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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 21.06.2025

Subtile Rollenkritik

Leichter Schwindel
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Endlos lange Seiten voller Aufzählungen der Erledigungen, die elendig langen Gänge des Supermarktes mit seinen dutzenden hunderten Artikeln. Unwichtige Dinge. Aber sind sie wirklich so unwichtig? Schließlich ...

Endlos lange Seiten voller Aufzählungen der Erledigungen, die elendig langen Gänge des Supermarktes mit seinen dutzenden hunderten Artikeln. Unwichtige Dinge. Aber sind sie wirklich so unwichtig? Schließlich sind sie Natsumis Welt, ihr ganzes Leben. Ein Hausfrauenleben.
Natsumi ist nicht unzufrieden mit diesem Leben. Ihre Ehe nimmt sie als gegeben hin und erledigt, was anfällt, zuverlässig. Hin und wieder jedoch reißt sie etwas aus der ewigen Aneinanderreihung von Pflichten und Routinen, trifft sie unvorbereitet wie ein reflektierter Sonnenstrahl, der das Auge blendet und verursacht ihr einen leichten Schwindel. Dieser Schwindel ist wie ein Blinzeln aus ihrem Alltag und lässt sie kurz innehalten. Innehalten worüber? Natsumi kann es nicht ganz erfassen. Das Unwohlsein des Schwindels manifestiert sich nie in Gedanken oder gar Worten, bleibt immer vage.

Der leichte Schwindel Natsumis darüber, wohin ihr Leben eigentlich führt, spiegelt sich in verschachtelten Sätzen wieder, die sich über eine ganze Seite oder länger erstrecken können. Die Gleichförmigkeit sich wiederholender Tage ist in eine ideale sprachliche Form übersetzt.
Unter dem Titel „Karui Memai“ erschien Mieko Kanais Werk zunächst als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitung und 1997 als Buch bei Kodansha. Die Handlung spielt in Tokyo, könnte zur selben Zeit aber auch in Düsseldorf, Göttingen oder München stattfinden, die öde Begrenzung des Hausfrauenalltags war schließlich überall dieselbe. Wer jetzt aber denkt, „Leichter Schwindel“ ist ein Aufschrei gegen das Patriarchat und eine himmelwärts gereckte Faust, liegt weit entfernt. Mieko Kanais Geschichte ist subtil wie fein gemahlener Pfeffer, eher ein Kitzeln in der Nase denn ein lautstarkes Niesen.

Veröffentlicht am 21.06.2025

Teilhabe ist Menschenrecht

Behindert und stolz
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Im Januar haben wir im feministischen Buchclub „Behindert und stolz“ von Luisa L'Audace gelesen. Ich glaube, wir hatten selten so verschiedene Meinungen beim Austausch über das Buch. Ich konnte einiges ...

Im Januar haben wir im feministischen Buchclub „Behindert und stolz“ von Luisa L'Audace gelesen. Ich glaube, wir hatten selten so verschiedene Meinungen beim Austausch über das Buch. Ich konnte einiges an Erkenntnissen aus dem Buch ziehen, hab viel reflektiert und auch bei mir schon einiges an Denken und Verhalten in Bezug auf Ableismus erkannt. Anderen aus der Gruppe kratzte der politische Anspruch zu sehr an der Oberfläche, weil sie durch ihren Alltag mit Behinderten einen anderen Umgang mit Inklusion haben. Eine Person fand die Anzahl der Quellenangaben spärlich für das, was sie sonst an Lektüre gewohnt ist, obwohl Luisa L'Audace durchaus auch erklärt, warum es so wenige für sie zugängliche Quellen gab. Einig waren wir uns alle darin, dass die autobiografischen Teile des Buches uns alle angesprochen und gerührt haben. Zudem fanden wir auch einstimmig, dass der Anspruch, den das Buch hat, nämlich in komplikationsloser Sprache einen Einstieg zum Thema (intersektionalen) Ableismus, Inklusion und Diskriminierung zu bieten, vollumfänglich erfüllt. Mir persönlich hat die Zeit mit der Lektüre viel gegeben, um über meine eigenen Privilegien nachzudenken, die schon damit beginnen, dass ich ohne Hilfsmittel die Straße ohne Erschöpfung entlanggehen kann. Besonders nahegegangen sind uns die Passagen über Erzählungen oder eigene Erfahrung der Autorin zur Diskriminierung, die behinderten Menschen bei Anträgen zur Kostenübernahme in Ämtern widerfährt und bei Ablehnung ihren Mobilitätsradius in Abhängigkeitsverhältnissen beibehält. Und das, obwohl es so einfach wäre, Behinderten die eigenständige Gestaltung ihres (gesellschaftlichen) Lebens mit der Übernahme bestimmter Hilfsmittel zu ermöglichen. Denn Teilhabe ist Menschenrecht.

Veröffentlicht am 21.06.2025

Hat mir gut gefallen!

Wenn Engel brennen
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Die Straße durch Cambell's Run ist gesperrt, seit Polizeichefin Carnahan denken kann. Jahrzehntelang schon schwelt unter der einstigen Stadt ein Kohlebrand, knorrige Bäume ohne Blätter strecken ihre trockenen ...

Die Straße durch Cambell's Run ist gesperrt, seit Polizeichefin Carnahan denken kann. Jahrzehntelang schon schwelt unter der einstigen Stadt ein Kohlebrand, knorrige Bäume ohne Blätter strecken ihre trockenen Äste wie Knochenhände aus dem Boden in einer Einöde, in der eingestürzte Reste von Häusern und schlaglöchrige Straßen daran erinnern, dass diese Gegend mal bewohnt war.
Hier kommt niemand mehr hin, der es nicht muss, und doch steht Carnahan vor einem dieser schwelenden Gruben im Boden und betrachtet die Leiche eines Teenagers, die hier „entsorgt“ wurde.

Der Fall ist zu groß fürs County, und so erhält Carnahan Hilfe von der State Police in Form von Corporal Greely. Die Identität des Mädchens ist schnell ermittelt. Es handelt sich um die 17-jährige Camio aus der Familie Truly. White Trash. Wie die Flodders, nur ohne Humor. Camio hatte einen Freund, der als Hauptverdächtiger untersucht wird. Während Carnahan in den laufenden Ermittlungen von ihrer Vergangenheit eingeholt und Probleme ganz eigener Art zu bewältigen hat, strecken sie und Greely ihre Fühler in alle Richtungen aus, um den Mörder des Mädchens zu finden.

Tawni O'Dell setzt das Setting ihres Krimis in den fiktiven Ort Campbell's Run, der vermutlich seinen realen Ursprung in Centralia im US-Bundesstaat Pennsylvania hat. Dort brach vor 61 Jahren ein Feuer aus, das sich in verlassene Kohleflöze fraß. Es brannte unter Tage in einem Gebiet von 15 Quadratkilometern und schwelt bis heute unter der evakuierten Stadt.
Der Country Noir hat mich in dem Tempo in seine Geschichte gezogen, wie ich mir die Mentalität dieser Landbevölkerung vorstelle. Ihre Charaktere sind Schwarz, Weiß sowie die Graustufen dazwischen und zeigen in auf begreifliche Art das Unvollkommene in Menschen.

Veröffentlicht am 04.12.2024

Es muss auch mal wieder Zeit für Klassiker sein

Überredung
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Als November-Lektüre im feministischen Buchclub haben wir „Überredung“/"Anne Elliot" bzw. im englischen Original „Persuasion“ von Jane Austen gelesen.
Für manche der Gruppe war es die erste Leseerfahrung ...

Als November-Lektüre im feministischen Buchclub haben wir „Überredung“/"Anne Elliot" bzw. im englischen Original „Persuasion“ von Jane Austen gelesen.
Für manche der Gruppe war es die erste Leseerfahrung mit Jane Austen, andere kannten und schätzten die Klassiker der Regency-Ära bereits. Ich habe Austens Bücher in meinen 20ern bereits gelesen und fand es schön, die Eindrücke jetzt nochmal mit anderen zu teilen. Eigentlich hätte ich auch große Lust, nochmal wieder andere Bücher der Autorin zu lesen und zu schauen, ob „Mansfield Park“ nach all den Jahren noch immer mein Favorit bliebe oder abgelöst würde. Jane Austen porträtiert die Gepflogenheiten ihrer Klasse vor allem in Bezug auf die soziale Stellung und das Miteinander so unglaublich gut - nicht zuletzt sind all ihre Romane bis heute geliebte Klassiker. Die Themen, die sie vor allem aus ihrem weiblichen Blickwinkel behandelt, finden auch im Leben des 21. Jahrhunderts noch Anknüpfpunkte an aktuelle Lebensphasen

Veröffentlicht am 04.12.2024

Frausein vor dem Hintergrund eines von Armut geprägten Alltags

Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
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Mani lebt mit 36 noch immer im beengten elterlichen Heim in einem der ärmsten Stadtteile Seouls.
Aus den bisherigen Beziehungen ihres Lebens ist keine Ehe geworden, und die gesellschaftliche
Scham hat ...

Mani lebt mit 36 noch immer im beengten elterlichen Heim in einem der ärmsten Stadtteile Seouls.
Aus den bisherigen Beziehungen ihres Lebens ist keine Ehe geworden, und die gesellschaftliche
Scham hat Mani auch selbst verinnerlicht. Ihre plötzliche Entlassung sorgt dafür, dass benötigtes
Familieneinkommen fehlt. Der Traum von Manis Mutter, eines Tages im Zuge der
Stadtteilsanierung in einem der Hochhäuser zu wohnen - nun unerreichbar. Selbst die geringfügige
Annehmlichkeit einer Spültoilette ist der Familie nicht vergönnt.
Dabei hatte Mani einmal ambitionierte Ziele. Inspiriert von den Olympischen Spielen 1988 spielen
ihre Freundinnen das Kunstturnen nach. Mani wollte Olympiasiegerin werden, wie das Vorbild der
Mädchen: Nadia Comăneci. Von ihrer Mutter in diesem Wunsch unterstützt, wendet die Familie die
wenigen Ersparnisse auf, um Mani in eine private Turnschule zu schicken. Doch sie sieht ihr
mangelndes Talent im Können ihrer Mitschüler:innen und lässt sich von ihrer Herkunft dauerhaft
limitieren.

Im Wechsel zwischen Manis Gegenwart und ihrer Vergangenheit schildert Autorin Cho Nam-Joo
die gegenwärtige Stellung der Frau in Südkorea - ein hochtenisiertes Land auf der einen, eine
rückständig patriarchale Haltung auf der anderen Seite.
Bereits der 2016 erschienene Sachroman „Jiyoung Kim, geboren 1982“ widmete sich
emanzipatorischen Themen. Die Leser:innenschaft nahm das Buch mit derartiger Intensität auf,
dass das sog. 4B-Movement entstanden ist, in dem Frauen sich aus Protest gegenüber archaischer
Rollenerwartungen weigern, S€x mit Männern zu haben, sie zu daten, sie zu heiraten oder Kinder
zu bekommen.

„Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ haben wir im September für den feministischen Buchclub
gelesen, da der Roman das Frausein vor dem Hintergrund eines von Armut geprägten Alltags
erzählt. Die Meinungen zum Buch waren unterschiedlich. Die Handlung wabert vor sich hin wie der
Luft hängender Kohlgeruch. Es passiert wenig, und doch gibt es – gerade in prekär lebenden
Familien – so viel, um das man sich Gedanken machen und sorgen muss. In kleiner Gruppe haben
wir uns angeregt darüber ausgetauscht, worin die feministischen Botschaften dieses Buches für uns
bestehen.