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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.02.2024

Eine andere Perspektive

Notizen zu einer Hinrichtung
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Ansel Packer ist Serienmörder und befindet sich in Haft. Die 12 letzten Stunden seines Lebens sind angebrochen und ihn erwartet dasselbe Schicksal, dass er seinen weiblichen Opfern angetan hat. Wie Ansel ...

Ansel Packer ist Serienmörder und befindet sich in Haft. Die 12 letzten Stunden seines Lebens sind angebrochen und ihn erwartet dasselbe Schicksal, dass er seinen weiblichen Opfern angetan hat. Wie Ansel zu diesem Monster wurde und wie er das Leben von vielen Frauen beeinflusste, erfahren wir in diesem außergewöhnlichen Buch.

„Notizen zu einer Hinrichtung“ ist kein typischer Krimi und kein typischer Thriller. Die schrecklichen Geschehnisse kommen viel mehr wie ein Roman daher und schaffen etwas, das ich auf diese Art bisher noch nicht gelesen habe.

Die Autorin kritisiert, wie die Faszination für TrueCrime vor allem die Täter:innen auf eine Empore hebt. Doch mit ihrem Buch gelingt es ihr, eine tragische Magie auf umgekehrte Weise zu kreieren. Die Geschichte des Täters Ansel wird von den Frauen Lavender, Saffy und Hazel erzählt, deren Leben auf verschiedenste Weise mit Ansels Leben verflochten ist.

Was Ansel selbst von sich Preis gibt, ist alles andere als faszinierend. Er erhofft sich durch seine wirren Schriften Verständnis für seine Taten und hält sich für besonders und überlegen. Bei mir als Lesende entwickelt sich keinerlei Sympathie für ihn, auch wenn seine ersten vier Lebensjahre definitiv entsetzlich waren.

Vor allem die brillante Kommissarin Saffy und die Ballerina Hazel schaffen es jedoch, mein Herz zu erreichen. Sie geben den Opfern ein Gesicht und eine Stimme und sorgen dafür, dass die Frauen während des gesamten Buches die Hauptrolle spielen. Es hat mich tief bewegt, wie die Morde ihr Leben gravierend prägten. Alle Dämme brachen bei mir in den Momenten, die ein alternatives Leben ohne Ansels Eingreifen aufgezeigten.

Der Schreibstil der Autorin war leicht zu lesen und unglaublich fesselnd. Ich fand das Buch durchweg spannend und aufwühlend und kann es uneingeschränkt empfehlen, wenn du einmal die andere Perspektive auf ein Verbrechen kennenlernen möchtest.

Veröffentlicht am 26.02.2024

Kann ich meiner Umlaufbahn vertrauen?

Trabant
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Eine wirre SMS des Vaters veranlasst Georg, sich ins Auto zu setzen und kurz vor der Hochzeit des besten Freundes Hals über Kopf aus Kroatien abzuhauen. Er muss das Schlimmste verhindern, die Wahrheit ...

Eine wirre SMS des Vaters veranlasst Georg, sich ins Auto zu setzen und kurz vor der Hochzeit des besten Freundes Hals über Kopf aus Kroatien abzuhauen. Er muss das Schlimmste verhindern, die Wahrheit herausfinden und seine Familie retten – daran führt kein Weg vorbei. Auf der Fahrt zurück nach Deutschland sind skurrile Gedanken und ebenso skurrile Erlebnisse Georgs ständige Begleiter.

Georg macht sich viele Sorgen – häufig unbegründet, er hasst es, im Mittelpunkt zu stehen, er hat Ängste, die sich auch körperlich äußern und er fühlt sich vor allem in der Schulzeit so fehl am Platz, dass es kaum auszuhalten ist. Was sich alles nach einem richtig seltsamen Typen anhört, hat jedoch auch eine andere Seite. Denn Georg hat eine ganz besondere Bindung zu seinen Eltern und ein unerklärliches Gespür für das, was in unserer Welt für die meisten im Verborgenen bleibt. Wenn es darauf ankommt, kann er über seinen Schatten springen und seine größte Faszination sind Himmelskörper – was auch den Titel des Buchs erklärt. Der Trabant der Erde ist der Mond und ebenso scheint Georg der Trabant seiner Eltern zu sein und umgekehrt.

Im Laufe der Kapitel erzählt der Autor viele lustige und rührende Stationen von Georgs Kindheit. Das gelingt ihm mit seiner bildhaften und lebendigen Sprache so gut, dass ich mich schnell so fühlte, als wäre ich mittendrin im Familienleben. Viele Momente zwischen Georg und seinen Eltern haben mich tief bewegt und mich oft an meine eigene Kindheit erinnert.

Auch das Ende des Romans geht richtig ans Herz und kommt mit einer unerwarteten Wendung um die Ecke. Ich habe die letzten Seiten sogar zwei Mal gelesen, weil ich dieses zarte und empfindliche Verglimmen all der Sorgen noch einmal erleben wollte.

Georg hat mich von Anfang an eingenommen und ich bin unglaublich dankbar, dass es dieses Buch gibt. Es zeigt, dass in unserer Welt meist kein Platz ist für all die sensiblen und einsamen Seelen, die sich eine Daseinsberechtigung im Orbit des Alltags so sehr wünschen würden. Ich empfehle dieses Buch allen, die Lust haben auf große Gefühle, auf das Annehmen der eigenen Schwächen - die aber genauso gut Stärken sein könnten - und auf ehrliche und ungeschönte Verletzlichkeit.

Manche Bücher treffen mitten ins Herz... Ich habe „Trabant“ gefühlt und gelebt – und in einem Rutsch durchgelesen.

Veröffentlicht am 08.04.2024

Stürmisch und mitreißend – wie das Meer!

Was das Meer verspricht
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Vida lebt auf einer kleinen Insel zusammen mit ihren Eltern. Ihr Bruder Zander hat die Insel längst verlassen. Vidas Zukunft scheint festzustehen – sie wird ihr Leben auf der Insel verbringen, das Café ...

Vida lebt auf einer kleinen Insel zusammen mit ihren Eltern. Ihr Bruder Zander hat die Insel längst verlassen. Vidas Zukunft scheint festzustehen – sie wird ihr Leben auf der Insel verbringen, das Café ihrer Eltern übernehmen und Jannis heiraten.

Ein feenhaftes, ganz und gar unwirkliches Wesen zieht auf die Insel und bringt Vidas Pläne durcheinander. Das Wesen heißt Marie und alles an ihr scheint übernatürlich und von unbegreiflicher Grazie und Schönheit zu sein. Vida ist hin- und hergerissen zwischen der gewohnten Sicherheit und Marie, die eine völlig fremde und so aufregende Form der Zukunft sein könnte.

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Wow! Was für eine Achterbahnfahrt! Das Feuer, das Marie in Vida entfacht, entfachte dieser Roman in mir. Die starken Gefühle, die Vida erlebt, waren für mich auf beeindruckende Weise nachzuempfinden. Gänsehaut und Herzklopfen, Euphorie und Faszination, Schmerz und Leid – wie das alles in knapp 300 Buchseiten passt, ist kaum zu glauben. Doch ich habe es zusammen mit Vida durchgemacht, und muss mich emotional nun erst einmal davon erholen.

Ich liebe es, wenn geschriebene Worte so ein Feuerwerk an Empfindungen auslösen können! Auch wenn ich Vidas Verhalten nicht immer richtig fand und wenn ich ihren Gedanken nicht immer zustimmen konnte, war es dennoch beeindruckend, auf diese Weise mit ihr einzutauchen in ihre Welt. Mehr möchte ich zur genauen Handlung gar nicht verraten, da gerade diese den Roman so kraftvoll und dynamisch zum Leben erweckt.

Alexandra Blöchl gelingt es mit einem fesselnden und mitreißenden Sprachstil, eine einzigartige Geschichte von jungen Menschen mit ungewisser Zukunft zu erzählen – mit dem gewissen Etwas. Und ich kann mich kaum erinnern, wann ich einen Roman so körperlich miterlebt habe.

Ganz besonders war auch die Rolle des Meers, die die Stimmung der Figuren miterzählt hat – mal stürmisch, mal sanft, mal bedrohlich, mal kristallklar. Eine Empfehlung für alle, die emotionale und ausdrucksstarke Geschichten mögen, die Bücher gerne in einem Rutsch durchlesen und natürlich für alle, die das Meer lieben.

Veröffentlicht am 08.04.2024

Fühlen, wahrnehmen, anerkennen, wertschätzen

Mit den Jahren
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Eva und Lukas führen mit ihren beiden Kindern ein klassisches Familienleben - zumindest von außen betrachtet. Als Lehrerin und Künstler unterscheidet sich ihr beruflicher Alltag jedoch erheblich. Und mit ...

Eva und Lukas führen mit ihren beiden Kindern ein klassisches Familienleben - zumindest von außen betrachtet. Als Lehrerin und Künstler unterscheidet sich ihr beruflicher Alltag jedoch erheblich. Und mit den Jahren finden Unterschiede und Kontraste auch einen Weg in das Privatleben der beiden.

Jette ist Single, einsam und steht auf Frauen - eigentlich. Denn als sie Lukas immer wieder in der gemeinsamen Stammkneipe über den Weg läuft, kommt sie ihm bald näher als erwartet.

Alle drei sind irgendwie unzufrieden mit der aktuellen Situation und begeben sich auf dünnes Eis, bis der Zufall oder das Schicksal (wer weiß das schon so genau) ihr Leben komplett durcheinander bringt.


Wie gelingt es, sich als Paar nach 20 Jahren Beziehung und zwei gemeinsamen Kindern noch so zu lieben und zu schätzen, wie am ersten Tag? Warum schauen sich Menschen immer nach etwas Besserem um? Woher kommt die Frage an sich selbst, wie ein alternatives Leben ausgesehen hätte? Will man das, wonach man sich sehnt, immer noch genauso sehr, wenn man es schließlich bekommt?

Ich habe diese Fragen geliebt, die Janna Steenfatt während des gesamten Romans immer wieder einfließen lässt. Eva, Lukas und Jette stoßen auf diese Fragen und müssen Antworten finden und irgendwie stellen wir uns doch alle im Laufe unseres Lebens hin und wieder ähnliche Fragen.

Von außen betrachtet war für mich alles ganz klar. Ist es dann im eigenen Leben nicht auch? Die Autorin schafft es mit einer angenehmen und lebensnahen Sprache, die tiefen inneren Zerwürfnisse der drei Figuren aufzuzeigen. Das Seelenleben lag so offen dar, dass wir es als Lesende förmlich greifen konnten - das Verlangen, die Hintergründe, die Träume und Ängste.

Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, dass die beiden eigentlich so wunderbar zusammen passen, gerade wegen der Kontraste. Und schließlich ist es Jette, die die besten Seiten von Eva und Lukas wieder zurück ans Licht holt, sodass sie einander endlich wieder sehen können. Sehen im Sinne von fühlen, wahrnehmen, anerkennen, wertschätzen.

Es passiert ansonsten nicht wahnsinnig viel auf den 352 Seiten, aber es war genau meins. So viele Emotionen, so viel Sehnsucht und Schmerz - so viel reflektieren, überdenken, resignieren und neu beginnen. Große Empfehlung für alle, die das Ergründen lieben!

Veröffentlicht am 24.03.2024

Kraftvoll und intensiv

Yellowface
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Athena und June, Freundinnen und Autorinnen. Beide sind jung, beide haben ihren Debütroman veröffentlicht - eine ist erfolgreich, die andere nicht. Als die eine bei einem tragischen Unfall stirbt, ist ...

Athena und June, Freundinnen und Autorinnen. Beide sind jung, beide haben ihren Debütroman veröffentlicht - eine ist erfolgreich, die andere nicht. Als die eine bei einem tragischen Unfall stirbt, ist die andere dabei. Und plötzlich ist sie da, die Gelegenheit. Die Chance, in die Haut der anderen zu schlüpfen, ebenso erfolgreich und beneidenswert zu werden. Aus der Gelegenheit wird die Wirklichkeit - doch um welchen Preis?

Es gleicht der Kraft eines Strudels, den Gedanken und Handlungen von June zu folgen. Ständig werde ich umher gewirbelt, wenn sich die Ereignisse überschlagen und trotzdem kann ich mich aus dem Sog der Worte nicht befreien. Und nie war ich ganz sicher, ob June die Wahrheit sagt oder ob sie die Realität zurecht biegt, um alles besser ertragen zu können, was nach Athena’s Tod geschieht.

Rebecca F. Kuang schreibt fesselnd und faszinierend von einer Geschichte, die eigentlich vollkommen absurd erscheint. Denn natürlich könnte man keinesfalls diejenige sein, die sich in Lügen verstrickt und plötzlich in einer Parallelwelt aufwacht. Könnte man wirklich nicht?

Es ist beängstigend, wie schnell aus einer unüberlegten Handlung, die im Schock und ohne reifliche Überlegung geschieht, eine ganze Lawine losgetreten wird. Ständig werden neue Entscheidungen von June verlangt, doch hat sie überhaupt eine Wahl? Sie ist eine Lügnerin und stiehlt nicht nur ein Lebenswerk, sondern gleich eine ganze Identität. Und trotzdem wünsche ich ihr manchmal, dass sie damit durchkommt. Doch in der nächsten Minute finde ich ihr Verhalten einfach nur abstoßend.

Dass es der Autorin gelingt, June‘s Zerrissenheit auch auf mich als Leserin zu spiegeln, gefällt mir unglaublich gut.

Ich habe „Yellowface“ super gern gelesen, habe mich von der kraftvollen Handlung fesseln lassen, habe viel gelernt über die Welt der Autor:innen und der Verlage und habe gestaunt über die Macht der sozialen Medien. Denn obwohl wir heute alle wissen, was ein Shitstorm ist, können wir die echte Gewalt, die davon ausgeht, wahrscheinlich nur erahnen.

Ob der Hype um dieses Buch gerechtfertigt ist, solltest du selbst herausfinden. Ich war sehr überzeugt von der Geschwindigkeit und der Intensität von „Yellowface“ und von der skurrilen Idee, die diesem Roman zugrunde liegt. Ein halbes Pünktchen ziehe ich ab, weil ich mir eventuell einen noch stärkeren Paukenschlag als Ende gewünscht hätte. Ansonsten bin ich rundum happy und habe jede Zeile genossen.

4,5/5 ★