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Veröffentlicht am 20.11.2023

Feminismus mal anders - so gut

Who Cares!
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Mirna Funk hält nichts von Quoten oder anderen Safe Spaces, sondern folgt in ihrer Denke eher dem altbekannten Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied!" Denn tatsächlich ist es so, dass Frauen von der ...

Mirna Funk hält nichts von Quoten oder anderen Safe Spaces, sondern folgt in ihrer Denke eher dem altbekannten Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied!" Denn tatsächlich ist es so, dass Frauen von der Gesetzgebung her die gleichen Rechte wie Männer haben. Frau muss diese Rechte nur ausleben. Klar ist das anstrengend und nicht immer nur schön, aber es lohnt sich, so ihr Tenor. Dabei besteht sie nicht darauf, dass nun jede Frau zwingend Karriere machen und möglichst viel Geld verdienen soll. Sie besteht lediglich darauf, dass Frau bewusste Entscheidungen trifft und diese dann auch selbst verantwortet.

In sechs Kapiteln, namentlich Karriere, Liebe, Sex, Geld, Kinder und Körper, reflektiert die Autorin eigene Erlebnisse, Fehlentscheidungen sowie Erfolge. Sie teilt ihre Erfahrungen und zeigt, wie man mit dem richtigen Mindset unabhängig durchs Leben geht. Ob das skizzierte Mindset wirklich allgemeingültig ist, kann ich nicht sagen, ich selbst folge der Argumentationskette von Mirna Funk ohne Ausnahme. Gefallen hat mir zudem ihr populärwissenschaftlicher Ansatz, der die intensiv recherchierten Sachlage in einem lockeren mit Beispielen unterlegten Ton präsentiert. So entsteht eine unterhaltsame Auseinandersetzung, obwohl die Autorin an mancher Stelle ganz schön hart mit der Damenwelt ins Gericht geht.

Am besten hat mir diese Passage ab Seite 105 gefallen: „Wir [Frauen] sind stark. Wir besitzen eigene, vom Mann und seinen Erwartungen an uns völlig getrennte, Willenskräfte und Handlungsspielräume. […] Wir sind autonome Subjekte, die selbst für ihr Glück sorgen und ihr Leben so gestalten, wie wir es für richtig halten, egal, was die „anderen“, also die Einzelteile einer Gesellschaft, von uns denken mögen. […] Die Paranoia, der andere wolle uns etwas Böses, würde uns bewerten, verhindere aktiv das eigene Glück, ist einem infantilen Narzissmus geschuldet, der die eigene Person ins Zentrum der Welt der anderen rückt, obwohl die anderen uns dort niemals verorten würden.“

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Veröffentlicht am 28.10.2023

Karrierefrau - Mutter - Nightbitch

Nightbitch
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Ich bin schon länger davon überzeugt, dass Frauen zwar zu Müttern werden können, dass eine Mutter allerdings nie wieder nur Frau sein kann. In diesem Kosmos bewegt sich der unvergleichliche Roman von Rachel ...

Ich bin schon länger davon überzeugt, dass Frauen zwar zu Müttern werden können, dass eine Mutter allerdings nie wieder nur Frau sein kann. In diesem Kosmos bewegt sich der unvergleichliche Roman von Rachel Yoder, der sich mit dem Schicksal einer Galeristin auseinandersetzt, die ihren aufregenden Beruf gegen den wenig wertgeschätzten Job der Vollzeitmutter eingetauscht hat. Die Autorin skizziert die Frustration der Mutter hinsichtlich der eigenen Unzulänglichkeiten sowie die kleinen fiesen Störfaktoren zwischen Mutter und Vater, die sich im Laufe der Zeit zu einem riesigen Wutberg auftürmen. Wer, von unendlicher Müdigkeit gequält, schon mal ganz kurz daran gedacht hat, seinem schnarchenden Ehemann ein Kissen ins Gesicht zu drücken, weiß, welches Maß an Wut hier gemeint ist.

Als Betroffene mit etwas Abstand zur letzten Elternzeit kann ich mich köstlich über dieses teilweise groteske Meisterwerk amüsieren, denn die Gedanken der Mutter sind echt, gegenüber anderen Müttern, ob sie nun parallel zur Kinderbetreuung arbeiten oder Vollzeitmütter sind, sowie gegenüber dem Vater des eigenen Kindes. Es ist erstaunlich, welche Nuancen von Hass und Neid Liebe vorübergehend annehmen kann. Unterstützt wird die Komik des Romans durch messerscharfe Formulierungen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, regelrecht unerhört sind.

Die Verwandlung der Mutter in einen Hund, in Nightbitch, steht in meiner Interpretation für das Wilde und Ursprüngliche der Mutterschaft. Die von Nightbitch gerissenen und zu Tode gespielten kleinen Tiere symbolisieren den Schmerz, den Verzicht und all die Sorgen, die das Muttersein mit sich bringt. Obwohl die Nightbitch-Sessions von Gewalt dominiert sind, empfinde ich einen unerklärlich hohen Reiz am Verbotenen.

Erstaunlich ist zudem, dass der Roman bezogen auf die Hauptfiguren auf richtige Namen verzichtet. Mutter, Vater und Sohn sind Bezeichnung genug. Trotzdem ist mir die Mutter bzw. Nightbitch schnell ans Herz gewachsen. Ihr Blick auf das Leben und ihr Kampfgeist haben mich sofort angesprochen. Zwischen den Zeilen findet man die Hemmnisse der Emanzipation, deren Begründung in den unterschiedlichen Erziehungsansätzen für Jungen und Mädchen liegen mag. Es ist ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

Für mich war Nightbitch ein bitterböses Lesefest, das mich maximal angemacht hat.

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Veröffentlicht am 20.10.2023

Aus Versehen war ganz viel Liebe dabei, verdammt schön

Jenny | Der große Frauen- und Emanzipationsroman von Fanny Lewald | Reclams Klassikerinnen
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Erwartet hatte ich einen Roman über jüdische Identität in einer christlichen Welt sowie über feministische Bestrebungen in einer patriarchischen Welt. Da es sich um eine Klassikerin handelt, hatte ich ...

Erwartet hatte ich einen Roman über jüdische Identität in einer christlichen Welt sowie über feministische Bestrebungen in einer patriarchischen Welt. Da es sich um eine Klassikerin handelt, hatte ich einen gehörigen Respekt vor Fanny Lewald stilistischer Umsetzung. Über meine Erwartungshaltung hinaus wurde ich positiv überrascht von der mich geradezu überschwemmenden Liebe, die dieser klassische Roman ebenfalls mitbringt. Dabei mag ich eigentlich gar keine Liebesromane.

Doch Sätze aus männlichen Gedanken wie, „Heute, nachdem er sie zwei Tage nicht gesehen, in denen er unaufhörlich an sie gedacht und die heiße Sehnsucht empfunden hatte, heute schien sie ihm schöner und begehrenswerter als je! […] Mit diesem Gedanken hingen seine Augen an ihr, als ihr Blick ihn traf, und das selige Entzücken in ihren Zügen, die glühende Röte, die ihr Gesicht urplötzlich überflogen, gaben ihm eine Antwort, die ihm das Herz aufwallen machte.“, katapultieren auch mich in die erste unaussprechliche Liebe zurück, mit Herzklopfen bis zum Hals, schmachtenden Blicken und geröteten Wangen.

Obwohl ich von der Liebesgeschichte zwischen Jenny und Gustav regelrecht mitgerissen wurde, so lag mein Fokus dennoch eher auf dem Alltagsleben der Juden im 19. Jahrhundert und darüberhinaus natürlich, und wahrscheinlich auch noch stärker, auf den ersten Zügen der Emanzipation der Frau. Speziell durch meinen angestrebten Blickwinkel auf die Geschichte war die Protagonistin Jenny besonders interessant. Aufgrund der Bildung, die ihr der Vater zugestanden hatte, hat Jenny eine Sprachgewandtheit, die ihr eine ebenbürtige Kommunikation bzw. Diskussion mit ihrem Bruder Eduard und dessen Freunden gestattet. Mit ihrem Wissen und ihrer Schlagfertigkeit verdutzt Jenny mehr als einmal ihre Gesprächspartner. Leider geht deren Wertschätzung mit einer reduzierten Wahrnehmung ihrer Weiblichkeit einher. Trotzdem begeistert mich ihr klarer Verstand, ihr Abwägen in Glaubensfragen, ihre mit der Familie abgestimmte Entscheidung, selbst wenn sie diese später zumindest teilweise bereut. Es ist ein Versuch, den eigenen Lebenszielen näher zu kommen und der Diskriminierung zu entgehen.

Aus der Riege der männlichen Figuren mochte ich ich Eduard am meisten. Die mentale Stärke, mit der er sein in Liebesdingen entbehrungsreiches Leben erträgt, ist schon erstaunlich. Er macht sein Schicksal mit sich selbst aus, ohne je so etwas wie Wut oder Enttäuschung an anderen auszulassen. Statt in Selbstmitleid zu versinken, widmet er sich der Gleichstellung seines Volkes und seiner Berufung zum Arzt.

Um das Geschwisterpaar entwirft Fanny Lewald eine vielschichtige Story mit einer zunächst schwer zu überblickenden Anzahl an Charakteren. Gemeinsame Theaterbesuche sowie Tee- und Abendgesellschaften spiegeln für mich den Zeitgeist wider. Der Roman erscheint mir als Abbild der Gesellschaft. Ihre gesellschaftskritische Auseinandersetzung kombiniert die Autorin geschickt mit einer leidenschaftlichen Liebes-und Familiengeschichte, so dass ihr Werk für unterschiedliche Interessengruppen gleichermaßen attraktiv ist. Fanny Lewald bedient sich einer himmlischen Sprache, die mich oft meine Augen schließen ließ, um ihrer wunderbaren Wortwahl nachzuspüren. Jetzt habe ich doch tatsächlich aus Versehen einen Liebesroman gelesen und bereue nichts, sondern bin einfach begeistert.

Abgerundet wird das Werk mit einem Nachwort von Mirna Funk, die im hier und heute die Damenwelt aufruft, die inzwischen vollständig gewährten Rechte auch unabhängig von Safe Spaces zu nutzen.

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Persönliche Details zum Holocaust

Gebranntes Kind sucht das Feuer
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Cordelia, die Autorin und auch Hauptperson des Romans, ist eine faszinierende Persönlichkeit. Schon als sehr kleines Kind erfährt sie Ausgrenzung und Ablehnung, bleibt die ganze Zeit aufrecht. Gebrochen ...

Cordelia, die Autorin und auch Hauptperson des Romans, ist eine faszinierende Persönlichkeit. Schon als sehr kleines Kind erfährt sie Ausgrenzung und Ablehnung, bleibt die ganze Zeit aufrecht. Gebrochen wirkt sie erst in der Lagerwelt, weil sie immer wieder erkennt, dass ihr Überleben nur Zufällen zu verdanken ist.

Die Geschichte beginnt in der frühen Kindheit. Wir begleiten Cordelia in die Schule bis sie diese nicht mehr besuchen darf. Sie wird von ihrer Mutter unterschiedlichst untergebracht, sogar eine neue Nationalität wird angenommen, um die Deutschen Rassengesetze zu umgehen. Doch alle Mühen können das Grauen lediglich verschieben, aber leider nicht verhindern. Cordelia wird über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, überlebt nur knapp.

Der Schreibstil wirkt auf mich durch die geschaffene Distanz etwas trocken, doch anders als sonst stört mich das nicht. Es passt zum Inhalt. Hier wäre ein reißerischer Stil unangebracht. So können wir uns in selbst gewählten Schritten, in einer Geschwindigkeit, die das Gelesene verarbeiten lässt, mit dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte auseinander setzen.

Besonders bedrückend ist für mich die Tatsache, dass für die überlebenden Opfer dieser grauenhafte Krieg nie zu Ende war. In ihnen tobt er weiter, die schrecklichen Erlebnisse lassen sich nicht verdrängen und schon gar nicht vergessen. Es ist angebracht, sich das immer mal wieder bewusst zu machen.

Das Nachwort von Daniel Kehlmann macht nochmals deutlich, was die entscheidenden Fakten sind. Manche grausame Tatsache wird von der Autorin nur indirekt benannt, Kehlmann bestätigt hier meinen gewonnenen Eindruck.

Insgesamt ein lesenswerter Roman, den ich uneingeschränkt weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 24.08.2023

Beeindruckende Stimme zu Armut, Gewalt und Rassismus

Sekunden der Gnade
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Im Bosten von 1974 wohnt Mary Pat Fennessy mit ihrer Tochter Jules in Southie, einem überwiegend irisch geprägten Stadtteil. Als die Proteste gegen das Busing - schwarze Kinder sollen mit Bussen in weiße ...

Im Bosten von 1974 wohnt Mary Pat Fennessy mit ihrer Tochter Jules in Southie, einem überwiegend irisch geprägten Stadtteil. Als die Proteste gegen das Busing - schwarze Kinder sollen mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und weiße Kinder in schwarze Schulen - losgehen, kommt Jules eines Abends nicht nach Hause. In größter Sorge beginnt Mary Pat die Suche nach der Tochter. Einzige Unterstützung findet sie bei Detective Bobby Coyne, der seinerseits nach Jules fahndet, weil er glaubt, dass sie in den Mordfall an Augie Williamson verwickelt ist.

Dieser Roman ist eine Wucht. Mit Mary Pat Fennessy als tragender Figur werden die durch Gewalt und Armut gekennzeichneten Lebensumstände in Southie gekonnt rübergebracht. Sie transportiert mit ihrer derben Sprache den Sound des Viertels direkt ins Herz der Lesenden, eine Gegend mit eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten, die sich fest im Griff einer Mafia befindet, wo Schutzgeldzahlungen und Drogenhandel an der Tagesordnung sind.

Dennis Lehane hat mich regelrecht reingezogen in seinen Roman, ich konnte nicht entkommen. Obwohl Mary Pat Fennessy überhaupt nicht meinen Vorstellungen, wie man sein Leben angeht bzw. wie man sich grundsätzlich verhält, entspricht, mochte ich diese mutige Frau sehr gern. Es ist nicht mal Mitleid, was da mitschwingt, sondern vielmehr Bewunderung für einen Gerechtigkeitssinn, der von Staats wegen nicht gewährleistet wird. Selbst die damit einhergehende Gewalt, die ich im hier und jetzt ablehne, konnte ich schon irgendwie nachvollziehen. Nach meinem Empfinden werden Urinstinkte bei der Leserschaft angesprochen, wodurch das Mitfiebern mit der Protagonistin entsteht.

Der einnehmende Schreibstil des Autors lies mich den Roman locker weg lesen. Leicht ist der Roman trotzdem nicht, sondern teilweise wirklich schwer auszuhalten. Es ist eben keine reine Fiktion, sondern Teil der Wahrheit im 74er Boston. Man sollte also nicht zu zart besaitet sein. Besonders schwer zu ertragen, war für mich die Aufklärung des Titels.

Ingesamt bin ich schwer begeistert und kann den Roman nur empfehlen.

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