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Veröffentlicht am 09.02.2023

Wenn eine Krise der nächsten den Rang abläuft

Liebes Arschloch
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„Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer ...

„Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer noch bekannten französischen Grand Dame des Schauspiels, Rebecca, auf den Post eines Mannes, der sie aus dem Nichts im Internet mit Tiefschlägen bezüglich ihres Aussehens diffamiert. Kein Wunder, dass sie da mal kurz die Contenance verliert. Nur hat es Rebecca sowie faustdick hinter den Ohren, wie man im Verlaufe dieses eindrücklichen Briefromans erfährt. Ihr Gegenüber ist Oscar, ein dreiundvierzigjähriger Schriftsteller, welcher sie noch aus seiner Kindheit kennt. Denn Rebecca war eine Zeit lang die beste Freundin von Oscars Schwester Corinne. Die Dritte und eher passive Teilnehmerin dieser illustren digitalen Runde ist Zoé, Ende Zwanzig und als radikale Feministin der jüngsten Generation in den sozialen Medien unterwegs. Zoé wurde vor einigen Jahren durch das aufdringliche Verhalten Oscars aus ihrer Stelle als Pressereferentin aus Oscars Verlag gekickt. Bevor die MeToo-Bewegung es Frauen ermöglichte, offen über Belästigungen und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz zu reden. Mit einem Post auf ihrem Blog kommt nun ein Shitstorm ins Rollen, der nicht nur Oscar sondern auch von rechts außen Zoé zu überrollen droht.

All dies und noch viel, viel mehr bekommen wir als Leser:innen des vorliegenden Briefromans nun über Bande mit. Über mehrere Monate hinweg begleiten wir vor allem Rebecca und Oscar bei ihrer rein digitalen Konversation. Potentielle Leser:innen, die vom harschen Beginn des Romans abgeschreckt werden könnten, kann man beruhigen: Keineswegs verfällt Despentes in eine vulgäre Sprache. Nein, sehr differenziert aber immer authentisch im Sprachstil werden große und wichtige Themen unserer Gegenwart angesprochen und diskutiert. Als Leser:in fühlt man sich dabei empathisch mal zu Rebecca, mal zu Zoé und tatsächlich auch mal zu Oscar hingezogen. Und gleichzeitig hat man das Gefühl von allen Protagonist:innen auch massiv abgestoßen zu werden. Mitunter vertreten sie krasse Standpunkte bezogen auf Feminismus, Drogenkonsum oder die Anti-Coronamaßnahmen, das Altern von Frauen vs. Männern und die damit verbundenen Ansprüche der Gesellschaft an sie.

Nun nutzt die Autorin die Form des Briefromans ganz geschickt, um viele verschiedene Sichtweisen auf einen Sachverhalt ins Rennen zu bringen. Aus vielen Blickwinkeln werden zentrale Themen der letzten Jahre (ausgenommen dem Ukraine-Krieg, welcher im zeitraum des Romanverlaufs noch nicht begonnen hatte) beleuchtet und als Lesende lernen wir unglaublich viel durch die Argumentationslinien der hier Schreibenden. Da sie aus jeweils unterschiedlichen Generationen stammen, treffen gegenteilige Ansichten aufeinander. Man selbst kann sich dann aussuchen, was einen überzeugt. Sehr viele kluge Beispiele zu problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen werden von Despentes ins Feld geführt ohne über den gesamten Roman hinweg mit „der einen“ klaren Aussage moralinsauer auf die Rezipient:innen einwirken zu wollen.

Punkte Abzug gibt es meinerseits nur für die recht platte Art, wie der Emailkontakt von der Autorin eingefädelt wird. Da fragt man sich zu Beginn doch, warum überhaupt diese Personen so ausführlich einander schreiben, wenn sie sich doch auf den ersten Blick außer Beleidigungen nicht viel zu sagen haben. Recht schnell wird es dann aber inhaltlich intensiv mit persönlichen Einblicken und Eingeständnissen der Protagonisten. Zusätzlich wirkt es dann recht offensichtlich konstruiert, dass hier scheinbar jeder jeden kennt. Diese Kritikpunkte treten aber hinter dem Großen und Ganzen zurück.

Die Veränderungsfähigkeit der Figuren über diesen recht langen Zeitraum der Korrespondenz hinweg hat mit hingegen sehr gut gefallen und war auch sehr gut nachvollziehbar und plausibel erzählt. Diese Flexibilität und Plastizität wurde ja auch von uns verlangt in den letzten Jahren. Eine Krise, ein Skandal löste den nächsten ab. So konstatiert Rebecca an einer Stelle, als gerade das Coronavirus in Europa Einzug gehalten hat, gegenüber Oscar, der noch mitten in seinem Belästigungsskandal steckt: „Und in diesem Schlamassel denke ich an dich, mein dummer Freund. Und sage mir, du wirst erleichtert sein. Dieses verdammte Coronavirus wird deinem #MeToo den Rang ablaufen…“ Eine Krise läuft hier der vorherigen den Rang ab. Ja, genauso sahen unsere letzten Jahre aus auf der Welt.

Virginie Despentes entwirft einen klugen Briefroman, der sprachlich wie auch inhaltlich überzeugt. Ich habe ihn sehr gern gelesen, während die Seiten nur so dahinflogen. Eine klare Leseempfehlung meinerseits.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 18.05.2025

Eine Frau, die nie aufgegeben hat

Schwebende Lasten
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Die in Magdeburg geborene Autorin Annett Gröschner beschäftigt sich in ihrem Roman „Schwebende Lasten“ mit dem gesamten Leben einer Frau, die bis auf eine kurze Unterbrechung mit Aufenthalt in Berlin durchgängig ...

Die in Magdeburg geborene Autorin Annett Gröschner beschäftigt sich in ihrem Roman „Schwebende Lasten“ mit dem gesamten Leben einer Frau, die bis auf eine kurze Unterbrechung mit Aufenthalt in Berlin durchgängig in Magdeburg lebte, arbeitete und eine Familie gründete. Dabei umspannt das nur 280 Seiten dünne Buch einen Zeitraum von über 80 Jahren, tangiert kurz die Weimarer Republik, die Zeit des Dritten Reichs, die Entstehung der DDR und deren Übernahme durch die BRD. All diese Geschichte passiert hier allerdings vorwiegend am Rande, denn eigentlich geht es um Hanna Krause, die früh ihre Mutter verliert, der polnische Vater nie anwesend, quasi als Vollwaise von ihren Halbschwestern aufgezogen, ausgebildet als Blumenbinderin und mit eigenem Blumenladen ein wenig erfolgreich, wird sie Jahrzehnte lang dafür kämpfen ihre Familie zusammenzuhalten und nicht immer erfolgreich dabei sein. In der zweiten Hälfte ihres Arbeitslebens wird sie in der DDR Kranführerin sein und letztlich daran wachsen. Hier gibt es viel Last, die diese Figur tragen muss, aber auch Momente, die wie ein Dahinschweben in der Zeit wirken.

Sprachlich unaufgeregt erzählt Gröschner von diesem Leben, welches von Höhen und Tiefpunkten gezeichnet ist, aber die Figur Hanna niemals in die Knie gänzlich zwingt. Nach meinem Empfinden passiert dies größtenteils mit einer Distanz zur Figur und einer Art Abgeklärtheit, die viele Ereignisse auf wenige Seiten packt, sodass ich selbst nur selten Hanna und ihrem Befinden nah sein konnte. Nur in einzelnen Szenen, wie ein Feuersturm bei einer Bombardierung Magdeburgs und dessen Folgen, packte mich der Erzählstil und ich konnte mir die Ausmaße dieser Katastrophe sehr genau – wenn natürlich auch nicht ansatzweise originalgetreu – vorstellen. Insgesamt ging mir alles zu schnell, um richtig mit Hanna und ihrer Familie mitzuschwingen. Ihr soziales Umfeld blieb für mich größtenteils nur Namen, ohne konkretes Bild zu ihnen und ihrer Persönlichkeit.

Stilistisch treten den Kapitelanfänge hervor, welchen jeweils ein Eintrag zu verschiedenen Blumensorten vorangestellt ist. So wird hier ein Blumenstrauß zusammengestellt, bei dem man sich fragt: Kann ein Mensch das überhaupt alles erlebt haben? Ähnlich einem Strauß, zu dessen Anfertigung Hanna gebeten wird, der aber gar nicht so zu binden geht, weil die Pflanzen zu ganz unterschiedlichen Jahreszeiten blühen. Hanna Krause hat zu ganz unterschiedlichen historischen „Jahreszeiten“ gelebt und ihr Leben wird in diesem Buch geschickt zusammengebunden zu einem eng verknüpftem, sehr durchmischten Strauß. Sehr interessant gemacht.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 23.03.2025

Rätselhaft-dystopisches Szenario

Schweben
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Amira Ben Saouds Debütroman skizziert eine Zeit in der Zukunft, in der es nur noch vereinzelte menschliche Enklaven gibt, die untereinander nur durch Warenaustausch Kontakt hegen. Den Menschen in den Siedlungen ...

Amira Ben Saouds Debütroman skizziert eine Zeit in der Zukunft, in der es nur noch vereinzelte menschliche Enklaven gibt, die untereinander nur durch Warenaustausch Kontakt hegen. Den Menschen in den Siedlungen wird gesagt, sie würden sterben, falls sie die Siedlung verlassen sollten. Ein Ausstoß ist also die Höchststrafe für die Bewohner und Eindringlinge aus anderen Siedlungen werden direkt an der Grenze erschossen. In dieser Welt, in der „das System“ solch einengende Gewalt an seinen Bürgern ausübt, soll es keine Gewalt mehr geben, denn sie ist verboten. Aber irgendetwas rumort hier. Jugendliche verprügeln sich gegenseitig, es gibt Tote und es gibt Menschen, die die Siedlung angeblich verlassen, trotz der drohenden Gefahren im Außen. Eine davon ist Emma gewesen und deren Ehemann Gil versucht nun durch ein sogenanntes „Begegnung“-Erlebnis mit der Hauptfigur, die ihren eigenen Namen nicht mehr kennt, weil sie schon zu lange beruflich in die Rollen fremder Menschen schlüpft, die Beziehung nachzustellen, um besser über den Verlust Emmas hinwegzukommen. Emma sei verrückt gewesen und umso länger sich unsere Hauptfigur in der Rolle Emmas befindet, umso verrückter wirkt sie selbst. Die Realität scheint aus den Fugen zu geraten.

Die Autorin bindet in ihren Roman interessante Ideen zu einem zukünftigen Gesellschaftsentwurf ein, die nie ganz ausgearbeitet werden und häufig nur angedeutet bleiben. Das System dahinter bleibt vage, lässt aber eindeutig vermuten, dass es sich hier um eine dystopische Zukunft handelt. Alles läuft immer mehr aus der Bahn, nicht nur die Gedanken und das Handeln der Hauptfigur. Diese ist ebenso rätselhaft wie das Szenario angelegt. Da sie neben ihrem eigenen Namen auch ihre eigene Persönlichkeit unter den vielen angenommenen vergraben zu haben scheint, ist sie und ihre Motive auch sehr schwer greifbar, ebenso wie wichtige Nebenfiguren. Das erschwert nicht das Lektüreerlebnis, denn der Roman lässt sich sehr angenehm lesen. Aber es erschwert das Dahintersteigen, hinter die Figuren, das System, die Handlung. Unbeantwortete Fragen und offene Erzählstränge muss man gut tolerieren können, genauso wie surreale Ereignisse.

Das ergibt insgesamt einen durchaus interessanten Genremix, der literarisch ansprechend geschrieben ist und anregende Gedankenexperimente andeutet. Das Buch reißt auch Themen wie Identitätsprägungen und toxische Beziehungen an, ohne die Verhaltensweisen und Beweggründe der agierenden Personen genauer auszuleuchten. So werden mir etwas zu viele Themen und Ideen angesprochen. Eine Konzentration auf weniger, dann aber detaillierter, hätte mir etwas besser gefallen. Das Buch habe ich durchgängig gern gelesen, bleibe jedoch nach der Lektüre zu stark orientierungslos schwebend zurück.

Für alle, denen das lobende Zitat von Clemens J. Setz im Klappentext aufgefallen ist: Ja, die Leser:innen seiner Bücher finden „Schweben“ ob des Stils sicherlich auch sehr ansprechend. Mit 187 Seiten wäre das bei Setz allerdings „nur“ eine Novelle. ;)

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 21.02.2025

Wenig Literatur, dafür umso mehr moralische Denkanstöße

Dunkle Momente
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Die als „Roman“ bezeichnete Veröffentlichung der Professorin für Strafrecht sowie sowie Richterin Elisa Hoven ist vielmehr eine Sammlung an neun literarisch aufgearbeiteten, juristischen Fallvignetten, ...

Die als „Roman“ bezeichnete Veröffentlichung der Professorin für Strafrecht sowie sowie Richterin Elisa Hoven ist vielmehr eine Sammlung an neun literarisch aufgearbeiteten, juristischen Fallvignetten, die lose durch die Bedenken einer Strafverteidigerin an ihrer eigenen Arbeit zusammengehalten werden. Eva Herbergen teilt uns direkt zu Beginn des Buches mit, dass sie ihre Anwaltszulassung als Strafverteidigerin in Berlin zurückgeben wird. Wie es zu dieser Entscheidung, welche sich bereits 20 Jahre zuvor als Zweifel in ihr Leben schlich, erfahren wir nach und nach, indem wir verschiedene Fälle aus ihrem beruflichen Leben und wie diese ihre moralischen Stützpfeiler ins Wanken brachten geschildert bekommen. Dabei sei für Betroffene gesagt: Es wird auch ein Fall einer heftigen Gruppenvergewaltigung beschrieben.

Fast wie Kurzgeschichten wirken die einzelnen Fälle der Eva Herbergen im Buch präsentiert. Immer mit einer prägnanten Überschrift, der zeitlichen Einordnung und einer innerhalb der Fälle klare Einteilung mit Teilüberschriften. Jeder Fall wirkt auf den ersten Blick rechtlich wie moralisch erst einmal auf den ersten Seiten recht eindeutig. Erst mit dem Blick von verschiedenen Seiten und im Verlauf erkennen die Leser:innen wie auch die Strafverteidigerin selbst, dass ein Sachverhalt nie so einfach ist, wie er erst einmal scheint. Selbst wenn sich juristische Klarheit schaffen lässt, bleiben bei jeder Geschichte starke moralische Zweifel zurück. Ein jeder Fall stellt ein moralisches Dilemma dar. Es wird immer klarer, dass „Recht“ nicht dasselbe wie „Gerechtigkeit“ sein muss. Dass der Rechtsstaat, der mehr als eine Berechtigung hat und wir froh sein sollten, dass es ihn in Deutschland gibt, jedoch nicht immer jeder betroffenen Person Gerechtigkeit verschaffen kann. Und so wie Eva Herbergen immer mehr Schwierigkeiten hat zu erkennen, was richtig und was falsch ist, so ergeht es auch den Leser:innen dieses Buches. Man ist hin und her gerissen zwischen den handelnden Personen, fragt sich zunehmend, wer ist eigentlich „Täter“ und wer „Opfer“ und wie eindeutig kann diese Zuschreibung überhaupt sein. Gerade der menschliche Faktor im Rechtssystem wird von Elisa Hoven besonders herausgestellt, was von Natur aus schon eine Einordnung in ein stringentes System von Paragraphen erschwert bis unmöglich macht.

Während diese vielen moralischen Dilemmata für mich das Kernstück des Buches darstellen und ich jedes für sich genommen unglaublich interessant fand, muss ich konstatieren, dass das Buch literarisch eher wenig zu bieten hat. Der Roman ist sehr konventionell bis sprachlich simpel geschrieben. Die starke Strukturierung scheint der Annäherung an Fallvignetten geschuldet zu sein, hat für mich das Buch allerdings auch in ein starres Korsett geschnürt. Vom Spannungsbogen her stellt für mich der siebte Fall, die Vergewaltigung, die Klimax dar. Die zwei Fälle, die danach geschildert werden, sind zwar für die Entscheidung der Protagonistin ihre Zulassung zurückzugeben besonders wichtig, verblassten allerdings für mich nach dem heftigen siebten Fall. Fast nebensächlich wirkten sie im Vergleich. Aber das kann an meiner eigenen moralischen Einschätzung liegen.

Und genau das ist die Stärke des Buches: Das ständige Hinterfragen eigener moralischer Prinzipien. Die Frage: Wie hätte ich agiert, geurteilt, verteidigt? Deshalb entscheide ich mich auch ganz knapp für ein Aufrunden auf 4 Sterne. Literarisch ist das Buch für mich solide, aber nicht mehr als 3 Sterne in der eigenen Bewertung, inhaltlich allerdings greift es viele Ambiguitäten auf, was mir sehr gut gefallen hat und mich das Buch atemlos hat lesen lassen.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 21.02.2025

Geschickt verknüpft, aber ausbaufähig

Unter Grund
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In ihrem Debütroman verknüpft Annegret Liepold geschickt die Geschichte von Franka in der „Gegenwart“ (ca. 2017), welche aktuell ein Referendariat in einer Schule in München absolviert und mit der Klasse ...

In ihrem Debütroman verknüpft Annegret Liepold geschickt die Geschichte von Franka in der „Gegenwart“ (ca. 2017), welche aktuell ein Referendariat in einer Schule in München absolviert und mit der Klasse zu Beginn des Romans den laufenden NSU-Prozess besucht, und der jugendlichen Franka im Jahre 2006, die sich in ihrem Heimatdorf mehr und mehr einer rechten(-extremen) Clique annähert. Somit verbindet die Autorin, wie Menschen ganz graduell in ein rechtes Milieu rutschen können, zu welchen Handlungen dies im Extremfall führen kann und letztlich durch die Verbindung zum NSU-Prozess, welche katastrophalen Folgen eine solche Gesinnung und ein solches Handeln haben können. Der Titel „Unter Grund“ ist diesbezüglich natürlich hervorragend gewählt, lassen sich doch durch verschiedene Sprechweisen auch Deutungsmöglichkeiten implizieren.

Neben Franka, die wir durch sowohl Rückblicke in ihre Jugend als auch fortschreitende Geschehnisse in ihrer Gegenwart immer besser verstehen lernen, tauchen auch diverse Nebenfiguren auf, die das gesamte Spektrum von politisch links und alternativ bis hin zu knallhart rechtsextrem auffächern. Während Franke zunächst noch in der Schule mit einem Antifa-Sympathisanten befreundet ist, lernt sie zufällig Gleichaltrige aus dem rechten Spektrum kennen und lässt sich bereitwillig von deren Charisma mitziehen. Aber auch auf der familiären Ebene lernen wir Menschen kennen, die wie Frankas Mutter weltoffen agiert oder lesen Geschichten über ihre Großmutter „Die Füchsin“, die während ihrer Jugend straffe Anhängerin der nationalsozialistischen Ideologie war und bis ins hohe Alter einen großen Einfluss in der Familie ausübte.

Nachdem ich nach dem fulminanten Einstieg zum Zeitpunkt des NSU-Prozesses erst einmal etwas Probleme hatte, mich in den Rückblicken von Franka zurechtzufinden, tauchte ich mehr und mehr in ihre Vergangenheit ein und beobachtete fasziniert, wie aus einer politisch eher neutralen Person innerhalb weniger Wochen eine Rechtsextreme werden kann. Dabei legt die Autorin immer wieder Hinweise aus, dass hierfür nicht allein die Peergroup verantwortlich ist, sondern auch die Familienhistorie. Hier hätte ich mir etwas detailliertere Ausführungen zur Großmutter und zum Vater der Protagonistin gewünscht. Es kann aber auch sein, dass die Autorin dies beabsichtigt vage gehalten hat, um uns aufzuzeigen, dass wir nicht vollkommen bewusst indoktriniert werden müssen, um trotzdem davon beeinflusst zu werden. Trotzdem kam mir dies etwas zu kurz.

Letztlich fand ich besonders sie Beschreibungen von verschiedenen Aktionen innerhalb der rechten Szene sehr interessant zu lesen. Die Autorin deutet letztlich nur an, wie Franka letztlich von der Rechtsextremen wieder ihren Weg zurück zur Mitte gefunden hat und nun ihrer Vergangenheit, mit der sie sich nicht mehr in der „Gegenwart“ identifiziert, gegenübertreten muss. Auch hier wäre ich der Protagonistin sehr gern bei ihrem Erkenntnisprozess einer Endradikalisierung genauer gefolgt.

Auch wenn der Roman meines Erachtens nach noch ausbaufähig gewesen wäre, kann ich eine Lektüre empfehlen. Er ist sprachlich solide verfasst und behandelt den Themenkomplex der politischen Radikalisierung aus einem interessanten Blickwinkel. Obwohl mir die Entscheidung sehr schwer fällt, tendiere ich zum Aufrunden auf 4 Sterne. Die Autorin hat definitiv Potenzial und ich bin gespannt, was sie nach diesem Debüt veröffentlicht.

3,5/5 Sterne

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