Eine Geschichte, die einen nicht so leicht loslässt
BabelEs gibt Bücher, bei denen man lacht. Bücher, bei denen man weint. Bücher, bei denen man mitfiebert. Bücher, bei denen man am liebsten in der Welt verschwinden würde und mit den Figuren befreundet sein ...
Es gibt Bücher, bei denen man lacht. Bücher, bei denen man weint. Bücher, bei denen man mitfiebert. Bücher, bei denen man am liebsten in der Welt verschwinden würde und mit den Figuren befreundet sein möchte. Und dann gibt es die Bücher, die einen nicht mehr loslassen. Bücher, die tausende Gefühle in einem lostreten. Bücher, die man nicht mehr so schnell vergisst. Babel ist für mich so ein Buch.
Die Geschichte fängt mit einem kleinen Waisenjungen an, der vor dem Nichts steht und von einem ihm unbekannten Professor nach London gebracht wird. Dort erhält er eine Ausbildung mit dem Fokus auf Sprachen, um später an die Universität in Oxford gehen und dort am Königlichen Institut für Übersetzung, bekannt unter dem Namen “Babel”, studieren zu können. Unseren Protagonisten Robin verfolgen wir von Kindesbeinen an über seine Kindheit und Jugend beim Professor und seine darauf folgende Universitätszeit. Der Dark-Academia Roman legt dabei großen Wert auf die Beschreibung von Lernprozessen, Unterrichtsstunden und füttert auch die Lesenden, in Form von Fußnoten, immer wieder mit interessanten Fakten und Informationen. Nicht selten habe ich mich beim Lesen selbst an meine Schul- und Universitätszeit erinnert. Das atmosphärische Setting an der Universität tat dabei sein Übriges. Hinzu kam die tiefgreifende Beschäftigung mit Sprache und Übersetzung. Da ich Germanistik studiere und deshalb eine große Liebe für Wörter und ihre Bedeutung in mir trage, haben mich die Erzählungen davon sehr fasziniert.
Der Schreibstil der Autorin ist intelligent, komplex und direkt. Sie verwebt reale Ereignisse so gefühlt mühelos mit ihrer fiktionalen Welt, dass ich manchmal das Gefühl hatte, all das könnte wirklich passiert sein. Selbst das Magiesystem hat sich für mich unglaublich real angefühlt. R. F. Kuang schreckt nicht davor zurück schwere Thematiken anzusprechen. Rassismus, Kolonialismus, Sexismus - all das sind Hauptbestandteile des Buches. Das macht das Buch zu einer sehr dunklen, schweren Geschichte, die man nicht einfach mal so weglesen kann. Aber genau das hat mich so sehr beeindruckt. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund und zeigt die schrecklichen Auswirkungen von Diskriminierung, vor denen man gerne, weil es als Außenstehender einfach ist, die Augen verschließt. Dabei zeigt sie an den verschiedenen Figuren im Buch, wie unterschiedlich Menschen mit solchen Dingen umgehen.
Damit komme ich auch zur, für mich, größten Stärke des Buches - die Charaktere und ihre Entwicklung. Neben Robin, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt ist, lernt man auch seine Freundinnen Letty und Victoire und seinen Freund Ramy sehr gut kennen. Sie alle haben ihre eigene Hintergrundgeschichte, ihre eigenen Motive und Antriebe. Die Charaktere sind komplex und facettenreich, sie treffen Entscheidungen, die man manchmal nicht nachvollziehen kann, sie machen Fehler und fühlen sich dadurch einfach menschlich an. Es gibt nicht nur “gut” und “schlecht”, sondern jeder Mensch hat Graustufen und das hat die Autorin fantastisch umgesetzt. Insbesondere die Charakterentwicklung von Robin ist bemerkenswert und hat mich emotional sehr bewegt. Dazu kam die Dynamik der Freundschaft der vier Hauptfiguren, von der ich unglaublich gerne gelesen habe. Zugehörigkeit spielt dabei als Motiv eine große Rolle und wie die Freundesgruppe es schafft, sich einen eigenen “Safe Space” in dieser ungerechten Welt zu schaffen.
Babel hat mich emotional fertig gemacht. Es gab Stellen an denen ich fassungslos war, Stellen an denen ich geheult habe, wie lange nicht mehr bei einem Buch. Und trotzdem hatte ich ein wohliges Gefühl, wenn ich die Freundesgruppe in ihrem Leben begleiten konnte. Auch wenn das Buch recht lang ist, hätte es für mein Empfinden teilweise noch mehr Seiten sein können. Einige Szenen oder Ereignisse sind im Gegensatz zu anderen recht schnell vonstatten gegangen, weshalb ich da gerne auch etwas mehr gelesen hätte.
Für mich bleibt Babel am Ende die Geschichte von einem Jungen, der nicht weiß wo sein Platz in der Welt ist, weil diese Welt eigentlich keinen Platz für ihn hat. Es ist eine Geschichte von Freundschaft und Zusammenhalt, wenn man niemanden sonst hat. Aber es ist auch eine Geschichte über das Finden der eigenen Identität, die Bedeutung von Heimat und Herkunft und den Mut etwas zu tun, aber auch die Angst zu versagen und alles zu verlieren, was man bisher kannte. Babel hat mich tief berührt, hat mich nachdenklich gemacht, hat mich dazu gebracht, mein eigenes Denken zu reflektieren. Babel ist schwer, es tut weh, es zeigt Ereignisse, von denen man eigentlich nichts hören will, aber von denen man hören muss, um zu verstehen und um Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. R. F. Kuang hat mit Babel einen Roman geschaffen, der sich mit gesellschaftlichen Problemen der Vergangenheit und auch der Gegenwart befasst und dabei Fragen von Rassismus, Privilegien, Diskriminierung, Macht, Recht und Unrecht und der Bedeutung von Sprache in diesen Kontexten aufwirft.
Von mir bekommt Babel 4,5 von 5 Sternen. Abzug gibt es nur, weil ich an ein paar Stellen etwas Probleme mit dem Tempo hatte und dadurch Entwicklungen nicht ganz zum Rest des Buches gepasst haben. Ansonsten kann ich lediglich eine riesige Leseempfehlung geben und hoffe, dass viele Menschen dazu greifen werden.