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Veröffentlicht am 08.09.2019

Letzte Tage eines schwierigen Patriarchen

Otto
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Die "jiddische Mamme" ist vielleicht ein klischeeüberladenes Stereotyp, aber in der überbehütenden, überfordernden, übernahen Übermutter steckt häufig auch ein Kernchen Wahrheit, schließlich sind es die ...

Die "jiddische Mamme" ist vielleicht ein klischeeüberladenes Stereotyp, aber in der überbehütenden, überfordernden, übernahen Übermutter steckt häufig auch ein Kernchen Wahrheit, schließlich sind es die Mütter, die nicht nur die Hüterinnen der Sabbatkerzen sind und die Trägerinnen der Religion im Sinne der Halacha, sondern als Mittlerinner der Tradition auch die Hüterinnen von Erinnerungen und Trauma.

In "Otto", dem mitunter gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen treibenden Roman von Dana von Suffrin geht es nur ganz am Rande um Mütter. Hier ist es Otto, der gebürtige Siebenbürger, der "jiddishe Tate", der sich ungefragt in das Leben seiner erwachsenen Töchter einmischt, der Liebe, Besuche, Präsenz, Versorgung einfordert, der zwar einerseits seit Jahren im Dauersiechtum zwischen Krankenhaus und Eigenheim hin- und herwechselt, sich aber hartnäckig gegen den Tod behauptet - vielleicht eine späte Genugtuung für einen, der in seinem Städtchen zwischen Ungarn und Rumänien entgegen aller Wahrscheinlichkeiten davon gekommen ist, der noch nicht einmal eine in den Unterarm eintätowiertte Nummer als ständige Erinnerung an die durch Massenmord zusammengeschrumpfte Familie sein eigen nennt.

Die Zahl der Verwandten ist seit dem Zweiten Weltkrieg gleichwohl überschaubar und auch die Töchter Timna und Babi spüren sie immer wieder mal, die Last, die auf den Nachgeborenen lastet, die die unerfüllten Versprechen der Ermordeten einlösen müssen. Dennoch geht in Otto nicht um die Schuldgefühle des Überlebens, sondern um die höchst lebendige Gegenwart, in der Otto dem Tod, der Krankheit und Alzheimer trotzt,

"Pro Krankenhausaufenthalt beschloss mein Vater genau einmal, fast zu sterben; vielleicht auch, um unser Pflichtbewusstsein, das sich langsam in Trägheit verwandelt hatte, zu erneuern", konstatiert die Ich-Erzählerin, die sich bemüht, den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen, und eine Familienbiografie zu verfassen. Doch ach, nicht nur wegen der Alzheimer-Erkrankung ist Ottos Geist sprunghaft, und so bleiben Mosaikstücke und eigene Erinnerungen, um den mal nervtötenden, mal liebenswerten Familienpatriarchen und die untergegangene Welt, aus der er stammte, zu beschreiben.

Er ist schon ein Charakter, dieser Otto, ein Mensch eben, wie er sicherlich bekräftigen würde. Dieser Mann vieler Länder, der ein halbes Dutzend Sprachen mehr oder weniger korrekt beherrscht und auch im Deutschen zu einigen prächtigen neuen Wortschöpfungen neigt - etwa die kaum abzuschlagende "schöne Bitte".

Ja, es ist anstrengend, einen Elternteil wie Otto zu haben, einen der ständig Grenzen verletzt, die die längst erwachsenen Kinder um das eigene Privatleben gezogen haben. Timna ist gestresst, genervt - wer kann es ihr verdenken? Und dennoch ist "Otto" eine Liebeserklärung an diesen überfordernden, überfürsorglichen, Vater und seine mal melancholischen, mal überoptimistischen Weltsichten und Weisheiten: "Das Leben ist so schwer, wenn es aufhört, und so schön, wenn es anfängt."

"Otto" strotzt vor dunklem Humor, vor Sarkasmus und liebevoller Nähe, die gerade durch die Endlichkeit des Lebens an Tiefe gewinnt.

Veröffentlicht am 25.08.2019

Liebevolles Außenseiterporträt in der schottischen Wildnis

Sal
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Sal und Peppa sind so etwas wie zeitgenössische Schwestern von Huckleberry Finn: Auch die beiden Mädchen aus Schottland wachsen auf der Schattenseite der Gesellschaft auf: Die alkohol- und drogenkranke ...

Sal und Peppa sind so etwas wie zeitgenössische Schwestern von Huckleberry Finn: Auch die beiden Mädchen aus Schottland wachsen auf der Schattenseite der Gesellschaft auf: Die alkohol- und drogenkranke Mutter liebt ihre Töchter von verschiedenen Vätern zwar, ist aber nicht in der Lage, sie wirklich zu versorgen. Dass ihr Freund die 13-jährige Sal seit Jahren missbraucht, hat sie im Alkoholnebel nicht mitbekommen. Sal ist diejenige, die Verantwortung für die kranke Mutter übernimt, den Haushalt schmeißtt, die kleine Schwester beschützt, indem sie einen Innenriegel an ihrer Tür anbringt. Doch sie weiß, es ist nur eine Frage der Zeit, dann wird der Stiefvater auch Peppa missbrauchen.

Zur Polizei will Sal nicht gehen - sie misstraut den Behörden, dem Sozialsystem, dass die Schwestern trennen und bei verschiedenen Pflegefamilien unterbringen würde. Die dunkelhäutige Peppa würde dann zu einer afrikanischen Familie kommen, fürchtet Sal, die ihre kleine Schwester über alles liebt. Da gibt es nur eins: Sie müssen fliehen.

Was für Huck Finn das Floss auf dem Missisippi ist, das ist für Sal und Peppa in Mick Kitsons Debütroman "Sal" das schottische Hochland. Die beiden sind zwar Stadtkinder, aber Sal hat die Flucht akribisch vorgeplant: Auf Youtube gibt es schließlich Informationen zu so ziemlich allem, einschließlich Überleben in der Wildnis. Die notwendige Ausrüstung ist teils geklaut, teils über Amazon bestellt, dank der geklauten Kreditkarten, die der Freund der Mutter ständig bei sich hat.

Kitson erzählt diese Geschichte von der Liebe zweier Schwestern und ihrem Kampf gegen schwierigste Umstände aus der Perspektive von Sal, einem toughen, selbstbewussten Mädchen, das sich nicht unterkriegen lässt und alles tut, um ihre kleine Schwester zu beschützen. Für junge Leserinnen ist sie so eine starke Identifikatonsfigur, auch wenn "Sal" wohl eher etwas für etwas ältere Jugendliche ist, da es doch ein paar harte Szenen gibt.

Kitson, der erst Journalist und dann Englischlehrer war, ehe er seinen ersten Roman schrieb, hat mit Sal und Peppa zwei schnoddrig-sympatische Romanheldinnen geschaffen, die ähnlich wie ihr literarischer Bruder Huck Finn außerhalb des Systems stehen, auf ihrer Autonomie beharren und auf ihrer Reise in die Wildnis auf eine unerwartete Verbündete stoßen. "Sal" ist sowohl coming of age-Story als auch liebevoll gezeichnetes Außenseiter-Porträt. Mit diesem Debüt macht Kitson neugierig auf mehr.

Veröffentlicht am 26.05.2024

Paradise lost

Nachruf aufs Paradies
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Die Datscha nahe der Grenze zu Belarus war jahre-, ja jahrzehntelang der Sehnsuchtsort von Lutz Dursthoff und seiner Frau Galja. Die heile Welt, für Galja mit der Kindheit in der Sowjetunion verbunden, ...

Die Datscha nahe der Grenze zu Belarus war jahre-, ja jahrzehntelang der Sehnsuchtsort von Lutz Dursthoff und seiner Frau Galja. Die heile Welt, für Galja mit der Kindheit in der Sowjetunion verbunden, mit langen Ferien bei der Oma, wurde das immer neu transformierte Grundstück auch für den deutschen Ehemann zum russischen Paradies mit Banja und Gemüsegarten, Besuchen der Kinder und Enkel, gemütlichem Plausch mit den Nachbarn.

Dursthoffs Buch "Nachruf aufs Paradies" war ursprünglich anders gedacht: Episoden aus dem Datschaleben für die deutschen Leben, reflektieren über das Leben zwischen zwei Welten, seit der deutsche Verlagsmensch bei einem Arbeitstausch zu Perestrojka-Zeiten in einem Moskauer Verlag seine Galja kennen und lieben lernte.

Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich das geändert. Zum einen war da die ethische Frage: Können wir, wollen wir in dieser Situation überhaupt noch nach Russland reisen? Zum anderen die schmerzliche Erkenntnis, dass mit vielen russischen Nachbarn auf dem Dorf plötzlich keine Gespräche mehr möglich sind, dass viele die staatliche Propaganda nicht hinterfragen. Da ist aber auch die Sorge um die jungen Leute im russischen Bekannten- und Verwandtenkreis: Droht ihnen die Mobilmachung, müssen sie in den Krieg?

"Nachruf aufs Paradies" wechselt immer wieder zwischen den Erinnerungen an den Aufbau dieses Paradieses, Pilzsuchen im Wald, Baden im See, ein ruhiges, entschleunigtes Leben, recht paradiesisch eben. Zugleich wird reflektiert über deutsch-russische Beziehungen, über die Sorge um ein Land, das beiden eben sehr am Herzen liegt, ohne dass diese Liebe blind und unkritisch ist. Das Entsetzen und die Enttäuschung darüber, wie sich Russland seit den Perestrojka Jahren und insbesondere unter Putin gewandelt hat, ist spürbar. Dursthoff bemüht sich nicht um Objektivität, er nimmt Partei - gegen den Krieg und das System Putin, aber eben auch für das, was in Russland gut und schön ist. Von der unkritischen Begeisterung aus jungen Jahren beim MSB ist jedenfalls keine Spur mehr, auch der letzte Datscha-Sommer, während des Krieges, ist von schmerzlicher Ernüchterung geprägt.

Das Buch ist sehr persönlich und zeigt gerade deshalb, dass es eben nicht so einfach ist, wenn man den Menschen so verbunden ist, das Regime aber gründlich ablehnt. Was tun? wie schon Lenin fragte. Der Autor ringt noch mit einer Antwort.

Veröffentlicht am 25.05.2024

Uralubskrimi mit einem Hauch von RomCom

Mord am Haff
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Lust auf Ostsee, Strand und Mord? Frauke Scheunemanns Cozy-Krimi "Mord am Haff" bietet all das mit einem Hauch von romantic comedy. Wer auf der Suche nach einem Thriller für harte Nerven ist, wäre hier ...

Lust auf Ostsee, Strand und Mord? Frauke Scheunemanns Cozy-Krimi "Mord am Haff" bietet all das mit einem Hauch von romantic comedy. Wer auf der Suche nach einem Thriller für harte Nerven ist, wäre hier nicht gut bedient, wer dagegen eine Prise Humor und einen gute Laune Krimi nicht nur für Strandkorb-Urlaub sucht, dürfte Gefallen an Radiojournalistin Franziska Mai finden. Zusammen mit ihrem Volo Janis ermittelt sie gewissermaßen in Konkurrenz zur Polizei und besonders dem gutaussehenden Kommissar Kay Lorenz. Es geht schließlich nicht nur um Einschaltquoten, sondern auch um das Überleben des Usedomer Privatrundfunks.

Eine Einbruchsserie beunruhigt vor allem die wohlhabenden Usedomer, denn die Täter sind im hochpreisigen Segment unterwegs. Ist man denn nicht mehr sicher unterm Reetdach? Bei ihren Umfragen und in der Hörerpost bemerkt auch Franziska, dass die berühmte Volksseele kocht und auf der Suche nach Verdächtigen reflexartig über die nahe polnische Grenze schielt.

Ein polnischer Journalist, der Franziska grenzüberschreitende Recherche vorschlägt, glaubt auf eine heiße Spur gestoßen zu sein. Doch dann endet ein Einbruch mit einer Toten. Und während es scheint, als werde über Facebook zur Gründung einer Bürgerwehr getrommelt, ermitteln Franziska und Kay unter Hochdruck mal gemeinsam, mal in Konkurrenz zueinander. Nur mit dem mehrfach geplanten Spaziergang unterm Sternenhimmel will es einfach nicht klappen.

"Mord am Haff" ist ein typischer Urlaubskrimi und verbreitet auch in anderen Lese-Regionen Strandfeeling. Die Autorin hat eine lockere-humorvolle Schreibweise, ohne ins Alberne abzugleiten. Die Protagonisten sind sympathisch und ich habe sie gerne bei ihren Ermittlungen begleitet. Die Lösung des Falls ist eine Überraschung, mit der ich so nicht gerechnet hätte.

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Veröffentlicht am 18.05.2024

Turbulent-Überdrehter Cozy-Krimi mit sympathischem Ermittler-Duo

Ein Toter lag im Treppenhaus
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Zwei Schriftsteller und ein Baby ermitteln in dem überdrehten und humorvollen Cozy-Krimi "Ein Toter lag im Treppenhaus" in dem Autor Andreas Neuenkirchen augenzwinkernd auch Influencertum, die Probleme ...

Zwei Schriftsteller und ein Baby ermitteln in dem überdrehten und humorvollen Cozy-Krimi "Ein Toter lag im Treppenhaus" in dem Autor Andreas Neuenkirchen augenzwinkernd auch Influencertum, die Probleme des Genderns, Paarprobleme und Schreibblockaden aufs Korn nimmt. Die titelgebende Leiche gibt es natürlich auch.

Das Buch lebt von der Gegensätzlichkeit der Protagonisten: Amadeus Wolf galt einst als literarisches Wunderkind, aber in den letzten Jahren litt er unter Schreibblockade. Momentan vielleicht kein Wunder, denn seine Frau ist nun schon seit drei Monaten auf Dienstreise in Luxemburg und Wolf ist somit alleinerziehender Vater von Baby Maxine, der sich immer festhält an dem Wunschgedanken, er sei nicht verlassen worden, auch wenn weder Anruf noch WhatsApp-Nachricht ein Lebenszeichen der Gattin brachten. Muss eine sehr intensive Dienstreise sein. Amadeus mag ein kritischer Intellektueller sein, aber am praktischen Sinn fürs Leben hapert es doch ein bißchen.

Holly McRose, so jedenfalls ihr Pseudonym, ist dagegen äußerst erfolgreiche Autorin von Schnulzenromanen um einen Highlander, die sie gewissermaßen im Akkord verfasst. Die quirlige und ein bißchen chaotische, neugierige und redebedürftige Frau ist die Nachbarin von Wolf. Lange gab es außer dem freundlich-distanzierten Grüßen im Treppenhaus keinen Kontakt, Doch das ändert sich, als der Nachbar aus dem Dachgeschoss bei einem Treppensturz zu Tode kommt. Holly will nicht an einen Unfall glauben. Und mit ihrer unerschöpflichen Energie schafft sie es, den zögerlichen Wolf tatsächlich zu überreden, gemeinsam den Tod des Nachbarn aufzuklären. Baby Maxie ist immer dabei,

Dass ich dieses Buch mögen werde wurde mir schon beim ersten Satz klar: Er liebte den Geruch frischer Farbe am Morgen. Es bleibt nicht das einzige Filmzitat. Neuenkirchen hat nicht nur zwei liebenswerte Hobbydetektive geschaffen, er spielt auch mit Stereotypen und Projektionen, sei es die Influencerin Veronica, die in einer rosaroten Mode-Makeup-Welt mit nichtbinärer Assitenzx zu leben scheint, aber ihren Followern schlauerweise verheimlicht, dass sie zwei Studienabschlüsse hat. Oder Polizist Can, der vom Münchner Hasenbergl stammt, auf Gangsta-Rap steht und dem die schriftstellernden Ermittler nicht ganz sauber vorkommen. Viel soll an dieser Stelle gar nicht verraten werden - aber dieser Cozy-Krimi ist ausgesprochen turbulent und unterhaltsam. Man merkt, dass dem Autor das Spiel mit Sprache und Popkultur Spaß macht. Ich hoffe, das ist nicht das Letzte, was ich von Amadeus Wolf und Holly McRose gelesen habe.

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