Action und Mathematik bei gefährlicher Schnitzeljagd in Berlin
Gelungen ist das dem aktuellen Angstbild entsprechende Setting rund um eine politische Konferenz und Demonstrationen zu einer aufkeimenden neuen Wirtschafts- und Finanzkrise. Scharfsinnige Politik spielt ...
Gelungen ist das dem aktuellen Angstbild entsprechende Setting rund um eine politische Konferenz und Demonstrationen zu einer aufkeimenden neuen Wirtschafts- und Finanzkrise. Scharfsinnige Politik spielt leider eine untergeordnete Rolle.
Der Wow-Effekt ist - im Vergleich zu anderen Werken von Marc Elsberg - gering. Im Zentrum des Konflikts stehen diesmal mathematische Berechnungen, die transparent machen, wie durch die gleichmäßigere Verteilung materieller Ressourcen der Wohlstand aller hieran Beteiligten gemehrt werden kann. Vereinfacht ausgedrückt: Aus Gier bei der Umverteilung mitmachen. Erläuterungen sind durch greifbare Beispiele und sogar Zeichnungen laienkompatibel gestaltet. Nebenher werden Anwendungsbereiche für die Mathematik, z. B. beim Glücksspiel und bei Lohnkürzungen und -erhöhungen, aufgezeigt. Hieraus ergibt sich ein Kenntniszuwachs für einen großen Adressatenkreis. Dieses Herausstellungsmerkmal hat mir - auch wenn Wiederholungen und Jans Zwischenrufe aufgrund ihrer hohen Anzahl einen gewissen Nervfaktor aufweisen - gut gefallen. Nun kann man diesem Autor für unterhaltsame Thriller schlecht vorwerfen, dass er es versäumt, das eingängige Berechnungsmodell in einen Kontext zu stellen, der in einer anonymisierten und globalisierten Gesellschaft und Wirtschaft (Steuervermeidung, etc.) funktioniert. Trotzdem verbleibt der Eindruck schnell verpuffender Euphorie und romantischer Verklärung, und damit verliert sich die der Story zugrundeliegende Relevanz, hierfür Morde zu begehen und zu vertuschen.
Die Figuren vermögen Interesse zu entfachen, aber Mitfiebern und Sympathisieren fiel mir schwer. Dafür bilden sie einfach zu sehr Klischees. Beispielsweise verkommt der hart arbeitende und mit seinem Verdienst unzufriedene junge Pfleger Jan zum nörgelnden Mitläufer und Helfer des gebildeten, coolen, aus gutem Hause kommenden und ihn übertrumpfenden Investment-Strategen. Reizvoll finde ich die engagierte Polizistin Maja und die schwer durchschaubare Jeanne. Problematisch ist, dass es selten vier Buchseiten ohne Wechsel zwischen zahlreichen Perspektiven gibt. Das verleiht Tempo, aber erschwert es, sich zu orientieren und tiefer in die jeweilige Gedanken- und Gefühlswelt einzutauchen.
Nebenfigur Oma und die jungen Aktivisten wirken greifbar und bilden eine (leider nur kurze) willkommene Auflockerung.
Immer wieder ist man mit auf der Flucht vor emotionslosen, muskelbepackten Killern und vor Ordnungshütern. Widerstände werden oft mit Geld und Waffen gelöst, sodass ich mich an diverse alte und neue Actionfilme erinnert fühle.
Entwicklungen und Konsequenzen sind voraussehbar. Zeitgemäße kreative Problemlösungswege an allen Fronten hätte ich befürwortet.
Trotz aller Kritik habe ich den Roman schnell gelesen und fühle mich gut unterhalten.
Zwischen drei und vier Sternen schwankend, wähle ich die kritische Rezension, weil mich das Ende nicht überzeugen kann und ich es persönlich schade finde, dass die üblichen Helden präsentiert werden, während potenzialträchtige „Underdogs“ (Helden des Alltags) wenig zum Gelingen beitragen dürfen, besonders Polizei und Sicherheitskräften in der Gesamtbetrachtung ein schlechtes Zeugnis ausgestellt wird.