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Veröffentlicht am 21.02.2025

Zeitgenössischer, humorvoller Einblick

Russische Spezialitäten
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Dimchik verzweifelt, weil Mama russisches Fernsehen in Warteschleife konsumiert. In Sibirien werden die Menschen von minus 30° Celsius beherrscht, sagt der Reporter. Daraufhin verkündet Mama stolz: „Na ...

Dimchik verzweifelt, weil Mama russisches Fernsehen in Warteschleife konsumiert. In Sibirien werden die Menschen von minus 30° Celsius beherrscht, sagt der Reporter. Daraufhin verkündet Mama stolz: „Na und, es waren auch schon minus 50°!“ Woraufhin Dimchik sich fragt, worauf Mama stolz ist, auf die russische Kälte? Mama wurde in Sibirien geboren und wurde von ihrer Mutter im zarten Alter von drei Jahren ins wärmere Moldawien gebracht. Mamas Vater war da schon abgehauen. Später ging sie nach Kyjiw, lernte Dimchiks Papa kennen und gebar Dimchik zu Hause. Außer der Sprache und dem Propagandafernsehen verbindet sie nichts mit dem russischen Staat.

Ende der 90er-Jahre gingen sie nach Sachsen und Dimchik erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Eltern investierten in Telekomaktien und verloren bis auf 2.000 Mark alles Ersparte. Da wollte Mama einen Laden für russische Spezialitäten eröffnen. Magasin stand in dicken kyrillischen Buchstaben am Schaufenster. Die Eltern fuhren abwechselnd nach Kyjiw, um die russischen Leckereien zu erobern. Sie brachten Flusskrebse in Tomatensoße, Krimsekt, Kaviar, Kondensmilch, Mirhorodskaya (salziges Mineralwasser), Sauerkraut, Matrjoschkas und die CDs mit den größten (und traurigsten) Hits von Wladimir Wissotzky mit.

Jetzt bedient Papa die Kundschaft (was er nie wollte) und Mama sitzt im Kabuff und macht die Quartalssteuererklärung auf einem PC von 1997, der, nachdem er fünfzehn Minuten hochgefahren ist, um den Gnadenschuss fleht. Am Abend sitzt Mama vor dem Russlandfernseher, raucht Kette und wiederholt wetternd ihre gewonnenen Erkenntnisse: Die faschistischen Ukrainer seien geldgeil, während die heldenhaften Russen das Land wieder aufbauten, das die Ukrainer selbst zerstörten, um den Russen zu diskreditieren. Dimchik weiß, dass ihr Gerede nicht herzlos ist, aber wahrheitsverloren.

Fazit: Dmitrij Kapitelmann hat mit viel Liebe und Humor eine zeitgenössische Geschichte geschaffen, die mit den gängigen Vorurteilen aufräumt, aber nicht nur das. Die Mutter des Protagonisten orientiert sich einzig am russischen Propagandafernsehen, das seine Landsleute mit jeder Menge falscher Informationen füttert. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Völker gespalten. Jederzeit können kampffähige Männer auf beiden Seiten eingezogen und Existenzen vernichtet werden, sowohl wirtschaftlich als auch körperlich. Die Ukrainer möchten die Sprache, die ihnen über Jahrzehnte aufgezwungen wurde, nicht mehr sprechen. Der Protagonist liebt die russische Sprache (ukrainisch hat er nie gelernt), die Kultur und Schriftsteller und jetzt wird sein Verhältnis zu seiner Muttersprache politisch entmündigt. Das Land, in dem er lebt, wählt erstmals Faschisten in den Bundestag und in ganz Europa findet ein Rechtsruck statt, während man seinen ukrainischen Landsleuten Faschismus vorwirft, das ist alles nicht ermutigend. Ich mag diese Geschichte sehr, weil der Autor mir seine Kultur, sowohl die elterlich russische als auch die ukrainische ganz nah bringt. Er macht das, indem er mir die Spezialitäten, aber auch seine Landsleute zeigt. Der humorvolle Ton macht die Geschichte so gut lesbar, ohne das eigentliche Elend und das ganze Dilemma zu bagatellisieren. Eine gute Geschichte zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Danke für den Einblick.

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Veröffentlicht am 20.02.2025

Ein vielschichtiges Debüt

In ihrem Haus
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Niederlande 1961

Isabel hat im Garten gegraben und eine Porzellanscherbe gefunden. Sie sieht aus wie ein Stück des teuren Services, das sie wie einen Schatz in der Vitrine hütet. Sie weiß, dass es vollzählig ...

Niederlande 1961

Isabel hat im Garten gegraben und eine Porzellanscherbe gefunden. Sie sieht aus wie ein Stück des teuren Services, das sie wie einen Schatz in der Vitrine hütet. Sie weiß, dass es vollzählig ist. Sie ist Ende zwanzig und hat vor einem Jahr ihre Mutter beim Sterben begleitet. Jetzt lebt sie allein in dem großen Haus. Ihre einzigen Kontakte sind die selten gewordenen Abendessen mit ihren Brüdern Hendrik und Louis, ihrer Haushaltshilfe Neelke und dem Nachbarn Johan, der ihr aufdringliche Avancen macht.

Sie fühlt sich von ihren Dienstmädchen bestohlen und kontrolliert argwöhnisch den Bestand. Ihr Bruder Hendrik scherzt, dass es in der Provinz bald kein Dienstmädchen mehr gäbe. Sie haben sich mit Louis zum Abendessen verabredet, der die Dreistigkeit besitzt, sie warten zu lassen. Als er das Lokal betritt, gestikuliert er aufgeregt mit dem Kellner. Er hat eine Frau dabei, die wievielte wissen sie nicht. Isabel ist verärgert, weil Louis nicht Bescheid gesagt hat. Seine Eroberung hat goldgelb gefärbte Haare, am Ansatz braun. Ihr Kleid ist zu eng und der Saum verschlissen. Isabell findet sie billig, peinlich und durchschaubar, sie wendet sich ab. Louis nennt sie Eva, sie wirft die Vase um, als sie sich über den Tisch beugt und ihnen die Hand geben will, entschuldigt sich, kichert, blickt zu Boden, setzt sich. Isabel fragt sich, wo Louis diese Frauen auftreibt. Im Damen-WC macht sie Eva klar, dass sie sie nicht eingeladen hat, sie bald eh Geschichte sein wird und sie sich nicht wiedersehen werden.

Louis muss auf eine Geschäftsreise, etwa vier Wochen gedenkt er fortzubleiben. Er bringt Eva zu Isabel, weil die ihre Wohnung gekündigt hat und nicht mit Louis Mitbewohner alleinbleiben möchte. Isabel ist empört. Sie wehrt sich gegen seine Pläne, aber das Haus ist Louis versprochen, sobald er heiratet, kann er das Haus für sich beanspruchen. Isabel fügt sich.

Eva erwacht spät, kommt in die Küche, wenn Isabel längst gefrühstückt hat. Sie wohnt in dem ehemaligen Zimmer Isabels Mutter und lässt ihre Kleider überall herumliegen.

Schmutz war der Mutter ein Dorn im Auge. S. 49

Eva fasst alles an und Isabel vermisst silberne Kaffeelöffel.

Eva war raumgreifend auf eine laute, rastlose Art, wie eine eingesperrte Biene. S. 47

Fazit: Yael van der Wouden hat ein vielschichtiges Debüt geschaffen, dessen Tiefe sich erst nach und nach entblättert. Der Erzählstil ist eigen und folgt souverän dem Verlauf der Geschichte. Die Hauptprotagonistin ist eine spröde junge Frau, die das Leben ihrer Mutter nachlebt. Sie hütet das Haus und dessen Inhalt (Andenken an die Mutter) wie ein Museum. Ihre rigiden Vorstellungen lassen sie steif und ungelenk wirken. Männer leben noch ganz im Zuge der Selbstermächtigung und Rücksichtslosigkeit, als Herren der Schöpfung. Isabels Familie ist durch den Krieg aus Amsterdam vertrieben worden. Der Onkel hat ihnen ein großes Haus besorgt, ein neues Heim für Mutter und Kinder. Isabel erinnert sich an Unstimmigkeiten in ihrer Kindheit, möchte sie aber nicht ergründen. Eva hat ebenfalls eine Geschichte, die sie in nächtlichen Albträumen quält. Der Konflikt besteht nicht nur in der Unterschiedlichkeit der beiden Frauen. Und dann lässt mich die Autorin an so überraschenden Entwicklungen teilnehmen, die dem Roman so eine Sinnhaftigkeit geben, dass ich aus dem Staunen und dem Fühlen gar nicht mehr herauskomme. Selten habe ich eine so intensive und versöhnliche Vergangenheitsbewältigung gelesen. Muss man lesen!

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Veröffentlicht am 19.02.2025

Epische Geschichte in der Klangfarbe Österreichs

Wild wuchern
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Marie hat ihn blutend zurückgelassen. Sie hat auf die Schnelle wenige Sachen in ihren Rucksack gestopft und ist zum Bahnhof gefahren. Zuerst wollte sie nach Italien, aber da hat er sie schon dreimal gefunden, ...

Marie hat ihn blutend zurückgelassen. Sie hat auf die Schnelle wenige Sachen in ihren Rucksack gestopft und ist zum Bahnhof gefahren. Zuerst wollte sie nach Italien, aber da hat er sie schon dreimal gefunden, obwohl sie immer an anderen Orten war. Dann steigt sie in den Zug, der vor ihr steht und das ist ein Glück, denn jetzt ist sie auf dem Weg zu Johanna. Da kann er sie nicht vermuten, denn er weiß nichts von Johanna.

Marie ist am Fuß des Berges angekommen, es ist stockfinstere Nacht und das Glas ihres Handys ist zerbrochen. Sie war lange nicht mehr hier und jetzt wird sie sich mit den Schemen begnügen. Es raschelt im Laub, Tiere schreien, ihr Atem überschlägt sich, die Ohren dröhnen. Sie muss ein Stück durch den Wald, es klingt dumpf, sie sieht die Hand vor Augen nicht. Jemand keucht. Panik. Sie weiß, dass sie einen Hang hinaufmuss. Da ist der Bach, sie erinnert sich, watet durch das eiskalte Wasser, wird fast umgerissen. Jetzt erklimmt sie den Hang auf allen vieren, sieht die Hütte und das Licht im Fenster, nein, doch nicht, eine Mondspiegelung. Sie klopft aber nichts passiert, drückt die Klinke herunter und schiebt die schwere Tür auf. Dunkelheit. Im Mondlicht sieht sie den großen Holztisch, Stühle. Ein Feuer glimmt im Ofen. In der Ecke steht ein Kleiderständer, den sie nicht kennt. Das passt gar nicht zur Johanna, dass sie ihn hier hochgeschleppt hat und da bewegt er sich, dreht sich um und die Johanna erscheint.

Es ist früher Morgen. Sie sitzen am Tisch und essen Polenta, die Johanna zubereitet hat. Wie lange sie bleiben will, will Johanna wissen. Ob sie wegen ihr gekommen sei. Natürlich nicht, denn dann würde Marie Wanderschuhe und keine Riemchensandalen tragen, es wäre nicht mitten in der Nacht gewesen und sie hätte etwas Nützliches mitgebracht, etwas zu essen, aber das sagt Marie der Johanna nicht.

Fazit: Katharina Köller hat eine epische Geschichte in der Klangfarbe Österreichs geschaffen. Die Protagonistin flüchtet aus einem Leben, das kopfsteht. Aus Not hat sie eine Dummheit begangen. Bei ihrer wortkargen und menschenfeindlichen Cousine sucht sie Zuflucht. Die anpassungsfähige Stadtfrau, die zu Selbstironie neigt, versucht sich dem harten, entbehrungsreichen Landleben der sich selbst versorgenden Johanna unterzuordnen, aber sie bleiben zu verschieden. Die Autorin hat mich mitgenommen in die Tiroler Alpen und mir die unberechenbare Natur gezeigt. Ich habe sie selber erlebt und mich gerne zurückerinnert. Sprachwitz und Metaphern lockern das schwierige Thema Kindheitsprägung auf. Die einfache Sprache erleichtert den Lesefluss und hat mich geschwind durch die Zeilen fliegen lassen. Für mich ein emotionaler Lesegenuss, den ich besonders empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 17.02.2025

Ein Augenöffner

Das Lieben danach
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Lene ist auf die Kanaren geflogen, um zu schreiben. Sie liebt die Bewegung um sich herum.

Mit mildem Einverständnis betrachte ich ein Treiben, das ich sonst reflexartig ablehnen würde: Das Schaulaufen ...

Lene ist auf die Kanaren geflogen, um zu schreiben. Sie liebt die Bewegung um sich herum.

Mit mildem Einverständnis betrachte ich ein Treiben, das ich sonst reflexartig ablehnen würde: Das Schaulaufen am Abend auf Highheels, das sich-spreizen, die Salven überdrehten Gelächters, die Sixpacks unter tief aufgeknöpften Hemden, das viele Bling Bling – alle wetteifern sie emsig um Rang und Prestige. S. 8

Sie hat die ständige Selbstbeobachtung hinter sich gelassen. Nun will sie ihre Geschichte beleuchten. Sie erinnert einige Szenen aus ihrer Kindheit. Die ersten Lektionen über Sex: Das Lehrmädchen ihrer Eltern hatte Pater Antonio ein Kind andrehen wollen und kam in ein Heim für gefallene Mädchen, das Flittchen sagte ihre Mutter.

Ihre Mutter fand Sex scheußlich, lieber hätte sie die Böden geschrubbt.

Ihre Mutter:

Schroffe Gehässigkeit gepaart mit verborgenem Mitgefühl – eine Gefühlsverzerrung, die Generationen von Frauen im Blick auf ihre Geschlechtsgenossinnen bravourös beherrschten. S. 19

Die Mutter mochte den Strecker sehr, ein Künstler, Autor, so kultiviert und unterhaltsam. Er gab Lene Nachhilfeunterricht in ihrem Zimmer. Immer saß er neben ihr, sie sollte mit dem Füller schreiben, während er sie streichelte, seine Hände unter ihr Kleidchen schob und mit ihren Nippeln spielte, dann seine rechte Hand zwischen ihre Beine schob, immer tiefer und mit der anderen schnelle Bewegungen unter ihrem Tisch machte. Diesen Moment erwartete Lene immer mit großem Schrecken, weil er ihr so weh tat. Es begann, als sie fünf war im Urlaub in Hunsrück.

Lena genoss seine liebevolle Zuwendung, seine Aufmerksamkeit, das Singflüstern, ihre Gespräche, seine zärtlichen Gesten. Das Schlimmste und Zerstörerischste daran war der Schock, wenn die Situation kippte und sie seine, durch Selbsthass und Selbstverachtung ausgelöste Aggression spürte. Er ließ sie spüren, dass es ihre Schuld war, dass er sich nicht beherrschen konnte.

Missbrauch ist eine vielschichtige Angelegenheit. Die gängigen Begriffe vernachlässigen das sträflich. Täglich werden in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre missbraucht, 3/4 davon sind Mädchen. In 2023 gab es laut BKA 16.375 Fälle von Missbrauch an Mädchen unter 14 Jahren und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Die Prägung durch den Missbrauch ist so allumfassend, so tiefgreifend, dass die Persönlichkeit eine Veränderung erfährt, die ein Leben lang anhält.

Fazit: Das zu lesen war gewaltig schmerzhaft. Das erschreckendste für mich als Selbstbetroffene war, dass mich die Schilderung der Taten gleichsam erregte und abstieß. Ich erlebte das hässliche Gefühl, mich so jemandem noch einmal hinzugeben und ihn gleichzeitig töten zu wollen. Diese Ambivalenz beschreibt die Autorin mit unglaublich klugen und treffenden Worten. Sie analysiert alle Fallstricke, in denen sie sich während ihres Lebens verfangen hat. Das Gefühl, das der Täter ihr vermittelte, etwas ganz Besonderes zu sein, um sie dann mit ihrer „freiwilligen“ Zustimmung zu schänden und ihre daraus resultierenden späteren Schuldgefühle, das ist pervers und ungerecht. Die Autorin spricht über die frühe Grenzüberschreitung, die es ihr später verwehrte, eigene Grenzen und die anderer zu erkennen und selbst Grenzen zu setzen. Sie spricht über Vertrauen, Kontrolle, Scham, Hingabe und Promiskuität. Sie erklärt meisterhaft die Zusammenhänge und macht das schier Unmögliche verständlich. Ich bin aufgewühlt, bin retraumatisiert, möchte weinen und zuschlagen und deswegen weiß ich, wie wichtig dieses Buch ist. Ich hoffe, dass Helene Bracht viele Menschen erreicht, es war sicher eine Herkulesaufgabe so authentisch darüber zu schreiben. Ich wünsche mir, dass dieser Augenöffner eine Veränderung in der Sicht der Gesellschaft bewirkt.

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Veröffentlicht am 13.02.2025

Ein Kunstwerk

Nachtgäste
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Sarajevo 1992

Maja ist achtzehn. Sie sitzt im Keller des Museums, in dem ihr Vater Direktor ist. Der ganze Unfug, der sie in diesem Gebäude hat landen lassen, begann offiziell am vierten April. In Dobrinja, ...

Sarajevo 1992

Maja ist achtzehn. Sie sitzt im Keller des Museums, in dem ihr Vater Direktor ist. Der ganze Unfug, der sie in diesem Gebäude hat landen lassen, begann offiziell am vierten April. In Dobrinja, wo sie wohnten, wurden die Häuser beschossen und ihre Wohnung ging in Flammen auf. Ihr Stadtteil wurde abgesperrt, einen Teil beanspruchten die Serben und dort ist auch ihr Literaturprofessor verschwunden. Majas Mama und deren Mutter flüchteten in das Viertel, in dem das Museum steht. Dort trafen sie auf Dávor, Majas Halbbruder, Sanja seine Gattin, deren Dalmatiner Sniffy und zwei gealterte Partisanen aus dem letzten Krieg. Im April wurden noch Menschen mit Militärflugzeugen aus Sarajevo herausgeflogen, aber die Gattin wollte nicht. Sie vertraute ihre Schwangerschaft lieber den hiesigen Ärzten an, konnte sich nicht trennen, aber die hiesigen Ärzte trennten sich von ihr.

Der Krieg, sie weiß nicht, ob sie das richtig verstanden hat, keiner weiß das, begann damit, dass die orthodoxen Serben Serbien hatten, die katholischen Kroaten sich Bosnien jedoch mit den Muslimen teilten. Die Serben beanspruchten den bosnischen Teil der Muslime und das gefiel weder den Kroaten noch den Muslimen. So, und deswegen fliegen ihnen jetzt die Granaten um die Ohren. Ihr Papa, der Muslim, rettet die Ikonen vor den Serben, die sie zerstören wollen, um sie vor den Muslimen zu schützen. Dávor glaubt, dass der Strom ständig ausfällt, weil die Mafia den woanders hin verkauft, sein Stiefvater, der Herr Direktor, bezweifelt das.

Die Europäer schicken braune Päckchen in der Größe eines Buches mit Tütensaft, Käse, Bohnen, Schweinefleischkonserven, Kaffee, Kondensmilch, einem Erfrischungstuch und Toilettenpapier. Die gealterten Partisanen aus dem letzten Krieg glauben, dass die Europäer das schicken, weil sie es selbst nicht wollen, also entsorgen wollen. Und dann die Cowboys:

Dieses Amerika benimmt sich wie ein betrunkener Standesbeamter. Er will ein Paar trauen, obwohl nur ein Partner die Ehe eingehen will. S. 24

Fazit:

„Das ist das beste Buch über Krieg, das ich gelesen habe.“ Sasa Stanisic.

Ich muss meine Begeisterung in die Welt hinausschreien. Was für ein Kunstwerk! Nenad Velickovic ist ein wahrhafter Erzähler. Nie wurde mir ein reales Kriegsszenario besser nahegebracht als mit diesem Buch. Die junge Protagonistin beschreibt ihre Eindrücke über die Notgemeinschaft und die Unzumutbarkeiten, denen sie ausgesetzt sind. Sie ziseliert den ganzen Irrsinn des Krieges und durchleuchtet die Verrücktheiten der Erwachsenen auf so positive und humorvolle Art, dass man ihr immer weiter zuhören muss. Sie ist umgeben von Menschen, die sich, so gut es geht, ihre Pfründe sichern wollen und auch vor Gaunereien nicht zurückschrecken, die nicht erst der Krieg in ihnen ausgelöst hat. Maja bagatellisiert nicht das Unrecht oder die großen und kleineren Katastrophen und sie schönt auch nichts.

Ich lebe im Museum wie unter einer Glasglocke. Über die Granaten schreibe ich wie über einen Theatereffekt, während sie überall ringsum Menschen zerfetzen. S. 99

Es ist einfach die Erzählstimme, die mich fesselt. Ich bin sehr froh, dass dieses Buch nach nun dreißig Jahren, dank dem Verlag Jung und Jung, eine erneute Auflage erfahren hat.

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