Überspitzt und entlarvend
Nach MitternachtIrmgard Keun schieb einen großen Teil des Romans vor ihrem Exil 1936. Sie ist daher ganz nah dran am alltäglichen Leben in Deutschland, das durch die NS-Diktatur vergiftet wird. Ihre Ich-Erzählerin, die ...
Irmgard Keun schieb einen großen Teil des Romans vor ihrem Exil 1936. Sie ist daher ganz nah dran am alltäglichen Leben in Deutschland, das durch die NS-Diktatur vergiftet wird. Ihre Ich-Erzählerin, die 19-jährige Sanne, stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Durch ihre Augen und Ohren sehen und hören wir, wie das Regime in den Alltag hineinwirkt. Ein besonderes Augenmerk richtet sie auf die Sprache, den Gespräche werden viele geführt in diesem Roman, in den Kneipen, auf der Straße, bei Festen und Aufmärschen. Einerseits entlarvt die überspitzte Darstellung und die scheinbare Naivität der Protagonistin die Diktatur und ihre Machthaber und macht sie lächerlich, andererseits wird deutlich, wie sich der willkürliche Terror ausgebreitet hat. Das Denunziantentum spielt dann auch eine wichtige Rolle im Leben von Sanne und ihrem Freund Franz und zwingt die beiden zu einer Entscheidung nach Mitternacht.
Trotz der Kürze des Textes (173 Seiten) entfaltet Keun ein Panorama der Zeit. Das Nachwort von Heinrich Detering trägt sehr zum Verständnis des Textes bei, vor allem was den Ursprung der "verklausulierten" Sprache betrifft. Ein wichtiger Klassiker, den ich gerne gelesen habe.
Ich habe mir viele Textstellen markiert, hier nur zwei Beispiele, wie Keun mit der besonderen Sprache dieses Romans den Alltag schildert:
"Und langsam fuhr ein Auto vorbei, darin stand der Führer wie der Prinz Karneval im Karnevalszug. Aber er war nicht so lustig und fröhlich wie der Prinz Karneval und warf auch keine Bonbons und Sträußchen, sondern hob nur eine leere Hand." (S. 31)
"Und immer mehr Menschen strömen herbei, das Gestapo-Zimmer scheint die reinste Wallfahrtsstätte. Mütter zeigen ihre Schwiegertöchter an, Töchter ihre Schwiegerväter, Brüder ihre Schwestern, Schwestern ihre Brüder, Freunde ihre Freunde, Stammtischgenossen ihre Stammtischgenossen, Nachbarn ihre Nachbarn. Und die Schreibmaschinen klappern, klappern, klappern, alles wird zu Protokoll genommen, alle Anzeigenden werden gut und freundlich behandelt." (S. 80)