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Veröffentlicht am 04.05.2021

Wenn man es ausspricht, wird es anders

Die Geschichte von Kat und Easy
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„Ach, und ich habe heute noch etwas gelernt: Wir waren jung damals, aber wir waren trotzdem längst die, die wir heute sind. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich, oder?“

Inhalt

1973 waren Kat und ...

„Ach, und ich habe heute noch etwas gelernt: Wir waren jung damals, aber wir waren trotzdem längst die, die wir heute sind. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich, oder?“

Inhalt

1973 waren Kat und Easy beste Freundinnen, doch sie haben sich schon lange, lange aus den Augen verloren und das ist nicht nur ihrer unterschiedlichen Lebenseinstellung geschuldet, sondern vielmehr einer inneren Entfremdung, deren Ursache die Liebe zum gleichen jungen Mann war. Damals war Easy die Glückliche, die mit dem etwas älteren Fripp aus dem Jugendzentrum anbandeln konnte, obwohl Kat ihn doch noch viel mehr geliebt hat und immer hoffte, dass aus dem gemeinsamen Sex irgendwann eine Beziehung werden könnte.

Gut 40 Jahre später treffen sich die beiden Frauen, die sich über Kats Blog wiedergefunden haben zu einer gemeinsamen Urlaubsreise auf der griechischen Insel Kreta. Easy besitzt dort ein Ferienhaus, welches ihr, ihr dritter Ehemann, ein ortsansässiger Grieche, nach der Trennung überlassen hat. Langsam nähern sich die beiden Frauen einander an, sie strecken ihre Fühler in Richtung Vergangenheit aus und erzählen sich Geschichten aus den Jahren dazwischen, in denen sie sich nicht mehr gesehen haben. Doch die Verletzungen aus der Zeit ihrer ersten gemeinsamen Liebe sitzen tief und jede meint, eine Unmenge an Fehlern gemacht zu haben. Kat und Easy müssen einsehen, dass die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hat, als gewünscht, sie haben aber auch die Möglichkeit, sich endlich mit ihren persönlichen Entscheidungen auszusöhnen und das Glück der späten Jahre auszukosten, in denen Erfahrungswerte mehr Gewicht besitzen als die Flüchtigkeit eines besonderen Augenblicks.

Meinung

Vor einigen Jahren habe ich voller Begeisterung den Roman „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ der in Soltau geborenen Autorin Susann Pásztor gelesen und wollte nun unbedingt noch ein weiteres Buch von ihr kennenlernen, gerade weil ich auch hier wieder eine Geschichte voller Empathie und Wichtigkeit vermutet habe. Doch der vorliegende Roman über eine authentische Frauenfreundschaft, die mehr oder weniger durch die Liebe zum gleichen Mann auseinanderbrach, besitzt zwar einerseits sehr viel Einfühlungsvermögen und emotionale Beweggründe bleibt aber andererseits hinter meinen Erwartungen zurück. Der Grund dafür ist ganz einfach: die Geschichte, so wie sie hier erzählt wird, ist nahezu perfekt, so ausgewogen und abgeschlossen erzählt, dass man beim Zuklappen des Buches tatsächlich das Gefühl hat: hier wurde alles gesagt, was es zu sagen gibt.

Für mich ist das ein Wohlfühlroman, der Nostalgie aufkommen lässt, ohne alles zu beschönigen, der nah an der Realität dran ist und die unterschiedlichen Gefühle der Protagonisten gut zusammenfasst, sie deutlich macht und dadurch glaubwürdige Charaktere hervorbringt. Die beiden Frauen und ihre unterschiedliche Einstellung, die sich dennoch mögen, vielleicht gerade weil jede etwas besitzt, was die andere gerne hätte und damit meine ich nicht den etwas blassen Fripp, der eher zufällig ins Spiel geraten ist. Die Autorin vermag es gekonnt große Themen auf kleine Begebenheiten herunterzubrechen und dadurch eine unbedingt Lesernähe herzustellen, denn obwohl ich weder mit Kat noch Easy sympathisieren würde, kann ich mir die Interaktion der beiden hervorragend vorstellen und es gelingt ebenso mühelos, mit beiden Frauen mitzufühlen.

Für die notwendige Abwechslung sorgt der Wechsel der Schauplätze und damit auch der zeitlichen Hintergründe, denn der Leser ist einmal im beschaulichen Laustedt des Jahres 1973, der eigentlichen Kerngeschichte und wechselt dann in die Gegenwart zu zwei Frauen, beide Anfang 60, die nun erneut aufeinandertreffen, diesmal vor der Kulisse eines griechischen Dorfes, dem Müßiggang ausgesetzt. Auch diese Einteilung des Textes kommt dem Leser sehr entgegen, weil er sofort, mit dem Lesen der Überschrift weiß, wo genau er sich jetzt wieder befindet und wenn das Kapitel endet schnell weiterlesen möchte, um noch mehr zu erfahren.

Prinzipiell gibt es fast keine Kritikpunkte, die ich hier anbringen kann, denn wer gute, ausgewogene Unterhaltungsliteratur sucht, ist hier genau richtig und dennoch habe ich gerade im Vergleich zu dem oben genannten Roman der Autorin etwas Essentielles vermisst: Gedankengänge, die während des Lesens angeregt werden, Fragen, die bleiben, Gründe über das Gelesene nachdenken zu wollen …dieses Buch schafft genau jene Hürde nicht, die es zu etwas Besonderem für mich machen würden.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen umfassenden, fast alltäglichen Roman, der sich mit den Fallstricken einer Freundschaft beschäftigt, damit wie schwer es fällt, Dinge anzunehmen und auszuhalten und dabei nicht das Gegenüber aus den Augen zu verlieren. Grundlegende Verhaltensmuster, die sich im Laufe eines Lebens herausbilden, ebenso wie Vermeidungsstrategien und das Aufrechterhalten eigener Überzeugungen, selbst wenn sie nur das Ergebnis jahrelanger Manipulation sind. Loslassen und Verzeihen sind ebenso Schwerpunkte wie Zuwendung und Einsicht. Gefallen hat mir die Lebensweisheit, die hier präsent ist, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger daherzukommen. Dieses Buch ist eine runde Erzählung, die für schöne Lesestunden sorgt und deren Warmherzigkeit ein Gefühl der Nähe hinterlässt, aber in Erinnerung wird sie mir trotzdem nicht lange bleiben.

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Veröffentlicht am 01.05.2021

Die Testamentsvollstreckerin

Girl A
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„ Ich nahm an, dass in Hollowfield einiges anders laufen würde. Ich hatte die Tatsache, dass uns hier niemand kannte, mit der Hoffnung verwechselt, dass wir alles werden könnten, was wir sein wollten.“

Inhalt

Alexandra ...

„ Ich nahm an, dass in Hollowfield einiges anders laufen würde. Ich hatte die Tatsache, dass uns hier niemand kannte, mit der Hoffnung verwechselt, dass wir alles werden könnten, was wir sein wollten.“

Inhalt

Alexandra Gracie, mittlerweile Anwältin erhält den Bescheid des Gefängnisses, dass ihre leibliche Mutter, die sie schon viele Jahrzehnte nicht mehr gesehen hat, nun verstorben ist und nun sie, ihre älteste Tochter als Testamentsvollstreckerin eingesetzt hat. Viel ist nicht geblieben vom elterlichen Erbe, nur ein wenig Bargeld und das alte Familiengrundstück, an dass sich Alexandra nur als ihr eigenes Gefängnis erinnert.

Lex ist eines von sieben Geschwisterkindern und hat es geschafft die restlichen Kinder, fast alle jünger als sie selbst aus der familiären Hölle zu befreien. Alexandras Vater, einst ein attraktiver Mann, verstrickt sich immer mehr in seinen religiösen Wahnvorstellungen, verliert seine Arbeit und konzentriert sich nun auf den Ausbau einer religiösen Gemeinde unter seiner Führung. Doch als dieses Vorhaben misslingt, beginnt er seine zahlreichen Kinder, nach eigenem Ermessen zu bekehren, er schickt sie nicht mehr zur Schule, gibt ihnen kaum noch etwas zu essen, verbarrikadiert das Haus und beginnt mit einer ausgeklügelten Misshandlung seiner Schützlinge – und lange Zeit ahnt niemand, was hinter den Mauern tatsächlich passiert …

Meinung

Dies ist der Debütroman von Abigail Dean, die ganz unaufgeregt und dennoch erschreckend real die Geschichte der Familie Gracie erzählt, die zunächst eher unauffällig bleibt, sich aber nach und nach zu einer fatalen Brutstätte für Gewaltvorstellungen und Misshandlungen entwickelt. Unter der Obhut eines starken aber gestörten Vaters und einer hilflosen und schweigsam-ergebenen Mutter verwahrlosen die Kinder immer mehr – gefangen in einer Blase aus Mutlosigkeit und Angst, hoffen alle Beteiligten auf ein Einsehen des Familienoberhaupts oder eine günstige Gelegenheit, um zu entkommen – doch beide Optionen scheinen in weite Ferne zu rücken, nachdem jedes Kind mit Handschellen und Ketten ans eigene Bett gefesselt wird.

Da ich auf Grund der Leseprobe auf diesen Thriller aufmerksam geworden bin, ohne die tatsächliche Spannungshandlung in den Vordergrund zu stellen, konnte ich mich hier voll und ganz auf die Geschichte einlassen, die vielmehr das Psychogramm mehrerer erwachsener Misshandelter ist, als ein nervenaufreibender Pageturner.

Dabei hat mir die Perspektivenvielfalt sehr gut gefallen, die hier trotz der übergeordneten Erzählerin Alexandra genügend Einblicke in die Gedankenwelt ihrer Geschwister offenbart und dadurch regelrecht komplex wird. Denn jedem Mädchen und Jungen der Familie wird ein längeres Kapitel gewidmet, in dem versucht wird, die einzelnen Schicksale und Gedankengänge der Beteiligten nachzuvollziehen. So erschließt sich dem Leser das gesamte Familiengefüge, mit diversen Rollenbildern und innerlichen Fluchtstrategien – jeder versucht irgendwie auf eigene Art und Weise mit dem täglichen Leid umzugehen oder seine persönliche Situation durch ebenfalls unterwürfige Handlungen erträglicher zu gestalten. Und dann schwenkt die Story wieder in die Gegenwart, in eine Zeit nach dem Horrorhaus, jenseits der leiblichen Eltern, verteilt auf diverse Adoptivfamilien und schließlich angekommen im Hier und Jetzt – gestraft mit einer zerrütteten Seele, strauchelnd angesichts des eigenen Lebens oder kampfbereit, wie Alexandra.

Die bedrückende, hoffnungslose Stimmung der Vergangenheit und die bloße Verzweiflung, angesichts eines normalen Alltags wird hier bestens dargestellt, eben weil sie so fragil und zerbrechlich ist und ein Leben ohne therapeutische Betreuung kaum denkbar wäre. Auch die Entfremdung zwischen den Geschwistern, die damals schon in diverse Gruppierungen zerfallen sind, wird auf jeder Seite deutlich hervorgehoben. Obwohl die Überlebenden, längst nicht alle sieben Kinder, losen Kontakt halten und sich angesichts einer Hochzeit zusammenfinden, spürt man die tiefe Kluft zwischen ihnen. Das Problem: kein Fremder wird ihr seelisches Leid jemals ausreichend erfassen und sobald sie sich in Gespräche über die gemeinsame Zeit wagen, brechen alte Wunden wieder auf und es gibt dem Horror nichts entgegenzusetzen.

Zwei kleinere Kritikpunkte hätte ich dennoch: Zum einen wechselt die Erzählung ganz plötzlich ohne erkennbaren Hinweis von der gegenwärtigen Handlung in die Vergangenheit und ebenso unscheinbar wieder zurück, dadurch braucht man immer einige Sekunden, bis man als Leser den Wechsel der Rahmenhandlung entsprechend einordnen kann. Und zum anderen bleiben die Protagonisten irgendwie blass, gerade so als hätten sie ihren Charakter mit der Auflösung des elterlichen Gefängnisses abgelegt, als wären sie nur noch Schatten ihrer selbst, willenlose Figuren, die irgendwie durchs Leben ziehen und keinen neuen, verlässlichen Anker finden können, ohne zu den schmerzlichen Erinnerungen zurückzukehren.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für dieses einprägsame Psychogramm einer Großfamilie, welches sich zur Abwechslung mal nicht auf den Täter und seine kranke Seele konzentriert, sondern auf die Opfer und ihre Versuche in einer scheinbaren Realität Bezugspunkte zu finden. Dennoch überwiegt eine traurige Hoffnungslosigkeit, die sehr realitätsnah und glaubhaft wirkt und jeden Schritt nach vorn unsagbar schwer macht, während es so einfach wäre, sich weiterhin in die innere Leere einer gebrochenen Seele zurückzuziehen.

Ich empfehle dieses Buch allen, die weniger auf eine hochspannende Geschichte voller Grausamkeiten spekulieren, als vielmehr auf differenzierte Einblicke in die Möglichkeiten, wie sich traumatisierte Opfer in ihrem späteren Leben zurechtfinden. Mir hat der Ansatz sehr gut gefallen und die Umsetzung ist bis auf Kleinigkeiten ebenfalls gelungen. Sehr gern würde ich das nächste Buch der Autorin kennenlernen.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Am Puls des Konbini

Die Ladenhüterin
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Morgens war ich dann wieder zur Stelle, ein Rädchen im Getriebe der Welt. Nur das machte mich zu einem normalen Menschen.“

Inhalt

Keiko Furukura war schon immer etwas seltsam und mausert sich schließlich ...

Morgens war ich dann wieder zur Stelle, ein Rädchen im Getriebe der Welt. Nur das machte mich zu einem normalen Menschen.“

Inhalt

Keiko Furukura war schon immer etwas seltsam und mausert sich schließlich zur absoluten Außenseiterin, weil sie mit 36 Jahren nach wie vor keinen Mann hat, keine Kinder bekommt und immer noch den Aushilfsjob im Konbini absolviert und sich tagtäglich mit der optimalen Warenpräsentation und bestmöglichen Verkaufszahlen auseinandersetzt.

Sie hat keine echten Freunde, kein Hobby, ja scheinbar keinen Lebenssinn – nur stört das immer die anderen und niemals Keiko. Ganz im Gegenteil, ihre Arbeit im Supermarkt erfüllt sie mit tiefer Zufriedenheit und gibt jedem Tag eine gleichförmige Struktur, ohne die sie in ein tiefes Loch fallen würde. Aber zuliebe der anderen kündigt sie doch noch und beginnt ein scheinbar gesellschaftlich akzeptiertes Leben, aber der Konbini lässt sie nicht los und sein Takt begleitet sie nach wie vor – Keiko muss sich entscheiden, ob sie weiterhin die verschrobene Einzelgängerin bleiben möchte und ihrer inneren Stimme folgt, oder nicht …

Meinung

Dieses kleine Buch (145 Seiten) steht bereits seit seinem Erscheinungstermin in meinem Regal, weil mich sowohl die Grundidee ansprach als auch die inhaltliche Aufarbeitung der Thematik des „Andersseins“. Und ich wurde nicht enttäuscht, denn die im Kern eher traurige Geschichte der Angestellten Keiko, die so gar nicht zum gesellschaftsfähigen Bild in Japan passt, hat mich nicht nur bestens unterhalten, sondern impliziert trotz der aufgelockerten, fast heiteren Stimmung einen ernsthaften Hintergrund, mit dem ich mich während des Lesens ganz nebenbei beschäftigen konnte.

Zunächst lernt der geneigte Leser die Protagonistin sehr genau kennen, weil die Ich-Perspektive in der Textform gewählt wurde. Zwar bleibt vieles von Keiko im Dunkeln, weil sie tatsächlich wenig Ansprüche zu haben scheint, aber man fühlt sich ihr dennoch nah und akzeptiert ihr Wesen voll und ganz. Umso nervtötender wirken „die anderen“, die hier in Form von losen Bekannten, Arbeitskollegen oder Familienangehörigen daherkommen und sich ununterbrochen einmischen. Irgendwann ist man dann der Überzeugung, dass es für Keiko keinen Sinn macht, sich an die Normen der Gesellschaft anzupassen, weil sie damit ihr innerstes Wesen verleugnet und gleichzeitig fragt man sich, wie viel Wert überhaupt darin liegt, dass die Menschheit immer danach strebt, so gleichförmig und ähnlich sein zu wollen und für Individualismus so wenig Platz bleibt.

Besonders hervorheben möchte ich die für mich absolut unschlagbare humorvolle Umsetzung des Ganzen, denn gerade die einzelnen Szenen im Supermarkt empfand ich, die selbst im Handel tätig ist, wahnsinnig treffend und urkomisch, ich musste sehr oft sehr laut lachen und allein dieser Umstand macht mir das Buch auf der zwischenmenschlichen Ebene sympathisch. Ohnehin überwiegt ein positiver, lebensbejahender Erzählton, der die geschilderten Umstände eher komisch und abstrus wirken lässt als bitterernst und anklagend. Ein Weichmacher, der dafür plädiert, jeden so sein zu lassen, wie er eben ist. Die einen finden Erfüllung daran, sich gesellschaftsfähig hervorzutun, die anderen möchten einfach nur ihre Ruhe und irgendetwas, was sie im Herzen glücklich sein lässt, auch wenn es dabei nur darum geht, möglichst erfolgreich Reistaschen zu verkaufen.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne, aus denen beinahe 5 geworden wären, wenn das Ende nicht ganz so abrupt gekommen wäre und auch die weitere Entwicklung der Protagonistin noch ein paar Seiten länger nachvollziehbar gewesen wäre. Es ist ein witziges, abstraktes und sehr unterhaltsames Buch, welches eine ernstzunehmende Botschaft gekonnt in eine locker-leichte Geschichte verpackt und gerade durch diese ungewöhnliche Kombination das Herz des Lesers erobern kann.

Es gibt weder den erhobenen Zeigefinger, noch die ultimative Lösung des Problems, stattdessen appelliert die japanische Autorin Sayaka Murata an die Fähigkeit des Menschen, auch anders gestrickte Personen hinzunehmen, die sich um Konventionen im herkömmlichen Sinne überhaupt keine Gedanken machen und einfach nur einen Platz im Gefüge möchten, der nicht ununterbrochen in Frage gestellt wird. Ich setze nun „Das Seidenraupenzimmer“, einen anderen Roman der Autorin auf meine Wunschliste, denn dieser hier hat mir sehr gut gefallen.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Wer keinen Schatten wirft, existiert nicht

Roman d’amour
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„Am Meer lernt man am besten, dass man die Welt nicht halten kann, nichts kann man halten, nichts, nichts, nichts.“

Inhalt

Charlotte Moire hat einen Roman geschrieben, in dem sie die Liebschaft zwischen ...

„Am Meer lernt man am besten, dass man die Welt nicht halten kann, nichts kann man halten, nichts, nichts, nichts.“

Inhalt

Charlotte Moire hat einen Roman geschrieben, in dem sie die Liebschaft zwischen einem verheirateten Mann und seiner Affäre beschreibt, natürlich endet es tragisch, natürlich gibt es nicht nur den Betrüger, sondern auch die hintergangene Ehefrau und die unglückliche Zweitfrau, die ihren Geliebten niemals für sich allein haben wird.

Und Charlotte hat ganz bewusst ihre eigenen Erfahrungen mit in die Thematik einfließen lassen, aber so geschickt, dass ein Außenstehender nur mutmaßen kann, wieviel Wahrheit in der fiktiven Erzählung steckt. Dieser Frage geht nun die Journalistin Frau Sittich nach, die die Künstlerin in einem Interview anlässlich einer Preisverleihung genauer charakterisieren möchte. Die beiden Frauen sind sich nicht unbedingt sympathisch und doch scheint es eine besondere Verbindung zwischen ihnen zu geben, denn die eine fragt immer mehr als sie wissen muss und die andere fühlt sich bemüßigt Dinge zu erklären, bei denen kein Erklärungsbedarf besteht. Ein offenes Gespräch über die Liebe und deren Verästelungen nimmt seinen Lauf, bei dem es nicht um die Frage der Schuld, sondern um die Möglichkeiten der Liebe geht …

Meinung

Dies war mein erster Roman der deutsch-französischen Autorin Sylvie Schenk, die hier auf kurzen 128 Seiten ein sehr besonderes Leseerlebnis bietet, welches ganz anders gestrickt ist, als eine Vielzahl der Bücher mit der Thematik des Ehebruchs.

Gerade der Aufbau einer zweiten Geschichte innerhalb eines Romans, mit ähnlichen Protagonisten, bekannten Situationen und verständlichen Entwicklungen, lässt vieles verschmelzen und macht es dem Leser nicht immer einfach, die Situationen auseinander zu halten. Doch hier ist dieses Konstrukt gelungen, denn es spielt überhaupt keine Rolle wer hier wen betrügt und aus welchem Grund – alles sind nur Erinnerungen an eine längst vergangene Liebschaft, die dennoch immer aktuell sein wird, weil sie so universell und altbekannt scheint, wie die Liebe selbst.

Positiv beurteile ich die Aussagekraft der Geschichte, die sich eher nebenbei ergibt, denn man findet zwischen den Zeilen eine Vielzahl philosophischer Gedanken über die Liebe an sich und im Besonderen, man spürt die Lebensweisheit der Erzählenden und genießt außerdem, die Eindrücke der Protagonisten, die kurzzeitig in dieser Affäre aufgehen, sie genießen, sie verachten und schließlich mit ihr vergehen, denn das diese Liebelei endlich sein wird, ist von Anfang an klar. Ohnehin bekommt die Gefühlsebene hier eine wesentliche Rolle, sie ist es, die Menschen in die Verwirrungen der Liebe stürzt und sie dann straucheln lässt, weil sie sich voll und ganz auf den Moment konzentriert haben und sich fortan mit der schnöden Realität abfinden müssen, die es ihnen unmöglich macht für immer den Ausnahmezustand zu genießen. Wie fühlt man sich in dieser Situation, die man zwar von Anfang an durchdacht hat, sie aber dennoch anders erlebt, wenn man sie durchlebt?

Der Sprachstil ist gehoben, wirkt ästhetisch und lädt zum Träumen ein, zum Nachdenken und zum Innehalten, denn es macht wirklich Freude hier ganze Sätze gleich noch mal zu lesen, um sie in ihrer vollen Schönheit zu erfassen. Der Text ist faszinierend dicht geschrieben, die Handlungen greifen wie kleine Rädchen ineinander und dabei können die Gedanken des Lesers wunderbar schweifen. Auf wenig Raum konzentriert sich hier eine vielschichtige Handlung, bei der das Kalkül weniger auf der Anklage liegt als auf den Emotionen, die auch Jahre nach dieser Amour fou noch so präsent sind, dass sie schmerzen. Bei den Charakteren liegen die Sympathien meinerseits bei den weiblichen Figuren, während der Mann doch sehr blass bleibt und für meinen Geschmack zu austauschbar wirkt – vielleicht ein klitzekleiner Kritikpunkt in der sonst so niveauvollen, formschönen Erzählung.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen autofiktionalen Roman, der die Identitäten der handelnden Personen aufweicht und deshalb weniger Nähe und Emotionalität erzeugt als andere Bücher mit ähnlicher Thematik. Dafür liegt die Stärke des Textes darin, Hintergründe und Ursachen viel deutlicher und universeller hervorzuheben und einen höchst interessanten Plot zu entwerfen, der am Ende mit einer Überraschung aufwartet, die gleich dazu animiert, nochmals von vorne zu beginnen, um diesmal alle/ andere Nuancen aufzunehmen. Ein weiteres Buch der Autorin würde ich sehr gerne lesen und kann dieses hier empfehlen.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Der Mensch muss ertragen, was er nicht ändern kann

Die Unschuldigen
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„Inzwischen wusste sie, dass sie allein sich selbst belogen hatte. Doch das machte es am Ende noch schlimmer. Freude und Scham. Scham und Freude. Das waren die Währungen der Welt. Und beide wurden gleichermaßen ...

„Inzwischen wusste sie, dass sie allein sich selbst belogen hatte. Doch das machte es am Ende noch schlimmer. Freude und Scham. Scham und Freude. Das waren die Währungen der Welt. Und beide wurden gleichermaßen ausgezahlt.“

Inhalt

Everett und Ada Best sind noch Kinder als ihre Eltern kurz nacheinander sterben und die beiden als Waisen an der einsamen Küste Neufundlands zurücklassen. Bisher führten sie schon ein bescheidenes Leben, mit klaren Strukturen, viel Arbeit und allerhand Entbehrungen, doch nun stellt sich bald heraus, wie behütet sie doch waren, als Everett noch der Handlanger seines Vaters war, während er nun allein mit seiner jüngeren Schwester zusehen muss, wie sie überleben können. Nur zweimal im Jahr hält die Hope, der einzige Handelspartner seiner Eltern an der zerklüfteten Küste und tauscht Grundnahrungsmittel aller Art gegen den gefangenen Fisch der Saison. Everett und Ada bemühen sich aus Leibeskräften, irgendwie in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten und das Abkommen weiterzuführen. Und so trotzen sie in den folgenden Jahren allen Widrigkeiten, entkommen manchmal nur knapp dem Verhungern, und bekommen mehr zufällig und kurzfristig Unterstützung von Fremden, die an ihrer Küste Halt machen. Doch als Everett und Ada immer älter werden, beide mittlerweile zu Jugendlichen gereift sind, wird ihr Verhältnis zueinander bedeutsamer, schamvoller und stiller – längst können sie nicht mehr so frei miteinander kommunizieren und ohne Hintergedanken im gleichen Bett schlafen …

Meinung

Der kanadische Autor Michael Crummey stammt selbst aus Neufundland und entwirft in diesem Roman ein beeindruckendes Porträt über das entbehrungsreiche Leben zweier Kinder, bestimmt von Naturgewalten. In der Einöde wird menschlicher Kontakt einerseits so dringend benötigt und andererseits bleibt kaum Zeit dafür, denn jeder Tag ist ein erbarmungsloser Kampf gegen die Natur, um die elementarsten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Doch hier bekommt die Dramatik der Stunde noch eine weitere Dimension, wenn man bedenkt, in welcher erbärmlichen Lage die Kinder tatsächlich feststecken. Sie können niemanden um Hilfe bitten, sie müssen sich ihr komplettes Wissen selbst aneignen und können nur durch unzählige Versuche einen Erfolg erreichen, weil ihnen für alles die Anleitung fehlt. Der Leser begleitet die beiden dabei über viele Jahre hinweg und erfährt, wie sie es dennoch schaffen, sich ganz ohne Eltern durchzuschlagen. Der ständig gleichbleibende Faktor ist dabei nur die Wiederkehr der Hope und damit vielleicht eines fernen Tages die Möglichkeit in zivilisiertere Gebiete überzusiedeln.

Der Handlungsverlauf des Romans gestaltet sich absolut spannend und nervenaufreibend, gerade weil die mühevollen Arbeiten detailliert beschrieben werden, ebenso wie die neu gewonnenen Fähigkeiten der Kinder, die im Laufe der Zeit tatsächlich nicht nur körperlich reifen, sondern durch diverse Besucher ihrer Küste auf andere Dinge aufmerksam gemacht werden. Everett lernt das Fallenstellen und Schießen und dadurch sind sie wesentlich unabhängiger vom Fischfang und gefährlichen Manövern auf hoher See. Sehr feinfühlig wird auch die Gefühlsebene der beiden betrachtet, die anfangs nur einander hatten und alles für den anderen getan hätten und letztlich feststellen müssen, welche Bürde tatsächlich auf ihnen liegt, wenn sie die einzigen Menschen auf diesem Fleckchen Erde sind. Keinem darf etwas zustoßen, keiner darf krank werden und die Nähe, die sie einst so unbefangen teilen konnten, gerät ins Wanken, nachdem Everett immer größeres körperliches Verlangen nach seiner Schwester verspürt, ohne genau zu wissen, woher diese emotionale Achterbahnfahrt kommt.

Dieser Roman besticht in erster Linie durch die unglaublichen Bedingungen, unter denen Everett und Ada sich beweisen müssen, dadurch kommt ein sehr hohes Tempo und ein fesselnder Plot zustande. Als Leser schaut man einerseits voller Bewunderung zu den Kindern andererseits aber auch voller Mitleid und Sorge, stets in der Erwartung, dass etwas Schlimmes passieren wird, etwas Lebensbedrohliches, Unabwendbares und sei es nur in Form von Unwettern oder wilden Tieren. Sehr gut dazu passt auch die Gliederung des Textes, in längere Kapitel, die aber ihrerseits in kleinere Abschnitte unterteilt sind – die Sprache selbst ist klar, sachlich und präzise, mehr beschreibend als erzählend und vollkommen wertungsfrei.

Dennoch hat mir beim Lesen irgendetwas gefehlt und ich glaube zu wissen was es ist, nachdem ich das Buch durchaus zufrieden zugeklappt habe. Diese so emotionale Ausnahmestory wird durch den auktorialen Erzähler durch eine Art Glasscheibe betrachtet: man sieht alles, weiß worauf es hinausläuft und nimmt jedes Ereignis unmittelbar wahr, was man aber nicht zu greifen bekommt ist die tatsächliche Gefühlsebene der Protagonisten. Und das ist eigentlich mein einziger Kritikpunkt, der die Gesamtwertung um einen Lesestern schmälert. Wäre diese Geschichte aus zwei Erzählperspektiven in wechselnder Abfolge erzählt wurden, dann hätte ich sowohl Ada als auch Everett erleben können, wäre ihnen und ihrer emotionalen Sicht sicherlich ganz schnell nahegekommen, so ist mir die Distanz einfach zu groß geblieben.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne und eine unbedingte Leseempfehlung für diese Ausnahmegeschichte, die alle Vorzüge einer Gesellschaft fast nebenbei erwähnt, gerade weil sie das Leben in der Einsamkeit so ungeschönt präsentiert. Beim Lesen des Textes wird deutlich, wie komfortabel und sicher das Leben sein kann, wenn man entsprechend aufwächst und wie unberechenbar und schwer, wenn Kinder weder eine Anleitung bekommen noch die Möglichkeit mehr zu entdecken, weil sie der Härte des Alltags ausgeliefert sind. Dieser Roman lässt die Zeit wie Flug vergehen und eröffnet interessante Perspektiven auf das harte Dasein in der Einöde, mit dem Vorsatz alles zu ertragen, was man nicht ändern kann.

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