Vielschichtig und tiefgreifend
Übung in GehorsamSie war das Vorausahnen von Bedürfnissen, durch die Pflege ihrer Geschwister, seit frühester Kindheit gewohnt.
Ich war das jüngste Kind, das jüngste von vielen, mehr als zu erinnern mir lieb ist. ...
Sie war das Vorausahnen von Bedürfnissen, durch die Pflege ihrer Geschwister, seit frühester Kindheit gewohnt.
Ich war das jüngste Kind, das jüngste von vielen, mehr als zu erinnern mir lieb ist. S. 11
Die totale Hingabe an die anderen, allen gerecht zu werden, machte es ihr nötig, sich selbst zu verkleinern und zu verringern.
In ihrem späteren Leben hatte sie keine Verpflichtungen. Das Leben war längst an ihr vorbeigezogen. Sie hatte eine Weile als Journalistin gearbeitet, die Nachrichtenagentur aber dann verlassen müssen, weil der unbefristete Arbeitsvertrag das so vorgab. In diesem kaum Vorhandensein, kaum Wahrgenommenwerden, rief ihr ältester Bruder sie an, um eine Bitte vorzutragen. Er hatte sich kürzlich von seiner Frau, den jugendlichen Kindern und deren wachsenden Forderungen getrennt. Da er sich jetzt inständiger um seine Geschäfte kümmern würde, brauchte er jemanden, der sein Haus betreute. Das großzügige alte Herrenhaus lag im Norden, in dem Städtchen, in dem schon der Großvater gelebt hatte, damals, bevor sich die Dinge zu seinem Nachteil veränderten. Frei jeglicher Verpflichtungen sagte sie zu, ihrem Bruder zu dienen.
Er erzählte ihr von der verheerenden Ehe, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war. Sie hätten zu viel übereinander gewusst und das stillschweigende Gelübde gebrochen, einander nie zu erzählen, welche Scheußlichkeiten man im anderen erblickte. Sie sei heimlich eines Nachts mit den Kindern nach Lugano zu ihrer Familie verschwunden.
Sie verrichtete den Dienstplan ihres Bruders an Frau und Kindern statt und putzte, wusch, kochte, kaufte ein, heizte ein, hackte Holz und pflegte den Garten. An jedem Morgen weckte sie den Bruder mit dem Frühstückstablett, legte ihm die Kleidung heraus, ließ sein Bad ein und während er im Wasser lag, las sie ihm die neuesten politischen Skandale der Kreisstadt vor. Doch schon bald erkrankte der Bruder.
Fazit: Sarah Bernstein hat eine Geschichte von großer Tiefe und Tragweite geschaffen. Ihre Protagonistin, schon ganz früh aufs Kümmern getrimmt, muss sich den kleinen sadistischen Anfeindungen, vor allem des älteren Bruders aussetzen. Der Verlust der Kindheit und der Druck der Verantwortung lässt sie in devoter Unterwürfigkeit verharren. Im Erwachsenenalter hinterlassen mögliche Partner oder Partnerinnen eine tiefe Leere in ihr. Ihrem Bruder zu dienen, von ihm gebraucht zu sein, scheint ihr das sinnvollste. Sie sucht keinen Kontakt zur Dorfgemeinschaft, lernt, obwohl sprachbegabt, deren Sprache nicht. Sie genießt die Einsamkeit der Wälder jede freie Minute. Als sie das Dorf doch aufsuchen muss, um Vorräte zu besorgen, reagieren die Menschen verhalten bis abweisend auf sie. Man bekreuzigt sich, Mütter klappen die Verdecke ihrer Kinderwagen hoch und wenden sich ab. Seit sie in dem Herrenhaus aufgetaucht ist, ereignen sich allerlei Ungereimtheiten. Die Schweinepest, die Vogelgrippe und eine Kartoffelfäule. In ihrer grenzenlosen Unbeholfenheit mahnt sie sich zu mehr Verständnis und Einsicht zugunsten der Dorfbewohner. Bald wird klar, dass die Familie der Protagonistin jüdisch ist, die Dorfbewohner sind Christen. Der Anklang an Vertreibung und Heimatlosigkeit wird zart angedeutet. Die nebulöse Stimmung in der symbolträchtigen Geschichte lässt viel Interpretationsspielraum. Doch ich glaube zwei Deutugsstränge zu erkennen. Zum einen den machtausübenden Bruder und die opferbereite und damit manipulative Schwester, die den Bruder zuerst an unsichtbaren Zügeln führt und später offensichtlich übergriffig bedrängt. Zum anderen die unterdrückte Schwester mit der großen Opfer- ja fast Bußbereitschaft. Ein Leben, das mit so viel Scham und Schuld behaftet ist, wie es die Leben von traumatisierten Menschen oft sind. Außerdem die Feindseligkeit der Dörfler, die die grenzenlose Einsamkeit eines Menschen, der aus guten Gründen andere Menschen meidet, verstärkt. Jemand wird grundlos ausgeschlossen. Sie ordnet sich unter bis zur Unsichtbarkeit. Das klingt schon alles nach einem Jahrhunderte währenden jüdischen Leben, mit allen nicht zu rechtfertigen Konsequenzen von außen. Was für ein gelungenes Buch, das mich so sehr zum Nachdenken inspiriert hat. Toda raba