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Veröffentlicht am 14.10.2023

Fabulierkünstler Kehlmann in Hochform

Lichtspiel
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Daniel Kehlmann ist immer für eine Überraschung gut! Lichtspiel ist ein wunderbarer Roman und Ulrich Nöthen macht ihn zu einem Hörgenuss der Extraklasse.
Es mischen sich wahre Ereignisse mit Fiktionalem, ...

Daniel Kehlmann ist immer für eine Überraschung gut! Lichtspiel ist ein wunderbarer Roman und Ulrich Nöthen macht ihn zu einem Hörgenuss der Extraklasse.
Es mischen sich wahre Ereignisse mit Fiktionalem, der Fabulierkünstler Kehlmann ist hier zur Hochform aufgelaufen. Das Porträt von G. W. Pabst, dem berühmten Filmregisseur, und das Porträt einer Diktatur, die die Kunst vor ihren Karren spannte, beides ist absolut hörenswert und verschmilzt zu einer mitreißenden Symbiose.
Das größte Lob für ein Hörbuch ist es doch, dass ich sofort das Buch kaufen möchte, um alles noch einmal intensiv zu erleben. Nöthens Stimme werde ich dabei wohl immer im Kopf haben.

Lichtspiel

NetGalleyDE

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Veröffentlicht am 26.09.2023

Liebevoller Nachruf auf eine glühende Anhängerin der rhetorischen Trias

Eigentum
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Wolf Haas, mir eher bekannt durch seine niveauvollen Brenner-Krimis, gedenkt mit diesem Roman seiner Mutter, die mit 95 Jahren in einem Altersheim verstorben ist.
Mit ihren Worten formt er ein so plastisches ...

Wolf Haas, mir eher bekannt durch seine niveauvollen Brenner-Krimis, gedenkt mit diesem Roman seiner Mutter, die mit 95 Jahren in einem Altersheim verstorben ist.
Mit ihren Worten formt er ein so plastisches Bild von ihr und ihrem Leben, von den Umständen und Zeitläuften, dass man das Buch, einmal begonnen, kaum noch aus der Hand legen mag.
Marianne Haas, eine Tochter aus einfachsten Verhältnissen, mit vielen Geschwistern und keiner Chance auf höhere Bildung, entwickelt sich trotz aller Widrigkeiten zu einer lebenstüchtigen, schlauen und hartnäckigen Frau und Mutter. Sie übersteht den Krieg und arbeitet acht Jahre lang in der Schweiz, um ihren Eltern Geld für ein im Bau befindliches Haus senden zu können. Als sie in jenem Haus dann selbst wohnen möchte, bekommt sie die kleinste Stube mit Küche für sich und ihre Familie. Kein Dank, nirgends, kein Geld, keine Freude.
Haas erinnert sich in diesem Roman also an alles und jedes, was seine Mutter, mit bemerkenswerter Vehemenz und Energie, von sich gegeben hat und wie er es damals und heute bewertet. Gut kann ich mir vorstellen, wie er und sein Bruder das eine oder andere Mal die Augen verdrehten oder das Weite suchten, wenn die Tiraden der Mutter auf sie niedergingen.
Obwohl man beim Lesen ja weiß, dass die Mutter sterben wird, das sagt Haas gleich zu Beginn, ist es kein trauriges Buch, es macht nachdenklich, aber immer wieder musste ich schmunzeln, laut auflachen und manchen Satz zur Erbauung gleich ein zweites Mal lesen. Genau: Lesen lesen lesen – sparen sparen sparen – schreiben schreiben schreiben… Wolf Haas hat es mit dem Denken denken denken, an einer Stelle im Buch beantragt sein Hirn Sabbatical. Ich kann das verstehen, wenn es immer nur denkt, braucht es auch mal Ruhe, selbst wenn es einem Wolf Haas gehört. Und Niedergeschlagenheit findet keinen Platz, egal wie trüb die Aussichten sind.
Mir hat dieser Roman sehr gefallen, besonders die im österreichisch gefärbten Dialekt geschriebenen Gespräche mit der Mutter, ihre Erinnerungen, zeugen von viel Liebe und Warmherzigkeit.
„Bist bes auf mi, Mutti?“ – „Des hättma, finito, Ende der Diskussion."
Ich kann dieses Buch sehr empfehlen.

Eigentum

NetGalleyDE

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Veröffentlicht am 30.08.2023

Was wäre die deutsche Buchwelt ohne Maxim Biller?

Mama Odessa
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Da würde mir viel fehlen, über Biller kann ich gleichzeitig lachen und weinen. Genial.
Gelesen wird dieses Hörbuch vom Schauspieler Jens Harzer, dem der Text auf den Leib geschrieben scheint. Jede Szene ...

Da würde mir viel fehlen, über Biller kann ich gleichzeitig lachen und weinen. Genial.
Gelesen wird dieses Hörbuch vom Schauspieler Jens Harzer, dem der Text auf den Leib geschrieben scheint. Jede Szene ist authentisch, leicht ironisch und einfühlsam gespielt. Mehr kann man von einem Hörbuchsprecher nicht verlangen.
Maxim Biller beschreibt eine Jugend in Hamburg, die (s)eine/Mischas Emigrantenfamilie, erlebt. Etwas makaber wird das Ganze, wenn er über die neue Frau seines Vaters als "Nazihure" berichtet, aber das sind offenbar Mischas Eindrücke, unverfälscht und heftig. Die Mutter hingegen ist Mama Odessa in Reinkultur. Später, wenn Mischa erwachsen wird, lauern andere Fallstricke, die enge Bindung an die Mutter aber bleibt ein Leben lang.
Es ist wohl einiges autobiographisch im Buch, aber es ist keine Autobiographie von Biller. Mit dieser hat er wohl vorerst abgeschlossen, aber die Emigrantenthematik und Hamburg bleiben dem Leser erhalten.
Ich bin froh, dass Biller seine Drohung, nach dem Beginn des Ukrainekrieges nun nicht mehr schriftstellerisch tätig zu sein, nicht wahrgemacht hat. Es wäre sehr schade. Wobei der Buchtitel Mama Odessa mit dem jetzigen Geschehen dort nichts gemein hat, aber es geht einem eben nicht aus dem Kopf.
Absolute Hörempfehlung!

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Veröffentlicht am 26.08.2023

Eine glaubhafte Familiengeschichte

Bei euch ist es immer so unheimlich still
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Ich hatte mir dieses Buch ausgewählt, weil ich bereits "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" gelesen hatte und mir der Schreibstil von Alena Schröder sehr gut gefiel.
Nun also schreibt ...

Ich hatte mir dieses Buch ausgewählt, weil ich bereits "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" gelesen hatte und mir der Schreibstil von Alena Schröder sehr gut gefiel.
Nun also schreibt sie einen Roman mit gänzlich anderen Vorzeichen: Erzählt wird eine glaubhafte, beinahe doch unglaubliche Familiengeschichte, sehr empathisch und mitreißend. Der Leser hat beinahe das Gefühl, selbst im Uraltauto der Protagonistin Silvia zu sitzen, bloß weg aus Berlin, bloß weg von der WG, bloß weg von den Männern. Und das mit der Aussicht, ihr Baby der ahnungslosen Großmutter zu präsentieren und möglichst für sich und das Kind einen Unterschlupf zu finden. Dass da zuerst im provinziellen Heimatort nicht gerade die Empfangsfanfaren geblasen werden, kann man sich gut vorstellen. Die plötzliche Großmutter Evelyn hat auch ihr Päckchen zu tragen und es dauert eine Weile, bis sich Mutter und Tochter einander annähern. Dass das süße Baby Hannah daran auch seinen Anteil hat, kann der Leser live miterleben.
Natürlich geht auch dieser Roman in der Handlung rückwärts und vorwärts, in Berlin fällt die Mauer und es ereignen sich einige unerwartete Dinge, die Silvia an ihrer Entscheidung, zur Mutter zu ziehen doch manchmal zweifeln lassen.
Mir hat dieses Buch ausnehmend gut gefallen und es hat mich gut unterhalten. Das Cover ist wunderschön und verleitet sofort zum Kaufen. Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 26.08.2023

Ein „normales“ Schicksal, das einzigartig erzählt wird

Aenne und ihre Brüder
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Reinhold Beckmann ist ein Journalist und Musiker, der sein angeborenes Talent zum Geschichten- und Geschichte erzählen in diesem Buch auf hervorragende Weise zum Ausdruck bringt.

Er nimmt sich der Lebensgeschichte ...

Reinhold Beckmann ist ein Journalist und Musiker, der sein angeborenes Talent zum Geschichten- und Geschichte erzählen in diesem Buch auf hervorragende Weise zum Ausdruck bringt.

Er nimmt sich der Lebensgeschichte seiner Mutter und ihrer Brüder und Schwester mit großer Herzenswärme an, um dieses persönliche Schicksal herum gelingt ihm eine komprimierte Abhandlung über das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Nachkriegszeit. Gut lesbarer Geschichtsunterricht, der an viele Ereignisse erinnert, die mir natürlich bekannt sind, die sich aber gut in diesen privaten Rahmen fügen. Gerade auch die regionalen Ereignisse, die mir nicht geläufig waren, sind eine interessante Ergänzung von Aennes Geschichte.
Der kleine katholische Ort Wellingholzhausen wird sehr anschaulich beschrieben, wie auch seine Bewohner und die knorrige Lebensart, die sich auch in einem schwer verständlichen Dialekt ausdrückt. Zum Glück ahnt Beckmann, dass nicht alle Leser den sofort verstehen und schiebt immer wieder Erklärungen oder Übersetzungen nach.

Mein etwas ambivalentes Verhältnis zum Leben und Erleben der deutschen Bevölkerung insbesondere nach der Machtergreifung und in Bezug auf den Holocaust und die Verfolgung Andersdenkender macht mir trotzdem manchmal das Lesen etwas schwer. Mein Vater z. B. war 10 Jahre Häftling in Hitlers Zuchthäusern, zufällig von 1936 bis 1939 im Moorlager Aschendorfer Moor, das Beckmann beschreibt, als Bischof Berning dort einen „Besuch“ mit Ansprache macht. In meiner Familie sind weit über 100 Menschen, auch mein Großvater, dem Holocaust zum Opfer gefallen, meine Mutter wurde als „Mischling“ beschimpft. Sehr unterschiedlich die Lebenswege von ihr und Aennes Bruder Willi, beide 1927 geboren. Wenn ich bei Beckmann dann von den Menschen lese, die doch fanden, dass der Hitler vieles gut gemacht hat, ihnen Arbeit gegeben hat, ihren Wohlstand verbesserte und dass Beckmanns Vater auch noch nach dem Krieg diese These vertrat, fühlt sich das nicht gut an. Andererseits ist auch mein Onkel vor Stalingrad gefallen (sein Name ist wie der von Alfons auf einem Gedenkstein eingemeißelt), meine Großmutter väterlicherseits bekam das Goldene Mutterkreuz, meine Großeltern wurden in Duisburg ausgebombt bzw. meine Großmutter vertrieben. Diese Ambivalenz lässt sich nicht einfach verdrängen. Das Buch von Beckmann ließ mich lange darüber nachdenken, weil es einfach nicht möglich ist, sich aus der heutigen Position in die Lage der Menschen zu versetzen, die Hitler an die Macht kommen, ihn seine Macht bis zum bitteren Ende auskosten ließen. Auch diese Menschen haben teuer bezahlt.

Aenne hat das Pech, als Mädchen auf dem Lande aufzuwachsen, ohne jede Hoffnung, dem dort normalen Lebensweg entgehen zu können. Keine höhere Schulbildung, keine Berufsausbildung, dafür aber eine recht herrische Stiefmutter und dann nach der Schulzeit „in Stellung“ bei Bauern. Kein Zuckerschlecken für eine Vierzehnjährige. Aber sie entzieht sich dem Diktat der Stiefeltern und beginnt mit 18 Jahren tatsächlich einen neuen Lebensabschnitt, zumindest einige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Aber da beginnen auch schon die letzten Kriegsvorbereitungen, der Stiefvater wird eingezogen, die drei älteren Brüder ziehen einer nach dem anderen in den Krieg.

Schon der Klappentext nimmt den Verlauf von Aennes Lebensgeschichte vorweg, die Brüder fallen alle vier. Und doch hat Aenne nicht der Lebensmut verlassen. Dass sie später ihrem Sohn von ihrer Kindheit und Jugend, der Familie, den Geschwistern und Stiefeltern so ausführlich berichtet, ist eine echte Seltenheit. Reinhold Beckmann packt die Gelegenheit beim Schopf, als er von seiner sterbenden Mutter dann die Feldpostbriefe der Brüder erhält. Diese tragischen Zeugnisse des unsinnigen Sterbens einer ganzen Generation sind kaum zu ertragen. Furchtbar sind die Gewissheiten wie die Ungewissheiten.

Beckmann startet mit dem Schreiben zwei Tage vor Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Auf Seite 208 wird in einer Divisionschronik (Alfons‘ 60. Infanteriedivision) von dem Schrecken berichtet, „dass die russische Führung keinerlei Scheu vor den größten Menschenopfern hat. (…) Der Wert eines Menschen spielt nicht die geringste Rolle, …“ Ich sehe beim derzeitigen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, keinerlei Unterschiede zur stalinistischen Einstellung im Zweiten Weltkrieg. Russland hat eben immer noch ein riesiges Potential an „Menschenmaterial“, wenn die Waffen nicht mehr reichen, schicken sie eben noch mehr Soldaten. Dieses Wissen ist entsetzlich. In seiner Jugend war Beckmann Wehrdienstverweigerer, leider schreibt er nicht, wie er jetzt angesichts dieses nun schon 1 ½ Jahre dauernden brutalen Kriegs zum Pazifismus steht.

Noch einige Bemerkungen zu Schutzumschlag und Typographie. Der Umschlag im schlichten Grau, die Fotos prägend für das Buch. Hier sieht man sie sofort, die Aenne und ihre vier Brüder, Briefe dezent im Hintergrund. Die Rückseite ergreifend mit dem Mutter-und-Sohn-Foto, die Texte gut lesbar. Innen beginnt das Buch mit einem Vorsatz, der Abbildungen der Briefe und Briefumschläge als Collage zeigt, der Nachsatz ist ähnlich gestaltet. Beides nicht schwarz-weiß, sondern in Farbe. Sehr ansprechend, guter Ein- und Ausstieg. Der Buchblock in einem leicht cremefarbigen Papier, das mir wesentlich besser gefällt, als es bei strahlendem Weiß der Fall wäre. Das rote Kapitalband korrespondiert gut mit der teilweise roten Schrift auf dem Umschlag. Ein rotes Lesebändchen wäre ein Sahnehäubchen. Schrift und Satzspiegel sehr klassisch gediegen, was mir besonders auffiel, war die Registerhaltung, alle Zeilen im Schön- und Widerdruck exakt ausgerichtet. Die filigrane Grundschrift für mich als Brillenträger gerade groß genug, den kursiven Text der Briefe und Zitate empfand ich jedoch als zu klein. Ein Punkt mehr für diese Abschnitte hätte bei gleichem Durchschuss auch die Registerhaltung nicht beeinflusst, das Lesen aber komfortabler gemacht. Etwas störend empfand ich das Durchscheinen der im Text gestreuten Fotos, auch der Text scheint etwas durch. Etwas dickeres Papier würde das verhindern, aber das Buch auch dicker und schwerer, wahrscheinlich auch teurer machen. Also aus meiner Sicht ein guter Kompromiss. Der Extrafototeil auf mattem Kunstdruckpapier wiederum passt sehr gut; es ist sehr berührend, die Menschen zu sehen, von denen so intensiv erzählt wird.

Fazit: Beckmann macht aus der Geschichte seiner Mutter und den Briefen ein absolut faszinierendes Buch, es liest sich wunderbar, der Schreibstil hat nichts „Journalistisches“, es ist wie ein Roman, der mit Briefen und historischen Informationen (die überhaupt nicht trocken daherkommen) erweitert wird. Ich empfinde dieses Buch als eine große Bereicherung und als ein absolutes Antikriegsbuch, das gut neben Remarques „Im Westen nichts Neues“ seinen Platz finden kann. Mir hat die Art des Schreibens sehr gefallen. Das Lied für die vier Brüder setzt einen emotionalen Schlusspunkt, man sollte es sich unbedingt anhören. Das schön gestaltete Buch verdient zudem mindestens einen der von mir vergebenen fünf Sterne.

Absolute Leseempfehlung!

***** 5 Sterne
25.8.23

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