht werden. (Okay, Marie wird eher gar nix mehr entgegengebracht.)

Mich hat „Heartbreak“ zu Beginn direkt eingesogen, da sowohl Marie als auch Tom recht deutlich gezeichnet wurden und ich den Eindruck erhielt, dass der Inhalt stark aufs Psychologische bezogen sein würde; tatsächlich wurden grade eingangs Verhaltensweisen und Empfindungen auch sehr stark reflektiert; Maries Ratlosigkeit angesichts des Sitzengelassenwordenseins sowie Toms Zerrissenheit und seine Schwierigkeiten bzgl. des Umgangs mit seinem Ruhm kamen da sehr deutlich rüber. Ab dem ersten Aufeinandertreffen der Beiden verlief sich dies aber leider doch und zwar nicht (nur) insofern als dass sich beide gegenseitig herausgefordert oder auch unterstützt hätten, sondern die Geschichte wurde ab da einfach oberflächlicher, so dass ich letztlich zwischen den Stühlen sitze, denn insgesamt hat mir „Heartbreak“ sehr gut gefallen, aber als 5-Sterne-Lektüre würde ich den Roman rein dieses Abflachens wegen nicht bezeichnen, wohingegen er mir für eine 4-Sterne-Wertung eigentlich zu viel bietet.

Den Erzählstil fand ich toll, die tiefgründigeren oder einfach nur ernsteren Szenen waren nie zu lässig dargestellt, ohne dass sich der Roman insgesamt nicht doch leichtfüßig gelesen haben ließ. Bislang für mich doch eines der diesjährigen Highlights und müsste ich den Roman als Reise beschreiben, dann wie folgt: Ein wenig wie ein Roadtrip einer zufälligen Fahrgemeinschaft, die Gemeinsamkeiten untereinander aufdeckt und zu einem Team wird.

Veröffentlicht am 19.08.2023

Irgendwo teilt jemand deine Sorgen. Vielleicht schon direkt neben dir.

Irgendwo wartet das Leben
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Am Ende der 10. Klasse wurde den daran Interessierten unserer Stufe eine Art dreitägiges Selbstfindungsseminar angeboten, zu dem sich kaum 15 Leute anmeldeten, worunter sich zu meiner anfänglichen Überraschung ...

Am Ende der 10. Klasse wurde den daran Interessierten unserer Stufe eine Art dreitägiges Selbstfindungsseminar angeboten, zu dem sich kaum 15 Leute anmeldeten, worunter sich zu meiner anfänglichen Überraschung aber auch (generell war es eine sehr unerwartete, und erstaunlicherweise absolut cliquenfreie, Mischung an Teilnehmenden) gar die zwei "obercoolsten" Jungs unserer Stufe befanden, die, denen nichts etwas anhaben konnte, die, denen alles zuflog bzw. zugeflogen wurde, die, für die es immer perfekt lief... die, die doch bestimmt nur mitfuhren, um sich darüber (und wahrscheinlich über uns anderen Teilnehmenden) lustigmachen zu können. Pustekuchen: Beide waren von Anfang an, wie alle Anderen, absolut begeistert und sehr ernst mit von der Partie, waren ferner allen (und zugegeben teils wirklich albern anmutenden) Übungen gegenüber sehr aufgeschlossen und bemühten sich sogar, diverse Entspannungsübungen noch zu modifizieren und ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich, als wir Vertrauensübungen durchführten, verwundert war, dass generell die Lässigsten unter uns, die sonst doch keine Gefahr scheuten, dort die meisten Probleme damit zu haben schienen, sich auf die Anderen zu verlassen: die Dynamik während dieser drei Tage war da sehr wechselhaft und während einer Gesprächsrunde, in der es um Träume und vor Allem auch Ängste ging, brach es aus unserem absolut coolsten Obercoolen als Erstes heraus und plötzlich war da alles anders, nachdem jeder von uns offenbarte, womit er am Meisten haderte: Das war definitiv der Moment, in dem uns ALLEN klar wurde, dass wir zwar alle unterschiedlich, aber doch ziemlich gleich waren, dass wir uns vielfach mit denselben Sorgen rumschlugen, die aber häufig für uns behielten, um nicht zu riskieren, dass die Anderen schlecht von uns denken könnten, weil sich zum Beispiel längst erfolgreich eingeredet wurde, dass man den prügelnden Vater, den saufenden Vater, die tote Mutter, das Mobbing durch diese eine Clique in der Nachbarschaft etc. eben einfach ganz bestimmt verdient habe oder dass man im Gegenteil keine Selbstzweifel haben und keinen Druck verspüren dürfte, weil man immerhin aus dieser hochangesehenen, schwerreichen Familie stammte und als Millionärssohn könne es einem ja nur gut gehen - und dass es uns allen die Pubertät derbe erleichtert haben würde, hätten wir uns schon zu Beginn der Mittelstufe, oder wenigstens währenddessen, zusammengesetzt und diese Unterhaltungen geführt.

"Irgendwo wartet das Leben" hat mich sehr an diese drei Tage erinnert, nicht nur, weil die darin beschriebene Schulklasse ähnlich "groß" wie unsere damalige Gruppierung ist, sondern weil dort abwechselnd einige der Schüler
innen fokussiert werden und diese dort jeweils ihre eigenen Gedanken und Empfindungen beschreiben und dort ebenso klar wird, dass sie alle doch auch ihre Probleme haben, selbst wenn niemand sonst diese (dort) sieht, wie z.B. der Schüler, dessen Vorname zu einem eher abschätzigen Spitznamen verballhornt wird und der es gemäß der Anderen "doch gewöhnt ist, dass er so genannt wird; dem macht das nichts aus" und der sich dadurch aber eben doch getroffen fühlt und lieber beim echten Vornamen genannt werden möchte.
Orchid Mason ist als Neue in diesem Fall diejenige, die, die Dynamiken herausfordert und die Schüler*innen animiert, zu sich zu stehen anstatt sich unbedingt einfügen zu wollen und auch anzusprechen, was einen bewegt und was einem womöglich eben auch wehtut und sie zudem dazu bringt, sich gegenseitig Komplimente zu machen und zu äußern, was man (ggf. auch völlig Unerwartetes) an den Anderen schätzt - auch da erkannten Einige, dass sie eine ganz andere Außenwirkung haben als sie glaubten.
Es ist ein sehr psychologisches Buch: viel echtes Geschehen im Sinne von Abenteuer und Spannung gibt es da nicht und auch wenn die Kurzbeschreibung recht "magisch" angehaucht ist, so hat der Inhalt rein absolut gar nichts mit Fantasy zu tun. Dies ist ein ganz simpler zeitgenössischer Roman, der mir als Erwachsene sehr gut gefallen hat und der mir als 12Jährige Mut gemacht hätte, meine Perspektiven Anderer zu hinterfragen und daran zu glauben, dass niemand von uns frei von Sorgen, geschweige denn Macken und Eigenarten, war.
Das ist einer der Jugendromane, die zum Reflektieren einladen und angesichts seiner nachdenklichen Art sehe ich die Altersempfehlung "ab 11" auch als ganz gut getroffen an. Ich hatte zunächst überlegt, dass dies ein Buch für meine 9jährige Nichte sein könnte, die eine echte Leseratte ist und sich auch schon Bücher aus dem Regal genommen hat, die bei uns zur Schullektüre der 7. Klasse gehörten, und prompt in deren Inhalt versank, aber jene erzählten alle "wildere" Geschichten und an sich denke ich weiterhin, dass "Irgendwo wartet das Leben" sie durchaus ansprechen könnte; der Schreibstil ist toll und die jeweiligen Kapitel übrigens megakurz (also ideal, um Kinder, die noch lesen üben sollen, dazu zu bringen, "nur ein Kapitel zu lesen" ohne dass die Kinder an ihre Frustrationsgrenzen geraten); aber noch nicht jetzt. Dafür halte ich sie dann doch noch zu unstet, wobei ich einer introvertierteren, absolut schüchternen und vor Allem gedankenversunkeneren Version von ihr dieses Buch ohne zu zögern sofort in die Hand drücken würde. So werde ich es aber erst noch 1-3 Jahre beiseitelegen.

Veröffentlicht am 03.06.2023

Von Verdachtsmomenten und Fährten

Tristan Mortalis
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"Tristan Mortalis" ist der zweite (eigenständige) Roman des Autorenduos Hill/Stapor, das mir bis hierher unbekannt war, wobei ich Autorenduos/-teams gegenüber generell, frei nach "Viele Köche verderben ...

"Tristan Mortalis" ist der zweite (eigenständige) Roman des Autorenduos Hill/Stapor, das mir bis hierher unbekannt war, wobei ich Autorenduos/-teams gegenüber generell, frei nach "Viele Köche verderben den Brei", eher skeptisch bin: Dieses Buch hat mich nun aber dazu bewegt, auch den ersten Jugendthriller dieser beiden Autorinnen direkt auf die Liste der Bücher, die ich noch lesen möchte, zu setzen.

Dabei fand ich den Anfang ein wenig stolperig: Hier wird nämlich eingangs doch noch etwas länger vom spektakulären Fund einer uralten Moorleiche berichtet, die "absolut guterhalten" ist, und als Bene auf einem Foto einen Zipfel des von der Leiche getragenen Harnisch als mutmaßlichen Teil von Tristans Theaterkostüm, das jener während ihrer letzten gemeinsamen Party trug, identifizieren kann, ist das Mysterium um den überraschenden Zustand dieser Moorleiche für die Lesenden nicht mehr sonderlich groß. Dadurch, dass die Kurzbeschreibung (und wohl auch der Titel) bereits verrät, dass sich die Geschichte rund um Tristans Todesumstände dreht, fand ich es ein wenig zäh, mich erst noch durch diverse "Ist er’s? Ist er’s nicht?"-Seiten lesen zu müssen. Zudem: Ich weiß es wirklich nicht, aber wäre eine Leiche nach einem halben im Jahr im Moor tatsächlich schon so ausgetrocknet und verknöchert, dass man sie mit einem jahrhundertealten Ritter verwechseln könnte? Und wie krass authentisch muss dieses Kostüm denn gewesen sein, dass offensichtlich auch dessen Material nicht sofort auffiel? Mir schien das doch dubios, dass hier recht lange gebraucht wurde, um festzustellen, dass die gefundene Leiche kein echter Ritter gewesen war.
Auch im weiteren Verlauf habe ich mich ein wenig schwer damit getan, dass dieser Fund hier zunächst schon über die Grenzen hinaus Schlagzeilen machte, sich dann herausstellte, dass es sich beim Toten um einen jungen Erwachsenen handelte, der auf ungeklärte Weise ums Leben gekommen war – aber als Tristans Freunde aus der Theater-AG dann teils sehr abrupt von ihren Studienorten etc. aus gen ihr Heimatörtchen aufbrachen, fragte nie jemand, ob sie den Toten gekannt hatten, der ja offensichtlich ihrer Altersgruppe zugehörig war, oder Ähnliches. Völlig skurril fand ich es allerdings, als die verbliebenen Freunde sich später in ihrem alten Stamm-Imbiss trafen und vom dortigen Betreiber gefragt wurden, wo denn das fünfte Mitglied ihrer Truppe wäre!? Als ob grad in einer Kleinstadt SO ein Tod nicht mitbekommen werden könnte und als ob in einem Fall wie diesen Tristans Foto nicht groß durch sämtliche Medien gejagt worden wäre… darin bestand für mich letztlich eigentlich auch das einzige Manko des Romans, dass der rätselhafte Tod eines Abiturienten während einer Abschlussfeier nicht öffentlich dermaßen ausgeschlachtet worden sein sollte, nachdem man ihn versehentlich schon als einen echten Ritter erkannt hatte.

Perspektivisch ist "Tristan Mortalis" durchaus interessant gemacht: hauptsächlich spielt er im Hier und Jetzt und abwechselnd werden Tristans vier Freunde beleuchtet; dabei sind die Figuren hier doch sehr unterschiedlich und man kann sich leicht vorstellen, dass es außerhalb ihres gemeinsamen Engagements in der Theater-AG eher unwahrscheinlich gewesen wäre, dass sich ausgerechnet diese fünf Menschen zu einer Clique zusammengefunden hätten. Immer wieder wird aber zur fraglichen Partynacht zurückgeschwenkt und geschildert, an was sich die Vier da erinnern.
Dabei wird schnell klar, dass jeder ein etwas anderes Bild jener Nacht in sich trägt und diejenigen, die das Buch lesen, entwickeln da wohl alsbald eine Ahnung, dass jemand aus dieser Gruppe für Tristans Tod verantwortlich sein könnte, wobei bis zum Schluss alles sehr ominös bleibt und es einige unerwartete Enthüllungen gibt, dass man tatsächlich letztlich doch nur raten kann, wer hier eventuell der/die Böse war oder ob es eventuell doch alles ganz anders gewesen ist.
Da fand ich diesen Roman nun doch recht fesselnd und auch vielschichtig; gefallen hat mir auch, dass hier doch von den vier Hauptfiguren auch regelmäßig reflektiert wurde, wie sehr sie sich (alle) in den letzten Monaten bereits verändert hatten und ob ihre Prioritäten womöglich noch ein wenig zurechtgerückt werden sollten bzw. in welche Richtung sie sich ferner bewegen wollten. Niemand blieb von Tristans Tod da unberührt, obschon es seit dem Abschluss eigentlich auch gar keine Berührungspunkte zwischen dieser Gruppierung mehr gegeben hatte.
Für mich war das einfach eine gelungene, ohne Blutrünstigkeit auskommende, Mischung zwischen Thriller und Psychodrama! Zudem wie gesagt so überzeugend, dass ich auf alle Fälle ferner jetzt auch den anderen bislang erschienen Jugendroman des Duos noch lesen will.

Veröffentlicht am 03.06.2023

Beunruhigende Zukunftsvision

Seeing what you see, feeling what you feel
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Dieser Jugendroman hat mich völlig fasziniert, auf gute sowie schlechte Art, gefesselt, schockiert, aufgewühlt, nachdenklich gemacht… selten hat mich je eine Geschichte überhaupt eine solche Bandbreite ...

Dieser Jugendroman hat mich völlig fasziniert, auf gute sowie schlechte Art, gefesselt, schockiert, aufgewühlt, nachdenklich gemacht… selten hat mich je eine Geschichte überhaupt eine solche Bandbreite der Emotionen durchmachen lassen; selten hat mich eine Hauptfigur so beeindruckt wie Lydia und wirkte dabei jedoch derart unsympathisch. Man kann es nicht anders sagen: Lydia ist eine geniale Hackerin, bei der von Anfang an ersichtlich ist, dass ihre Fähigkeiten sie rasch ins Kriminelle abgleiten lassen könnten und bei der man sicher sein kann, dass ihr in einem entsprechenden Verfahren ein „Offener Vollzug oder Bewährung, wenn du für uns arbeitest“-Deal angeboten werden würde; wenig überraschend entspinnt sich sehr frühzeitig im Hintergrund auch eine Art „Catch me if you can“-Strang, der diesen Eindruck verstärkt.

Die Künstliche Intelligenz, deren Entwicklung Lydia mit ihrem Vater begonnen und die sie nun völlig alleine abgeschlossen hat, erinnerte mich sehr an die Mecha aus Spielbergs inzwischen 20 Jahre altem „A.I. – Künstliche Intelligenz“, wobei jene aber schon in Figuren gepresst wurden: das von ihr nach ihrem verstorbenen kleinen Bruder Henry benannte Programm wirkt wie ein körperloser Mensch, was auch hier letztlich ein Problem darstellt, denn Lydia sehnt sich nach einem „echten“ Henry in ihrem Leben und auch die KI strebt mehr und mehr danach, vollauf am Leben teilhaben zu können. Dabei habe ich mich teils arg schwergetan, wie hochfunktional Lydias Künstliche Intelligenz war und wie rapide sie sich weiterentwickelt hat – mitunter habe ich da echt überlegt, ob es die Künstliche Intelligenz überhaupt gäbe oder ob Lydia nach dem traumatischen Unfall ihrer kompletten Familie nicht einfach in eine Psychose abrutschte… teils schien mir das alles sehr wie die Darstellung einer gespaltenen Persönlichkeit, denn auch wenn häufig darauf hingewiesen wurde, dass Henry, der sicherlich auch durch seine Körperlosigkeit sehr imaginär wirkte, die menschliche Komponente fehlt und sein Bewusstsein rein technisch wäre, hat das Programm die Menschen doch so sehr kopiert und sich an diese angelehnt auch eigenständig weiterentwickelt, dass dieser Unterschied zwischen KI und Mensch irgendwann gar nicht mehr auszumachen war und Henry eher wie Lydias toxischer, hochmanipulativer Partner wirkte. Allerdings war auch Lydia nun nicht der Prototyp des netten Mädchens von nebenan, da entstand schnell eine ungute Bonnie-und-Clyde-Dynamik, bei der es teils nicht so einfach auszumachen war, wer nun der skrupellosere Part war und wer/was die Grenzen der Moral wohin verschob. Da lohnt es sich durchaus, die Handlung aus einem ethischen Blickwinkel kritisch zu betrachten; mich hat dieser Roman zwar sehr gut unterhalten und er war auch sehr spannend, aber als reinen Unterhaltungsroman würde ich ihn definitiv nicht betrachten. Da wird zweifelsohne eine diskussionswürdige Thematik angesprochen: mit welchen Tabus sollte man eine KI programmieren; zu welchem Zeitpunkt geht sie zu weit, so dass man eingreifen sollte; wie schnell gerät eine Entwicklung ggf. außer Kontrolle und welche Mechanismen hätten es womöglich verhindern können, dass Lydia mit Henry auf die „wir Zwei gegen den Rest der Welt“-Bahn gerät? Denn über dieser Handlung schwebt ein riesiger Schatten der Vernachlässigung und Ignoranz und des Traumas einer ganzen Familie.

Ein sehr lesenswertes Buch, vor Allem in dieser Zeit, in der ChatGPT so klar auf dem Vormarsch ist.