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Veröffentlicht am 26.03.2023

Eine simpel gestrickte American-Dream-Geschichte, die lediglich Unterhaltungspotenzial besitzt.

Der Junge, der Träume schenkte
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Ceta stammt aus dem Süden Italiens, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Als 13-Jährige wird sie brutal vergewaltigt und verlässt nur kurz darauf mit ihrem Sohn Natale ihre Heimat. Nachdem sie ...

Ceta stammt aus dem Süden Italiens, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Als 13-Jährige wird sie brutal vergewaltigt und verlässt nur kurz darauf mit ihrem Sohn Natale ihre Heimat. Nachdem sie auf dem Schiff mehrmals vom Kapitän missbraucht wird, landet sie in New York und umgehend in einem Bordell. Doch sie versucht, ihrem Sohn so viel wie möglich an Liebe zu schenken und hofft auf eine bessere Zukunft für ihn. Der Alltag in der Lower East Side Anfang des 20. Jhd. war bestimmt von Gewalt, Armut und Prostitution. Doch Ceta schlägt sich tapfer.
Natale, der bei der Ankunft von den Hafenbehörden den Namen Christmas, bekommen hat, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, die Straße wird sein Zuhause. Er gründet als Kind die Gang Diamond Dogs, mit der er später zur Berühmtheit werden soll. Mit seinen erfundenen Geschichten und seinem heiteren Wesen erobert er die Herzen der Bewohner.
Ruth, die Tochter eines reichen, jüdischen Industriellen, wird von Bill, einem Hausangestellten brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt. Christmas wird sie schwer verletzt finden, ihr damit das Leben retten und sich in sie verlieben.
Nach der brutalen Tat Bills, der natürlich gleich noch eine folgen wird, verzweigt sich die Handlung in drei Perspektiven.
Hauptsächlich folgen wir der Entwicklung Christmas’. Er ist ein nettes, schlaues Kerlchen mit viel Charme und Einfallsreichtum. Schnell erobert er die Herzen seiner Mitmenschen. Seinem Weg zu folgen, der nicht immer frei von Kleinkriminalität war, hat mir Spaß gemacht. Ihn habe ich sofort ins Herz geschlossen.

Im zweiten Handlungsstrang folgen wir Ruth, die an den Folgen der Vergewaltigung und Verstümmlung viele Jahre leidet. Ihr dadurch entstandenes Trauma wird sie aus der Bahn werfen. Dass es sich allerdings bei der erstbesten Gelegenheit in Luft auflöst, hatte für mich einen faden Beigeschmack.

Und dann hätten wir noch den Oberfiesling Bill, der sich recht bald nach Los Angeles absetzt, aus Angst vor der Strafverfolgung. Ich habe selten erlebt, dass ein Mensch aus dem Nichts heraus so eine dermaßen brutale Tat begeht. Nichts wird in der Geschichte vorbereitet, Di Fulvio setzt einzig auf den Schockmoment. Seine weitere Karriere ist ebenso verstörend wie brutal, dass ich an manchen Stellen von ihm angewidert war. Aber genau diese Szenen wieder und wieder zu zeigen, jede Handlung auszuschlachten, hat mir letztlich das Lesevergnügen komplett verleidet. Bliebe da noch die Strafe, die der Autor für ihn vorgesehen hat. Der Konflikt zwischen Ruth und Bill, die sich natürlich wieder begegnen, wurde als Zufall von außen gelöst. Mehr möchte ich nicht dazu sagen, da ich sonst spoilern müsste. Doch so eine Lösung ist einfallslos und unbefriedigend.

Das sind die Zutaten für diesen 800 Seiten starken historischen Roman, der sich zwar leicht lesen lässt, aber nicht immer leicht zu verkraften ist. Nach nicht mal 100 Seiten hätte ich das Buch liebend gern abgebrochen, wenn ich nicht jemandem versprochen hätte, es zu lesen. Was mich durchhalten ließ, war die Neugier, wie der Autor wohl am Ende dem Bösewicht seine gerechte Strafe zukommen lässt.

Dass das Leben damals kein Zuckerschlecken war, ist klar, doch dass Di Fulvio sich dermaßen darauf konzentriert, jeden Gewaltakt so explizit grausam darzustellen, war mir einfach to much. Quasi jede Frau wird Opfer von Übergriffen und Vergewaltigungen, die detailliert beschrieben wurden. Bis auf Bill sind alle Bösewichte eigentlich nette Typen, dass sie hin und wieder jemanden auf offener Straße erschießen, Schutzgeld erpressen oder jemanden brutal zusammenschlagen, ist ja nicht so schlimm.

Damit geraten die Figuren zu Stereotypen, die wenig Neues zu bieten haben. Man bekommt den Eindruck, jede weibliche Auswanderin wird zu einer Prostituierten, die sich in einen Kleinganoven verliebt. Armer Junge verliebt sich in reiches Mädchen, sie werden getrennt, finden sich aber wieder, Happyend. Die Handlung war also von Anfang an vorhersehbar, was mich aber weniger gestört hat. Sein Erzählstil ist genretypisch leicht zu lesen, wird mit vielen blumigen Details ausgeschmückt und kontrastiert mit den Gewaltszenen, die es in der Form nicht gebraucht hätte.
Auch Cover und Klappentext spiegeln für mich nicht das wieder, was der Leser am Ende bekommt. Es geht nicht um einen etwas fünfjährigen Jungen, wie abgebildet. Der Klappetext bezieht sich mehr auf Cetas Traum von einer besseren Welt in den USA.

Mir fällt es schwer zu sagen, wem ich den Roman empfehlen würde. Den typischen Lesern historischer Romane wird er zu brutal sein. Andererseits ist er zu seicht und klischeehaft. Etwas mehr Niveau wie »Die Wanderhure« hatte er aber durchaus. Ich konnte den Zeitgeist der frühen 20er Jahre spüren. Den Siegeszug der neuen Technik wie Kino und Radio waren für mich glaubhaft und interessant dargestellt. Doch von einer authentischen Schilderung der Zeit war die Geschichte weit entfernt, allein wegen der Figuren. Insgesamt wird mir auch nichts Neues erzählt, was nicht schon tausend Mal irgendwo benutzt wurde.

Fazit: 800 Seiten mit einer fesselnden Handlung zu füllen, ist nicht leicht. Zu viele Nebenschauplätze werden eröffnet, die lediglich schmückendes Beiwerk sind. Aufgrund der Brutalitäten wird es viele Leser des Genres abschrecken. In Zukunft werde ich mich guten Filmen wie »Es war einmal in Amerika« oder »Gangs of New York« widmen, die mehr Authentizität haben und nicht ganz so verkitscht sind.
Wie immer, dies ist meine persönliche Meinung.

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Mühlheide vs. Kasachstan

Sibir
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Leilas Vater erkrankt langsam an Demenz und kann sich nur noch an wenig erinnern. Jetzt ist es an ihr, seine und ihre Geschichte aufzuschreiben.
Josef Ambacher ist 10 Jahre alt, als er mit seiner Familie ...

Leilas Vater erkrankt langsam an Demenz und kann sich nur noch an wenig erinnern. Jetzt ist es an ihr, seine und ihre Geschichte aufzuschreiben.
Josef Ambacher ist 10 Jahre alt, als er mit seiner Familie aus dem Wartheland nach Kasachstan zwangsumgesiedelt wird. Unterwegs stirbt nicht nur sein kleiner Bruder, auch seine Mutter verschwindet spurlos während eines Schneesturms. Das Dorf Nowa Karlowka, in dem sie sich nicht mit anderen Deutschen treffen dürfen, ihre Sprache nicht mehr sprechen dürfen, ist ein zusammengewürfelter Haufen verschiedener Nationen, die in der Steppe ums Überleben kämpfen. Immer wieder flieht Josef zu seinem Freund Tachawi, der in einem kasachischen Dorf lebt. Um seine Sprache nicht zu vergessen, sammelt er Wörter auf kleinen Tontafeln, deutsche, russische und kasachische.
Auf der 2. Handlungsebene folgen wir Leila 1990/91, wo ihre Familie mit anderen Aussiedlern am Stadtrand lebt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion strömen weitere deutsche Aussiedler in ihren Ort, die sich bevorzugt bei den Ambachers einfinden. Josef fühlt sich von seiner Vergangenheit eingeholt und Leila steht zwischen den Welten und versucht zu vermitteln.

Die Autorin hat mich emotional erreicht mit den vielen kleinen Szenen in Kasachstan, die mir zeigten, was Josef für ein Kind war, wie groß die Entbehrungen und der Hunger waren. Als zum Beispiel Josef auf der Zugfahrt Strohsterne bastelt, sie hinauswirft, um später den Heimweg wieder zu finden. Welches Unrecht die Sowjets auch den Kasachen angetan haben, dass man schon für Kleinigkeiten in einem gefürchteten Gulag landen konnte. Hier hatte ich tatsächlich das Gefühl, Erlebtes lebendig erzählt zu bekommen. Was wäre das für eine großartige Geschichte geworden.

Vertreibung, Gefangenschaft, Rückkehr in ein Deutschland, das aber keine Heimat ist. Die gesellschaftliche Problematik, wenn Aussiedler lieber unter sich bleiben, die Ausgrenzung von den »Normalos«, wie Leila es nennt. Da wir aber die 2. Zeitebene aus Leilas kindlicher Ich-Perspektive mit zu vielen Alltäglichkeiten erleben, hat mich die Autorin nicht ganz erreichen können. Für mich war Josef die interessantere Figur, die aber unter Leilas Schilderungen unterging. Da wir von beiden auch jeweils nur ein Jahr erleben, hinterließ bei mir den Eindruck einer unvollendeten Skizze. Josefs Kindheitsschilderung wird zudem mitten im Kapitel abgebrochen mit einem kurzen Abschnitt, dass aufgrund der Verhandlungen von Adenauer und Chruschtschow die deutschen Gefangenen das Land nun verlasse dürfen.

Sprachlich war es gut lesbar, so dass ich mich gut unterhalten fühlte. Sicher hat die Autorin auch gut recherchiert und einige biografische Details in die Geschichte einfließen lassen, was zu vermuten ist, wenn man sich ihre Vita ansieht. Alles in allem ein Buch, das bestimmt viele Leser:innen begeistern wird. Für mein Gefühl hätten beide Geschichten als eigenständiges Buch eine tiefere Wirkung gehabt. Hier ist viel Potenzial auf der Strecke geblieben, viel nur an der Oberfläche.

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Zu konstruiert, zu gewollt

Der Wind kennt meinen Namen
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Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. ...

Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. Er wird seine Eltern nie wieder sehen. 80 Jahre später flüchtet die 7-jährige Anita mit ihrer Mutter aus Angst vor der Gewalt in El Salvador in die USA. Unter der Regierung Trumps werden dort Kinder von ihren Eltern getrennt. Wie viele andere landet Anita in einem Lager, immer in der Hoffnung, ihre Mutter wiederzusehen.

Der Klappentext des Buches ist noch wesentlich blumiger und spektakulärer und es hätte eine emotionale Geschichte werden können. Hätte. Leider hat Allende es nicht geschafft, Emotionen bei mir zu wecken. Fast berichtartig jagt sie durch die Jahrzehnte, reiht auf eine bemühte Art Ereignis an Ereignis, streut alltägliche Nebensächlichkeiten ein und wenig glaubwürdige Dialoge. Alles wirkt reichlich konstruiert, um bei dem von ihr angestrebten Ende anzukommen. Umständliche Konjunktiv- und Passivkonstruktionen tun ihr Bestes, die Distanz zum Leser noch zu vergrößern. Es wird zusammengerafft, was nur geht. Für mich fühlte sich alles an, als würde ich Ähnliches bereits aus den Nachrichten oder aus Dokus kennen.

Zu viele Informationen werden vermittelt und ersticken die eh schon karge Handlung. Sie verliert sich in Einrichtungsbeschreibungen und reiht zahlreiche Menüfolgen aneinander, was leider keine Atmosphäre schafft, ja noch nicht mal authentisch wirkt, da oft um spanische Worte handelt, die übersetzt auch Bahnhof bedeuten können.

Zu viele schablonenhafte Figuren, die am Ende unwichtig sind, eine verschüttete Geschichte, die wahrscheinlich rührender gewesen wäre, hätte sie sich darauf konzentriert. Sie berichtet, kommentiert, streut Infos ein, um Zusammenhänge zu erklären, anstatt uns diese wirklich dramatischen Erlebnisse fühlen zu lassen. Und am Ende ist es einfach vorbei. Bisschen zu fix.

Ich denke, sie hat hier ein großes Anliegen gehabt, was vom Grundgedanken eine großartige Geschichte hätte werden können. Aber es fehlte an Tiefe, an Allendes magischem Realismus, kurzum, ich bin enttäuscht. Im Übrigen auch von der Übersetzung, die Anitas kindliche Gedanken in ein nacktes Schriftdeutsch übertragen hat, was völlig unglaubwürdig klingt.

Ich habe im letzten Jahr so viele großartige Bücher zum Thema Flucht gelesen, die mich berührt haben, deren Schicksale glaubhaft waren und die mir die vielen Zusammenhänge deutlich gemacht haben. Mag sein, dass es daran lag, dass mich Allende nicht erreichen konnte. Ich denke aber, sie wird ihre Leserinnen finden, die die nicht ganz so im Thema sind wie ich.

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Veröffentlicht am 18.11.2023

Immer wieder das Gleiche

Die Einladung
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Wie macht Fitzek das, dass am Ende Tausende schreien: Wow, was für ein toller Psychothriller? Nun ja, ganz einfach. Er schreibt schnell, wechselt rasant die Zeiten und haut einem die Wendungen nur so um ...

Wie macht Fitzek das, dass am Ende Tausende schreien: Wow, was für ein toller Psychothriller? Nun ja, ganz einfach. Er schreibt schnell, wechselt rasant die Zeiten und haut einem die Wendungen nur so um die Ohren, dass es klingelt. Wenn man dann am Ende ganz kirre und der Meinung ist, das hat man so nicht kommen sehen, kann man schnell annehmen, man hätte einen mega guten Thriller gelesen.
Doch Fitzek manipuliert, konstruiert und stiftet sinnlos Verwirrung. Aber einem Ruf gerecht zu werden und noch einen drauf zu setzen, wird mit der Zeit immer schwieriger, wie mir scheint.
Hier nun die Zutaten zum neusten Werk. Man nehme den überstrapaziertesten Horrorplot eines seichten C-Movies schlechthin, verfrachte alle stereotypen Figuren in eine einsame Hütte, irgendwo in den eingeschneiten Bergen ohne Kontakt zur Außenwelt und kille einen nach dem andern. Vorher und hinterher schiebe man am besten ganz viele Erklärungen rein, springe wahllos in der Zeit herum, dass der Leser möglichst schnell den Überblick verliert. Und damit ein waschechter Fitzek draus werde, mixe man das Ende mit so viel Twists, wie nur irgendwie möglich, schließlich ist er ja der Meister der Wendungen. Ach ja, und nicht vergessen, immer wieder alles zu revidieren, was vorher vermeintlich geschah.
Um diesem abgedroschenen Plot einen modernen Anstrich zu verleihen, reicht es nun mal nicht, ihn als Escape-Game zu bezeichnen. Hier hätte ich von einem Autor, der sein Handwerk versteht, neue Ideen erwartet, doch er hat das Potenzial unter der Schneedecke liegen lassen, genau wie seine Leichen.

Natürlich hangelt sich Fitzek wieder an seinem Lieblingsthema entlang, mit dem sich alles und nichts erklären lässt – Wahrnehmungsstörungen. Genauso wie die Protagonistin Marla Realität und Einbildung nicht mehr unterscheiden kann, ging es mir als Leserin auch bald. Teils hanebüchene, zusammenhangslose Behauptungen sollen bitte was genau jetzt erklären? Na ja, lieber Leser, friss oder stirb oder erkenne die Genialität des Schriftstellers an.

Woran es hauptsächlich mangelt, ist eine gute, logische Storyline, der man als Leser*in folgen kann, die nachvollziehbar ist. Stattdessen klatscht er uns einen blutigen Schocker nach dem anderen hin, die allesamt aus dem Nichts kommen. Die Auflösung am Ende hätte auch irgendeine andere sein können. Mit der eigentlichen Geschichte hatte sie nur wenig zu tun. Für mich fühlte sich das an, wie eine billige Zaubershow, in der die Wendungen rasend schnell aus dem Hut gezogen werden, dass man als Zuschauer nicht mehr folgen kann. Das mag zwar bei vielen »Ohs« und »Ahs« hervorrufen, ich kam mir leider nur verschaukelt vor.

Tja, das war’s dann wohl mit unserer jahrelangen Beziehung. Erfolgreich zu sein bedeutet wahrscheinlich nur, den Markt mit massentauglichen, schablonierten Konzepten zu bedienen. Keine Überraschungen mehr, keine innovativen Plots, keine neuen Ideen. Ich bin froh, dass Fitzek kein Koch ist. Hinterher hätte ich zwar ein Völlegefühl, könnte aber nicht mehr sagen, wonach es geschmeckt hat, weil zu viel Salz in der Suppe war.

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Veröffentlicht am 23.09.2023

Hat mich verwirrt

Sinkende Sterne
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Der namensgleiche Protagonist in Thomas Hettches neuem Buch hat seinen Job als Hochschullehrer verloren und macht sich auf ins Wallis, wo das Haus seiner Kindheit steht. Erinnerungen und Vergänglichkeit ...

Der namensgleiche Protagonist in Thomas Hettches neuem Buch hat seinen Job als Hochschullehrer verloren und macht sich auf ins Wallis, wo das Haus seiner Kindheit steht. Erinnerungen und Vergänglichkeit erwarten ihn im Chalet seiner verstorbenen Eltern. Doch im Ort ist man ihm nicht wohlgesonnen. Als Deutscher habe er kein Bleiberecht mehr, sein Haus würde in einer Kürze versteigert und er müsse das Land verlassen.
Irgendwie ist alles noch so, wie es war, aber eigentlich ist doch nichts mehr so. Vor einiger Zeit hat es einen massiven Bergrutsch gegeben, der die Rhone zu einem See angestaut hat und dabei etliche Dörfer versenkt hat. Alte Machtstrukturen haben sich wieder etabliert, nachdem sich das deutschsprachige Wallis vom französischsprachigen separiert hat.
Doch Hettche bleibt. Vielleicht ist auch seine alte Jugendliebe Marietta der Grund. Eine der wenigen, die geblieben ist, und nun in alter Tradition das Vieh im Sommer in die Berge treibt. Ihr folgt er für ein paar Wochen in die karge Welt der Hochalpen, wo er ihr wieder näherkommt, bei der Käserei hilft und Serafine, Mariettas Tochter, ihm Mythen der Berge erzählt.

»Und wenn der Gletscher ächzt und stöhnt, seien das die Klagelaute der Armen Seelen. Sie sind eingefroren im spiegelhellen Eis, wandern durch die blau- und grünschimmernden Gänge und Spalten oder versammeln sich in den weitbogigen Gewölben. So zahlreich sind die Armen Seelen im eisigen Kerker, man kann keinen Fuß auf den Gletscher setzen, ohne ihnen aufzutreten.« S.90

Hettche hat mich mit seiner bildgewaltigen Sprache und kraftvollen Naturbeschreibungen durch die erste Hälfte des Buches getragen. Auch seine Erinnerungen an seine Gespräche mit seinem letzten Studenten Dschamil über die Odyssee und Sindbad mochte ich gern folgen. Etwas abgefahrener war da schon das Treffen mit einer etwas seltsamen Bischöfin. Aber dann hat er mich langsam verloren.

Auch wenn ich der Suche und dem Irren des Protagonisten oft folgen konnte, seine Zweifel an der immer schneller werdenden Zeit, die alles infrage stellt, verstehen konnte, verlor sich seine anfängliche Handlung in ausschweifenden, essayartigen Reflexionen. Immer wieder bezugnehmend auf Literatur und Kunst hätte ich wahrscheinlich unzählige Werke lesen müssen, um die Essenz dahinter zu verstehen. Ich fand es äußerst mühsam, seinen Gedanken und Ausführungen zu folgen, und habe gleichzeitig auf den Fortgang der Handlung gehofft. Doch anfänglich aufgeworfene Konflikte versanden, der Protagonist versinkt in einem Fieberwahn und schreibt lieber über Rilke.
Ich bin halt nur eine Durchschnittsleserin, und mich interessiert keine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreibprozess oder wenn er über Wittgenstein, Proust oder Lukrez doziert. Sollen sich die Literaturkritiker daran erfreuen, ich bin raus. So wurde nach anfänglicher Freude das Buch für mich leider zur Enttäuschung.

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