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Veröffentlicht am 15.09.2016

Vieles wird angedeutet...

Neringa
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"Neringa oder die andere Art der Heimkehr" ist ein melancholisch-ruhiger Roman mit wunderschönem Sprachgebrauch über Heimat, Identität, Erinnern und Zulassen.

Midlife-Crisis, Suche nach dem Sinn des ...

"Neringa oder die andere Art der Heimkehr" ist ein melancholisch-ruhiger Roman mit wunderschönem Sprachgebrauch über Heimat, Identität, Erinnern und Zulassen.

Midlife-Crisis, Suche nach dem Sinn des Lebens, zarte Liebesgeschichte, Middle Ager auf Sinnsuche verliebt sich in jüngere ausländische Putzfrau, beruflicher Erfolg bei privater Einsamkeit, Reise in die Vergangenheit, Verklärung der Familiengeschichte und Realität - das alles und nicht weniger könnte der Leser als Grund-Handlung des Buches nennen. Noch nie habe ich jedoch derart viele Probleme mit der Rezension gehabt, einfach weil sich Autor Stefan Moster vielfach entzieht, vieles nur andeutet, besonders bei seinem Protagonisten: wenn man sich die sehr verstreuten Daten zusammensucht, teilt Moster mit diesem Geburtsjahr, -monat und -ort sowie den Vornamen.

Moster wechselt zwischen der Gegenwart seines Ich-Erzählers und dessen Heranwachsen und Adoleszens, streut Erinnertes über Dritte ein, speziell über den geliebten Großvater mütterlicherseits, dessen Schritten und Spuren als Pflasterer er nachzuspüren versucht.

Diese Suche im Kontrast mit dem Leben der Hauptfigur machte für mich den Reiz der Lektüre aus, da dabei allgemein gültige Fragen aufgeworfen werden: was sollte von einem bleiben? Was kann Erinnerung - was bringt sie mir? Worin liegt der Sinn für mich?

Durch die langsame zarte Liebe mit seiner ehemaligen Putzfrau, die er entlässt, um sich ihr auf gleicher Ebene nähern zu können, findet der bisherige Zweifler in kleinen Schritten zu sich selbst. Vor ihr lernt er zuletzt: „Das einzige, womit wir die Toten beschenken können,
sind liebevolle Legenden“ (S. 280).



ACHTUNG, aber hier ggf. Spoiler:

Über seine Hauptfigur legt der Autor etliche Fährten, lässt auch diese solchen nachspüren: „Konnte man sich auf das verlassen, was man sich im Namen der Erinnerungen zusammenreimt?“ (S. 233). So idealisieren die Erinnerungen den Großvater, ungeachtet des gleich zu Anfang beschriebenen "Beinahe-Totschlags im Affekt" an seiner Ehefrau oder der fast untergehenden Bemerkung „…und dann greift er zum Schürhaken.“ (S. 93). Die Erinnerungen an die Eltern evozieren eine unglückliche Kindheit durch deren Desinteresse - dabei gratulieren diese der erwachsenen Sohn als einzige zum fünfzigsten Geburtstag, erwarten ihn (wie immer?) zu Weihnachten. Die Hauptfigur neigt(e) zu Selbstverletzungen, hatte Suizidgedanken, war deshalb über Jahre in Psychotherapie - auf der anderen Seite wird ein möglicher Missbrauch in der späteren Jugend durch den heimischen Pfarrer angedeutet als Ursprung für einen Ekel vor sich selbst.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Mystischer Schauerroman. Ein Jugendbuch als Einstieg zum Autor auch für Erwachsene

Der dunkle Wächter
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Wer Carlos Ruiz Zafóns „Der dunkle Wächter“ lesen will und zum Beispiel „Der Schatten des Windes“ von ihm kennt, sollte wissen, dass die „Nebeltrilogie“ („Der Fürst des Nebels“ von 1993, „Der Mitternachtspalast“ ...

Wer Carlos Ruiz Zafóns „Der dunkle Wächter“ lesen will und zum Beispiel „Der Schatten des Windes“ von ihm kennt, sollte wissen, dass die „Nebeltrilogie“ („Der Fürst des Nebels“ von 1993, „Der Mitternachtspalast“ von 1994 und eben „Der dunkle Wächter“ von 1995, jeweils Erscheinungsdaten der spanischen Originale) prinzipiell als Jugendlektüre angelegt ist. Ich war mir dessen vor dem Erwerb des Buches nicht bewusst und erwähne es, da man das durchaus merkt – sprachlich ist das Buch mitreißend, allerdings geht es entsprechend etwas weniger ins Detail zum Beispiel bei der Charakterzeichnung.


Dieses Buch entzieht sich in vielerlei Hinsicht – eine Rezension ist schwierig, ebenso eine Inhaltsangabe oder gar eine Einordnung in ein Genre.
Vorweg: ich werde nie ein Anhänger von Fantasy oder Mystery werden, weder bei Büchern noch bei Filmen – allerdings entdecken mich, so herum muss man es wohl formulieren, immer wieder einige spezielle Werke: ich bin begeistert vom Film „Der Krieger des Kaisers“ von Ching Tsiu-Tung, von den Büchern „Das Geisterhaus“ von Isabel Allende oder „Der Scheiterhaufen“ von György Dragomán mit ihren mystisch-phantastischen Anteilen.


Der Kern der Handlung spielt im Jahre 1937, nach dem Tod des Vaters ziehen die fast fünfzehnjährige Irene und ihr jüngerer Bruder Dorian Sauvelle mit der Mutter von Paris an die Küste der Normandie, wo letztere durch Annahme eines guten dotierten Arbeitsplatzes als Hauswirtschafterin den finanziellen Ruin von der Familie abwenden kann. Der neue Arbeitgeber, Lazarus Jann, ist Herr des palastartigen Cravenmoore nebst ehemaliger Spielzeugfabrik. Haus und umgebender Wald werden bevölkert von allerlei magischen Schöpfungen des Hausherren, künstlichen Lebewesen, mechanischen Figuren mit sehr realitätsnahen Bewegungen. Während Irene sich in den wenig älteren Ismael verliebt, offenbart sich langsam eine finstere unheimliche Seite im ländlichen Idyll, die bald schon zu einer Toten führt und noch weitere Leben bedroht.
„Der dunkle Wächter“ trägt im Original den Namen „Las Luces de Septiembre“, also die Septemberlichter – so heißt auch nicht nur ein ganzes Kapitel im Buch, sondern diese Septemberlichter werden durchgängig thematisiert, sie sind von der Leuchtturminsel vor der Küste sichtbar seit dort eine geheimnisumwobene Frau ertrank.

Die Handlung des Buches erkläre ich am besten als eine Mischung von „Rebecca“ von Daphne du Maurier, „Charlie und die Schokoladenfabrik“ von Roald Dahl, „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde, „Dr. Jekyll und Mr Hyde von Robert Louis Stevenson, gar Faust und mindestens noch etlichen weiteren, ohne im Ansatz wie eine Kopie zu erscheinen, dabei bewegt es sich fast erbarmungslos zwischen Jugendbuch, Liebesroman, Coming-of-Age-Geschichte und phantastischem Schauerroman.


Jetzt könnte ich hier meine Genre-Vorbehalte bestätigt sehen, doch fesseln mich Ruiz Zafóns Stärke der bildhaften Sprache und sein verwendetes Motiv: er arbeitet mit dem Konzept eines Doppelgängers, eines Schattens, der sich von seinem Besitzer gelöst hat und sich gegen diesen wendet, beschreibt, was passiert, wenn man einen Pakt mit dem Bösen eingeht. Dadurch, dass die Kernhandlung des Buches eingerahmt wird mit zwei Briefen zehn Jahre später, also 1947, ausgetauscht zwischen Irene und Ismael, schafft der Autor es sogar, die angedeuteten Parallelen dieses fatalen Bündnisses zu den Schrecken des Krieges greifbar zu machen. Ja, es bleiben Elemente von Mystery, sogar deutliche – aber dank des Autors als lesbare Alternative.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Suchtmittel mit tollem Preis, etwas unhandliches Format, geniale Idee Rätsel-Lösung auf Rücken

Nonogramm
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Nonogramme sind Logik-/Kombinatorik-Rätsel im Kästchen-Schema - für jede Zeile und jede Spalte steht am Rand, wie viele der Kästchen zusammenhängend anzumalen sind - allerdings nicht, welche davon exakt: ...

Nonogramme sind Logik-/Kombinatorik-Rätsel im Kästchen-Schema - für jede Zeile und jede Spalte steht am Rand, wie viele der Kästchen zusammenhängend anzumalen sind - allerdings nicht, welche davon exakt: Hat eine Zeile zum Beispiel 30 Kästchen und links daneben steht "16", dann sind die mittleren 2 Kästchen zwingend anzumalen, denn egal, von wo man die 16 Kästchen zählt, sind diese immer "mit dabei". Am Ende ergibt sich ein Bild mit einem Muster wie im Kreuzstich.

Ich bin süchtig nach Nonogrammen - allerdings kannte ich sie nicht unter diesem Namen. In der Vergangenheit hatte ich von P.M. im Zeitschriftenhandel die "Kreativ"-Hefte gekauft, da hießen die "Logik-Puzzle". Die Hefte waren deutlich teurer, die Nonogramme waren teils größer, es gab wesentlich weniger davon - dabei war das Format A4.

Ich liebe also den Preis, den Fischer Taschenbuch hier vorgibt, und die schiere Stärke des Buches = Anzahl der Rätsel. Allerdings muss man, gerade bei der Seitenzahl in Kombination mit dem Format, das Buch beim Malen immer festhalten (oder einmal sehr nachhaltig brutal werden). Ich überlege gerade - Querformat? Ringbuchbindung? Seiten perforiert zum Heraustrennen?

Was mich im Anfang irritiert hatte, war, die Lösungen direkt auf den Rückseiten zu platzieren - das finde ich jetzt geradewegs genial:

1. Wenn ich "spicken" will, ist es ziemlich egal, ob ich nach hinten blättere oder nur umblättere - es geschieht auch bei diesem Buchformat nicht häufiger (wenn man sich vertan hat, muss man ohnehin noch einmal sehr viele Schritte zurückgehen, nachzusehen hilft nur, wenn man komplett hängt)

2. Beim Ausmalen wird man immer etwas von der Farbe durchscheinen sehen - das ist jetzt dort sichtbar, wo es nicht stört, bei den Lösungen (und nicht bei einem noch frischen Motiv).

Mit mir selbst uneins bin ich noch beim Papier. Ich hatte mir eigentlich Filzmaler angewöhnt (ja, ich gehe auf Risiko - das geht bei diesem recht offenporigen Papier nicht (hat bei P.M. allerdings auch immer durchgeschienen). Am besten gefallen mir auf diesem Papier hier Wachsmalstifte - aber wirklich wichtig ist das für's Ziel auch icht. Man merkt deutlich, ob man hibbelig ist bei den Nonogrammen...

Ich vermisse noch mehrfarbige Nonogramme und wirklich so richtig schwierige Monster-Blätter, es gibt doch recht viele symmetrische Blätter (bei denen man dann auf beiden Hälften das gleiche tut) - Niveau des vorliegenden wäre also von Stufe 2 (ganz wenige) bis Stufe 4 von 5.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ruhige eindringliche Geschichte über Wege der Verlust-Verarbeitung

Bella mia
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https://www.youtube.com/watch?v=v48WRmli4QA - wie der Klappentext mitteilt, ist es dieses Volkslied, in dem von L’Aquila in den Abruzzen gesungen wird als „Bella Mia“. Das zerstörerische Erdbeben 2009 ...

https://www.youtube.com/watch?v=v48WRmli4QA - wie der Klappentext mitteilt, ist es dieses Volkslied, in dem von L’Aquila in den Abruzzen gesungen wird als „Bella Mia“. Das zerstörerische Erdbeben 2009 hatte ich nur noch schwach aus den damaligen Nachrichten in Erinnerung – was mir nicht präsent war: es hatte lange Zeit Vorbeben gegeben – und ebenso lange offizielle Beschwichtigungen. Häufig war beim Bau gepfuscht worden. Und danach wurde viel versprochen – und wenig gehalten.
http://www.spiegel.de/panorama/erdbeben-in-l-aquila-viel-geld-fuer-wenig-wiederaufbau-a-771336.html
https://de.wikipedia.org/wiki/L%E2%80%99Aquila


Die Ich-Erzählerin hat das Erdbeben überlebt, ihre Zwillingsschwester nicht, dafür deren Teenager-Sohn. Beider Häuser sind unbewohnbar und liegen jetzt in einer vom Militär bewachten Sperrzone, nicht viel wurde dort wieder hergestellt. Auch das Haus der Mutter der Zwillinge in einem Dorf in der Nähe wurde zerstört. Jetzt leben drei Generationen zusammen, der Heranwachsende Marco, die Tante Caterina und die Großmutter, in erdbebensicheren Wohnanlagen, schnell, aber schlampig errichtet für die vielen obdachlos gewordenen Menschen, Provisorien ohne sinnvolle Infrastruktur, defizitär in der Verkehrsanbindung wie für die menschlichen Beziehungen.
Auf dieser Ausgangssituation setzt Donatella di Pietrantonio ein:
Ihr Roman erzählt von der Situation in L’Aquila, ruft diese ins Gedächtnis zurück und klagt durchaus an, was es an Versäumnissen auf offizieller Seite gab und gibt – schließlich fragt man sich zwingend bei der Lektüre, warum das Provisorium der Dauerzustand geblieben ist.


Das ist es aber längst nicht:
Melancholisch schreibt die Autorin über den Schmerz der Überlebenden im Provisorium, über das Gefühl der Schuld, über das schlechte Gewissen der Überlebenden, über die Gedankenlosigkeit derer ohne Verluste geliebter Menschen, über die vielen Formen der Trauer, die Sprachlosigkeit, das Verharren in der Schuld, das Einander-Ausweichen, das Vermeiden. Die Erinnerung. Ich hatte in diesem Jahr mit Lot Vekemans „Brautkleid aus Warschau schon ein Buch, in dem die, die einander lieben, unfähig sind, miteinander zu reden. Aber während ich dort den Personen am liebsten zugerufen hätte, sie möchten doch ihre Probleme miteinander bereden, weiß ich in dieser Handlung hier, dass das nichts helfen würde. „Die wenigen Wörter, die wir wechseln, prallen an unsichtbaren Hindernissen ab und rollen verzerrt zurück.“ (S. 98). Einig ist sich die erzwungene Schicksalsgemeinschaft nur in der Ablehnung von Marcos von der Mutter geschiedenem Vater Roberto:
S. 101 „“Wenn er bei ihr geblieben wäre, wäre sie nicht zum Sterben nach L’Aquila zurückgekommen““, ist es ihr [der Großmutter] einmal bei der Blumenhändlerin vor dem Friedhof herausgerutscht, aber halblaut, als spräche sie zu sich selbst. Das werfen wir Roberto innerlich vor. Alle drei brauchen wir irgendwie einen Schuldigen an diesem unfassbaren Verlust.
Marco braucht auch einen Vater.“


Aber der Text schafft noch mehr: in Rückblicken wird das Erdbeben beschrieben wie auch die nachfolgende Zeit in der Notunterkunft:
„Im Camp waren wir Luxusgefangene; berühmte Köche kamen, um für unseren fehlenden Appetit zu kochen, und Politiker besuchten uns in sportlicher, den Umständen angemessener Kleidung und mit Gesichtern, die Solidarität ausstrahlen sollten. Die Fernsehkameras filmten sie vor dem blauen Hintergrund der Zelte, während sie versprachen, sich für den baldigen Wiederaufbau des gesamten, vom Erdbeben betroffenen Gebiets einzusetzen, und den Mut und die Würde der so hart geprüften Bevölkerung lobten. Ich ging hinaus und lief herum oder legte mich auf mein Feldbett, um sie nicht zu hören. Abends Aufführungen und Konzerte, alles gratis. Wir hatten keine große Lust darauf, der größte Teil des Publikums kam von außerhalb. Dank des Erdbebens kamen Persönlichkeiten in unsere Breiten, denen es im Traum nicht eingefallen wäre, in L’Aquila aufzutreten, doch niemand übernachtete anschließend hier. Sie fuhren zurück nach Rom, wie sie vor den ständigen Erschütterungen und Unannehmlichkeiten sicher waren.“ (S. 114)


Es steht leider nicht im Buch, aber das italienische Original erschien bereits am 15. Oktober 2014; wann man den nötigen Vorlauf mit bedenkt, also sicherlich vor den großen Flüchtlingsströme nach Europa. Ungeachtet dessen schafften es gerade die Schilderungen dieses Buches, die Notgemeinschaft, den plötzlichen Verlust des bisherigen Lebens besser für mich begreifbar zu machen als etliche dedizierte Romane zum Thema, aktuelle Situation der Flüchtlinge oder andere Konflikte, schlicht, weil für mich als deutlich nach dem zweiten Weltkrieg geborene Deutsche Kriege oder Hungersnöte (zum Glück!) einfach viel weniger vorstellbar sind als die beschriebene Situation mit einer Naturkatastrophe als Auslöser – auch in Deutschland stürzte der Gebäudekomplex des Stadtarchivs Köln samt zweier benachbarter Wohngebäude ein, bei einem Hangrutsch in Sachsen-Anhalt wurden drei Bewohner mitgerissen. Vielleicht verfolge ich damit kein politisch korrekter Ansatz, aber authentisch.


Aber selbst hier findet noch eine Steigerung statt in der Analyse der inneren Konflikte der Hauptpersonen:
„Das Erdbeben hätte es nicht gebraucht; schon vorher hatte jeder seinen eigenen Schmerz.“ (10). Faszinierend, wie die Überlebende Caterina die Erstgeborene Olivia als unerreichbares Ideal empfindet, geliebt, bewundert, beneidet. Sich selbst sieht sie lange als die zur kurz gekommene. „Später, als die Gesichter ausgeprägter wurden, ließen winzige Details eine von uns heiter und gewinnend erscheinen, und mich gewöhnlicher.“ (S. 26) Im Verlauf der Geschichte erkennt sie, dass sie als die jüngere stets aller Fürsorge auf sich konzentrierte.
Die Heilung beginnt erst, als das Gefühl von Schuld schwindet und das Leben wieder zugelassen wird.


Bis hierher hatte ich dieses Buch geradezu geliebt. Mit dem Ende hingegen bin ich nicht ganz glücklich, es kommt mir etwas zu zügig, etwas zu sehr an zu vielen Fronten, etwas zu glückselig. Genau diese Tatsache hat jedoch dazu geführt, dass ich mich wesentlich länger mit dem Buch beschäftigt habe („darf man sich so schnell wieder dem Leben zuwenden?“) – was sollte Literatur mehr. Insgesamt ein starker Leseeindruck mit sehr facettenreichen Themen. Ich habe mir infolge auch den Erstlingsroman von Donatella di Pietrantonio „Meine Mutter ist ein Fluss“ gekauft.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Von der Solidarität mit dem Profikiller

Post Mortem - Zeit der Asche
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Welchen Wein würde ich dazu wählen, wenn ich dabei zusehen dürfte, wie das Wesen, das auf dem Supermarktparkplatz meinen nagelneuen Gebrauchten mit einem Kratzer verunstaltete und dann verschwand, so richtig ...

Welchen Wein würde ich dazu wählen, wenn ich dabei zusehen dürfte, wie das Wesen, das auf dem Supermarktparkplatz meinen nagelneuen Gebrauchten mit einem Kratzer verunstaltete und dann verschwand, so richtig übel an der Ausfahrt-Schranke hängenbliebe?

Wer so oder noch schlimmer schon einmal Phantasien gepflegt hat, darf sich hier über sich selbst erschrecken: auch Claus Thalinger, von dem wir schon im ersten Kapitel erfahren, dass er die Dienste des brutalen Folterers Belial gerne in Anspruch nahm, weiß um die Bedeutung des passenden Weins zum Folter-Video-Genuß.

Mark Roderick schreibt in „Post Mortem – Zeit der Asche“ so spannend, dass ich das Buch in einem Tag durchgelesen habe. Ich kannte zwar den Vorgänger „Post Mortem – Tränen aus Blut“, denke aber, dass man aufgrund der im Buch gegebenen Erklärungen diesen zweiten Teil auch ohne den ersten mühelos lesen kann – tatsächlich finde ich den zweiten Band sogar noch einen guten Touch besser, spannender.

Den Leser erwartet nicht die klassische Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, nein, einer der „Guten“ ist Avram Kuyper, der die grausamen Verluste innerhalb seiner Familie rächen möchte – als Profikiller hat er dazu durchaus andere Mittel als die ebenfalls ermittelnde Polizistin Emilia Ness. Der Autor schafft sehr geschickt eine permanente Folge von Cliffhangern, indem er fortgesetzt zwischen den Perspektiven von Avram und Emilia wechselt und auch etliche Kapitel einstreut, in denen wir direkt über die Schultern des perfiden Thalinger blicken. Dass wir dadurch zum allwissenden Leser werden, senkt das Spannungslevel mitnichten. Der Autor wendet den Kunstgriff an, die meisten der härteren Szenen im Rückblick zu schildern, indem sich zum Beispiel die Ermittler ein Video ansehen, oder indem jemand zwar mit einem Hammer auf jemandes Knie zugeht, dann aber quasi ausgeblendet wird, indem wir den Raum verlassen oder ähnliches. Da ich Sadismus-Folter-Szenen nicht wirklich mag, wird das so für mich ertragbar auf das Kopfkino reduziert.

Auch wenn ein Profikiller und die Polizei dabei ja doch recht unterschiedliche Ziele und Möglichkeiten haben, schafft es Roderick, bei beiden eine praktisch konstant hohe Spannung aufgrund der beschriebenen Ermittlungsarbeit zu vermitteln. Dabei durchläuft Profikiller Avram einige Erfahrungen, die sowohl seine innere Moral („keine Kinder“) und sein Verständnis von Ehre und Loyalität, aber auch seinen „Berufseinstieg“ nachvollziehbar machen.

Als einzigen Wunsch hätte ich noch an den Autor gehabt, dass er das eher implizit vorhandene Dilemma von Ermittlerin Emilia herausgearbeitet hätte, als sie selbst ins Visier des Bösen gerät – bis dahin war für sie ein Vorgehen mit persönlicher Rache oder nur abseits der Dienstvorschriften nach dem Vorbild vom moralisch und beruflich weniger eingeschränkten Avram nicht vorstellbar gewesen. Was macht das mit so einer Persönlichkeit (Avram war in diesem Band wesentlich komplexer dargestellt)? Aber die Leseprobe am Buchende macht ja schon wieder Appetit auf Band 3….