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Veröffentlicht am 14.05.2021

Das Lebkuchenhaus im Wald

Der Mädchenwald
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„Ich spüre einen Druck in meinem Kopf, als wollte etwas herausplatzen. Ich will sie weiter beruhigen, aber meine Zähne mahlen und machen ein schreckliches knirschendes Geräusch. Gretels grüne Augen flackern ...

„Ich spüre einen Druck in meinem Kopf, als wollte etwas herausplatzen. Ich will sie weiter beruhigen, aber meine Zähne mahlen und machen ein schreckliches knirschendes Geräusch. Gretels grüne Augen flackern auf. Sie weicht zurück, als hätte etwas in meiner Stimme sie erschreckt.“

Inhalt

Die 13-jährige Elissa wird am helllichten Tag von einem Parkplatz entführt, als sie nur mal kurz zum Auto ihrer Mutter lief, die währenddessen drinnen beim Schachturnier auf ihre Tochter wartete. Wenig später sind alle alarmiert und eine Großfahndung nach dem jungen Mädchen ist angelaufen, denn gerade die ersten Stunden nach einer Entführung können die entscheidenden sein. Und trotz der Tatsache, dass es Zeugen gibt und die Fahndung nach einem verbeulten, weißen Lieferwagen initiiert wurde, tappt die Polizei im Dunkeln.

Elissa hingegen, muss sich in ihrer neuen Umgebung zurechtfinden – ein dunkles, kaltes Kellerloch, in dem sie der Willkür ihres Entführers ausgesetzt ist und in Handschellen ihr Dasein fristet. Doch als sie Besuch von Elijah erhält, der anscheinend selbst ein verstörtes Kind ist, vielleicht sogar der Sohn des Entführers wittert die schlaue Elissa ihre Chance: wenn es ihr gelingt, den Jungen auf ihre Seite zu ziehen, gibt es vielleicht die Möglichkeit zur Flucht. Aber bei jedem Treffen spürt sie, dass Elijah kein normaler Junge sein kann, sein Verhalten ist unberechenbar und die Geschichten, die er erzählt, offenbaren ihr, dass sie längst nicht die erste ist, die hier gefangen gehalten wird. Und noch während sie herausfinden möchte, ob sie dem sonderbaren Jungen vertrauen kann, spitzt sich ihre Situation dramatisch zu und es bleibt nur wenig Zeit, der unterirdischen Hölle zu entkommen …

Meinung

Bei diesem Buch hat mich zunächst das Cover, der Klappentext und die Leseprobe fasziniert und ich wollte unbedingt wissen, wie es der armen, entführten Elissa eingesperrt in einem Keller unter der Erde wohl ergehen wird und wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass sie in diesem dunklen Verlies mitten im Mädchenwald gelandet ist. Entführungsfälle bei Kindern, die als Grundlage eines spannenden Thrillers dienen, reizen mich immer besonders, sind sie doch geprägt von einer gewissen Ausweglosigkeit und manchmal auch begleitet durch unvorhergesehene, glückliche Zufälle – während ich im realen Leben diesen Umstand wohl kaum ertragen könnte …

Der englische Autor Sam Lloyd, aufgewachsen im englischen Hampshire fängt in seinem Thrillerdebüt den Reiz einer abgelegenen Gegend, umgeben von dichten Wäldern und Einsamkeit hervorragend ein, denn sowohl die beschriebenen Szenen als auch die Bilder, die sich der Leser während des Buches vorstellt, sind lebensecht und versetzen uns mitten hinein in die erschaffene Welt des Buches.

Besonders gut gefallen hat mir der psychologische Aspekt der Geschichte: zwei Kinder gefangen in einem Haus, eins ist das hilflose Opfer, das andere möglicherweise ein gefährliches, zumindest aber undurchschaubares Subjekt – beide möchten, die erzwungene Zwangslage beenden und gleichzeitig ihr Leben behalten. Seltsamerweise scheint nur eine dieser beiden Möglichkeiten erreichbar.

Die Bedrückung und Angst aber auch die Hoffnungsschimmer werden besonders gut sichtbar, weil der Autor jeweils verschiedene Erzählperspektiven wählt, die sich abwechseln und für den Leser mit Fortschreiten des Buches immer neue Erkenntnisse bieten. Zu Wort kommt der sonderbare Elijah, die verzweifelte Elissa und die engagierte Polizistin Máiread MacCullagh – sie alle haben nur ein Ziel – raus aus der Hölle, hinein in ein normales Leben.

Ein paar kleine Kritikpunkte habe ich trotzdem: das Spannungsniveau hätte noch etwas höher sein können, dazu wäre vielleicht nur eine Straffung des Textes notwendig gewesen (100 Seiten weniger hätten auch gereicht). Die Täterperspektive, die zwar einige Wendungen bereithält, hätte noch eindringlicher und schwerpunktmäßiger erzählt werden können, während man im Gegenzug die drohende Fehlgeburt der Ermittlerin hätte streichen können, weil sie für das Buch keine Relevanz besitzt. Ebenso interessant wäre ein Blick in den Kopf der Mutter gewesen, die als Alleinerziehende nun der Tatsache ins Auge sehen muss, dass sie ihre geliebte Tochter an einen Mörder verliert, der ohne Rücksicht auf Verluste ihre Kleinstfamilie zerstören wird.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen interessanten Thriller mit der Thematik Kindesentführung, der mehr durch seine psychologischen Feinheiten als durch Action und Spannungsmomente überzeugen kann. Insgesamt ein solider, unterhaltsamer Roman, der nach und nach die Schrecken offenbart, die den Menschen hier widerfahren – empfehlenswert vor allem auf Grund der düsteren, beklemmenden Szenen, der kurzen informativen Lichtblicke und der emotionalen Hintergründe, die sich auf traumatisierte Kinder und deren Entwicklung stützen. Ich würde gerne noch ein weiteres Buch des Autors kennenlernen und behalte ihn im Auge.

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Veröffentlicht am 04.05.2021

Wenn man es ausspricht, wird es anders

Die Geschichte von Kat und Easy
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„Ach, und ich habe heute noch etwas gelernt: Wir waren jung damals, aber wir waren trotzdem längst die, die wir heute sind. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich, oder?“

Inhalt

1973 waren Kat und ...

„Ach, und ich habe heute noch etwas gelernt: Wir waren jung damals, aber wir waren trotzdem längst die, die wir heute sind. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich, oder?“

Inhalt

1973 waren Kat und Easy beste Freundinnen, doch sie haben sich schon lange, lange aus den Augen verloren und das ist nicht nur ihrer unterschiedlichen Lebenseinstellung geschuldet, sondern vielmehr einer inneren Entfremdung, deren Ursache die Liebe zum gleichen jungen Mann war. Damals war Easy die Glückliche, die mit dem etwas älteren Fripp aus dem Jugendzentrum anbandeln konnte, obwohl Kat ihn doch noch viel mehr geliebt hat und immer hoffte, dass aus dem gemeinsamen Sex irgendwann eine Beziehung werden könnte.

Gut 40 Jahre später treffen sich die beiden Frauen, die sich über Kats Blog wiedergefunden haben zu einer gemeinsamen Urlaubsreise auf der griechischen Insel Kreta. Easy besitzt dort ein Ferienhaus, welches ihr, ihr dritter Ehemann, ein ortsansässiger Grieche, nach der Trennung überlassen hat. Langsam nähern sich die beiden Frauen einander an, sie strecken ihre Fühler in Richtung Vergangenheit aus und erzählen sich Geschichten aus den Jahren dazwischen, in denen sie sich nicht mehr gesehen haben. Doch die Verletzungen aus der Zeit ihrer ersten gemeinsamen Liebe sitzen tief und jede meint, eine Unmenge an Fehlern gemacht zu haben. Kat und Easy müssen einsehen, dass die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hat, als gewünscht, sie haben aber auch die Möglichkeit, sich endlich mit ihren persönlichen Entscheidungen auszusöhnen und das Glück der späten Jahre auszukosten, in denen Erfahrungswerte mehr Gewicht besitzen als die Flüchtigkeit eines besonderen Augenblicks.

Meinung

Vor einigen Jahren habe ich voller Begeisterung den Roman „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ der in Soltau geborenen Autorin Susann Pásztor gelesen und wollte nun unbedingt noch ein weiteres Buch von ihr kennenlernen, gerade weil ich auch hier wieder eine Geschichte voller Empathie und Wichtigkeit vermutet habe. Doch der vorliegende Roman über eine authentische Frauenfreundschaft, die mehr oder weniger durch die Liebe zum gleichen Mann auseinanderbrach, besitzt zwar einerseits sehr viel Einfühlungsvermögen und emotionale Beweggründe bleibt aber andererseits hinter meinen Erwartungen zurück. Der Grund dafür ist ganz einfach: die Geschichte, so wie sie hier erzählt wird, ist nahezu perfekt, so ausgewogen und abgeschlossen erzählt, dass man beim Zuklappen des Buches tatsächlich das Gefühl hat: hier wurde alles gesagt, was es zu sagen gibt.

Für mich ist das ein Wohlfühlroman, der Nostalgie aufkommen lässt, ohne alles zu beschönigen, der nah an der Realität dran ist und die unterschiedlichen Gefühle der Protagonisten gut zusammenfasst, sie deutlich macht und dadurch glaubwürdige Charaktere hervorbringt. Die beiden Frauen und ihre unterschiedliche Einstellung, die sich dennoch mögen, vielleicht gerade weil jede etwas besitzt, was die andere gerne hätte und damit meine ich nicht den etwas blassen Fripp, der eher zufällig ins Spiel geraten ist. Die Autorin vermag es gekonnt große Themen auf kleine Begebenheiten herunterzubrechen und dadurch eine unbedingt Lesernähe herzustellen, denn obwohl ich weder mit Kat noch Easy sympathisieren würde, kann ich mir die Interaktion der beiden hervorragend vorstellen und es gelingt ebenso mühelos, mit beiden Frauen mitzufühlen.

Für die notwendige Abwechslung sorgt der Wechsel der Schauplätze und damit auch der zeitlichen Hintergründe, denn der Leser ist einmal im beschaulichen Laustedt des Jahres 1973, der eigentlichen Kerngeschichte und wechselt dann in die Gegenwart zu zwei Frauen, beide Anfang 60, die nun erneut aufeinandertreffen, diesmal vor der Kulisse eines griechischen Dorfes, dem Müßiggang ausgesetzt. Auch diese Einteilung des Textes kommt dem Leser sehr entgegen, weil er sofort, mit dem Lesen der Überschrift weiß, wo genau er sich jetzt wieder befindet und wenn das Kapitel endet schnell weiterlesen möchte, um noch mehr zu erfahren.

Prinzipiell gibt es fast keine Kritikpunkte, die ich hier anbringen kann, denn wer gute, ausgewogene Unterhaltungsliteratur sucht, ist hier genau richtig und dennoch habe ich gerade im Vergleich zu dem oben genannten Roman der Autorin etwas Essentielles vermisst: Gedankengänge, die während des Lesens angeregt werden, Fragen, die bleiben, Gründe über das Gelesene nachdenken zu wollen …dieses Buch schafft genau jene Hürde nicht, die es zu etwas Besonderem für mich machen würden.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen umfassenden, fast alltäglichen Roman, der sich mit den Fallstricken einer Freundschaft beschäftigt, damit wie schwer es fällt, Dinge anzunehmen und auszuhalten und dabei nicht das Gegenüber aus den Augen zu verlieren. Grundlegende Verhaltensmuster, die sich im Laufe eines Lebens herausbilden, ebenso wie Vermeidungsstrategien und das Aufrechterhalten eigener Überzeugungen, selbst wenn sie nur das Ergebnis jahrelanger Manipulation sind. Loslassen und Verzeihen sind ebenso Schwerpunkte wie Zuwendung und Einsicht. Gefallen hat mir die Lebensweisheit, die hier präsent ist, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger daherzukommen. Dieses Buch ist eine runde Erzählung, die für schöne Lesestunden sorgt und deren Warmherzigkeit ein Gefühl der Nähe hinterlässt, aber in Erinnerung wird sie mir trotzdem nicht lange bleiben.

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Veröffentlicht am 01.05.2021

Die Testamentsvollstreckerin

Girl A
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„ Ich nahm an, dass in Hollowfield einiges anders laufen würde. Ich hatte die Tatsache, dass uns hier niemand kannte, mit der Hoffnung verwechselt, dass wir alles werden könnten, was wir sein wollten.“

Inhalt

Alexandra ...

„ Ich nahm an, dass in Hollowfield einiges anders laufen würde. Ich hatte die Tatsache, dass uns hier niemand kannte, mit der Hoffnung verwechselt, dass wir alles werden könnten, was wir sein wollten.“

Inhalt

Alexandra Gracie, mittlerweile Anwältin erhält den Bescheid des Gefängnisses, dass ihre leibliche Mutter, die sie schon viele Jahrzehnte nicht mehr gesehen hat, nun verstorben ist und nun sie, ihre älteste Tochter als Testamentsvollstreckerin eingesetzt hat. Viel ist nicht geblieben vom elterlichen Erbe, nur ein wenig Bargeld und das alte Familiengrundstück, an dass sich Alexandra nur als ihr eigenes Gefängnis erinnert.

Lex ist eines von sieben Geschwisterkindern und hat es geschafft die restlichen Kinder, fast alle jünger als sie selbst aus der familiären Hölle zu befreien. Alexandras Vater, einst ein attraktiver Mann, verstrickt sich immer mehr in seinen religiösen Wahnvorstellungen, verliert seine Arbeit und konzentriert sich nun auf den Ausbau einer religiösen Gemeinde unter seiner Führung. Doch als dieses Vorhaben misslingt, beginnt er seine zahlreichen Kinder, nach eigenem Ermessen zu bekehren, er schickt sie nicht mehr zur Schule, gibt ihnen kaum noch etwas zu essen, verbarrikadiert das Haus und beginnt mit einer ausgeklügelten Misshandlung seiner Schützlinge – und lange Zeit ahnt niemand, was hinter den Mauern tatsächlich passiert …

Meinung

Dies ist der Debütroman von Abigail Dean, die ganz unaufgeregt und dennoch erschreckend real die Geschichte der Familie Gracie erzählt, die zunächst eher unauffällig bleibt, sich aber nach und nach zu einer fatalen Brutstätte für Gewaltvorstellungen und Misshandlungen entwickelt. Unter der Obhut eines starken aber gestörten Vaters und einer hilflosen und schweigsam-ergebenen Mutter verwahrlosen die Kinder immer mehr – gefangen in einer Blase aus Mutlosigkeit und Angst, hoffen alle Beteiligten auf ein Einsehen des Familienoberhaupts oder eine günstige Gelegenheit, um zu entkommen – doch beide Optionen scheinen in weite Ferne zu rücken, nachdem jedes Kind mit Handschellen und Ketten ans eigene Bett gefesselt wird.

Da ich auf Grund der Leseprobe auf diesen Thriller aufmerksam geworden bin, ohne die tatsächliche Spannungshandlung in den Vordergrund zu stellen, konnte ich mich hier voll und ganz auf die Geschichte einlassen, die vielmehr das Psychogramm mehrerer erwachsener Misshandelter ist, als ein nervenaufreibender Pageturner.

Dabei hat mir die Perspektivenvielfalt sehr gut gefallen, die hier trotz der übergeordneten Erzählerin Alexandra genügend Einblicke in die Gedankenwelt ihrer Geschwister offenbart und dadurch regelrecht komplex wird. Denn jedem Mädchen und Jungen der Familie wird ein längeres Kapitel gewidmet, in dem versucht wird, die einzelnen Schicksale und Gedankengänge der Beteiligten nachzuvollziehen. So erschließt sich dem Leser das gesamte Familiengefüge, mit diversen Rollenbildern und innerlichen Fluchtstrategien – jeder versucht irgendwie auf eigene Art und Weise mit dem täglichen Leid umzugehen oder seine persönliche Situation durch ebenfalls unterwürfige Handlungen erträglicher zu gestalten. Und dann schwenkt die Story wieder in die Gegenwart, in eine Zeit nach dem Horrorhaus, jenseits der leiblichen Eltern, verteilt auf diverse Adoptivfamilien und schließlich angekommen im Hier und Jetzt – gestraft mit einer zerrütteten Seele, strauchelnd angesichts des eigenen Lebens oder kampfbereit, wie Alexandra.

Die bedrückende, hoffnungslose Stimmung der Vergangenheit und die bloße Verzweiflung, angesichts eines normalen Alltags wird hier bestens dargestellt, eben weil sie so fragil und zerbrechlich ist und ein Leben ohne therapeutische Betreuung kaum denkbar wäre. Auch die Entfremdung zwischen den Geschwistern, die damals schon in diverse Gruppierungen zerfallen sind, wird auf jeder Seite deutlich hervorgehoben. Obwohl die Überlebenden, längst nicht alle sieben Kinder, losen Kontakt halten und sich angesichts einer Hochzeit zusammenfinden, spürt man die tiefe Kluft zwischen ihnen. Das Problem: kein Fremder wird ihr seelisches Leid jemals ausreichend erfassen und sobald sie sich in Gespräche über die gemeinsame Zeit wagen, brechen alte Wunden wieder auf und es gibt dem Horror nichts entgegenzusetzen.

Zwei kleinere Kritikpunkte hätte ich dennoch: Zum einen wechselt die Erzählung ganz plötzlich ohne erkennbaren Hinweis von der gegenwärtigen Handlung in die Vergangenheit und ebenso unscheinbar wieder zurück, dadurch braucht man immer einige Sekunden, bis man als Leser den Wechsel der Rahmenhandlung entsprechend einordnen kann. Und zum anderen bleiben die Protagonisten irgendwie blass, gerade so als hätten sie ihren Charakter mit der Auflösung des elterlichen Gefängnisses abgelegt, als wären sie nur noch Schatten ihrer selbst, willenlose Figuren, die irgendwie durchs Leben ziehen und keinen neuen, verlässlichen Anker finden können, ohne zu den schmerzlichen Erinnerungen zurückzukehren.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für dieses einprägsame Psychogramm einer Großfamilie, welches sich zur Abwechslung mal nicht auf den Täter und seine kranke Seele konzentriert, sondern auf die Opfer und ihre Versuche in einer scheinbaren Realität Bezugspunkte zu finden. Dennoch überwiegt eine traurige Hoffnungslosigkeit, die sehr realitätsnah und glaubhaft wirkt und jeden Schritt nach vorn unsagbar schwer macht, während es so einfach wäre, sich weiterhin in die innere Leere einer gebrochenen Seele zurückzuziehen.

Ich empfehle dieses Buch allen, die weniger auf eine hochspannende Geschichte voller Grausamkeiten spekulieren, als vielmehr auf differenzierte Einblicke in die Möglichkeiten, wie sich traumatisierte Opfer in ihrem späteren Leben zurechtfinden. Mir hat der Ansatz sehr gut gefallen und die Umsetzung ist bis auf Kleinigkeiten ebenfalls gelungen. Sehr gern würde ich das nächste Buch der Autorin kennenlernen.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Am Puls des Konbini

Die Ladenhüterin
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Morgens war ich dann wieder zur Stelle, ein Rädchen im Getriebe der Welt. Nur das machte mich zu einem normalen Menschen.“

Inhalt

Keiko Furukura war schon immer etwas seltsam und mausert sich schließlich ...

Morgens war ich dann wieder zur Stelle, ein Rädchen im Getriebe der Welt. Nur das machte mich zu einem normalen Menschen.“

Inhalt

Keiko Furukura war schon immer etwas seltsam und mausert sich schließlich zur absoluten Außenseiterin, weil sie mit 36 Jahren nach wie vor keinen Mann hat, keine Kinder bekommt und immer noch den Aushilfsjob im Konbini absolviert und sich tagtäglich mit der optimalen Warenpräsentation und bestmöglichen Verkaufszahlen auseinandersetzt.

Sie hat keine echten Freunde, kein Hobby, ja scheinbar keinen Lebenssinn – nur stört das immer die anderen und niemals Keiko. Ganz im Gegenteil, ihre Arbeit im Supermarkt erfüllt sie mit tiefer Zufriedenheit und gibt jedem Tag eine gleichförmige Struktur, ohne die sie in ein tiefes Loch fallen würde. Aber zuliebe der anderen kündigt sie doch noch und beginnt ein scheinbar gesellschaftlich akzeptiertes Leben, aber der Konbini lässt sie nicht los und sein Takt begleitet sie nach wie vor – Keiko muss sich entscheiden, ob sie weiterhin die verschrobene Einzelgängerin bleiben möchte und ihrer inneren Stimme folgt, oder nicht …

Meinung

Dieses kleine Buch (145 Seiten) steht bereits seit seinem Erscheinungstermin in meinem Regal, weil mich sowohl die Grundidee ansprach als auch die inhaltliche Aufarbeitung der Thematik des „Andersseins“. Und ich wurde nicht enttäuscht, denn die im Kern eher traurige Geschichte der Angestellten Keiko, die so gar nicht zum gesellschaftsfähigen Bild in Japan passt, hat mich nicht nur bestens unterhalten, sondern impliziert trotz der aufgelockerten, fast heiteren Stimmung einen ernsthaften Hintergrund, mit dem ich mich während des Lesens ganz nebenbei beschäftigen konnte.

Zunächst lernt der geneigte Leser die Protagonistin sehr genau kennen, weil die Ich-Perspektive in der Textform gewählt wurde. Zwar bleibt vieles von Keiko im Dunkeln, weil sie tatsächlich wenig Ansprüche zu haben scheint, aber man fühlt sich ihr dennoch nah und akzeptiert ihr Wesen voll und ganz. Umso nervtötender wirken „die anderen“, die hier in Form von losen Bekannten, Arbeitskollegen oder Familienangehörigen daherkommen und sich ununterbrochen einmischen. Irgendwann ist man dann der Überzeugung, dass es für Keiko keinen Sinn macht, sich an die Normen der Gesellschaft anzupassen, weil sie damit ihr innerstes Wesen verleugnet und gleichzeitig fragt man sich, wie viel Wert überhaupt darin liegt, dass die Menschheit immer danach strebt, so gleichförmig und ähnlich sein zu wollen und für Individualismus so wenig Platz bleibt.

Besonders hervorheben möchte ich die für mich absolut unschlagbare humorvolle Umsetzung des Ganzen, denn gerade die einzelnen Szenen im Supermarkt empfand ich, die selbst im Handel tätig ist, wahnsinnig treffend und urkomisch, ich musste sehr oft sehr laut lachen und allein dieser Umstand macht mir das Buch auf der zwischenmenschlichen Ebene sympathisch. Ohnehin überwiegt ein positiver, lebensbejahender Erzählton, der die geschilderten Umstände eher komisch und abstrus wirken lässt als bitterernst und anklagend. Ein Weichmacher, der dafür plädiert, jeden so sein zu lassen, wie er eben ist. Die einen finden Erfüllung daran, sich gesellschaftsfähig hervorzutun, die anderen möchten einfach nur ihre Ruhe und irgendetwas, was sie im Herzen glücklich sein lässt, auch wenn es dabei nur darum geht, möglichst erfolgreich Reistaschen zu verkaufen.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne, aus denen beinahe 5 geworden wären, wenn das Ende nicht ganz so abrupt gekommen wäre und auch die weitere Entwicklung der Protagonistin noch ein paar Seiten länger nachvollziehbar gewesen wäre. Es ist ein witziges, abstraktes und sehr unterhaltsames Buch, welches eine ernstzunehmende Botschaft gekonnt in eine locker-leichte Geschichte verpackt und gerade durch diese ungewöhnliche Kombination das Herz des Lesers erobern kann.

Es gibt weder den erhobenen Zeigefinger, noch die ultimative Lösung des Problems, stattdessen appelliert die japanische Autorin Sayaka Murata an die Fähigkeit des Menschen, auch anders gestrickte Personen hinzunehmen, die sich um Konventionen im herkömmlichen Sinne überhaupt keine Gedanken machen und einfach nur einen Platz im Gefüge möchten, der nicht ununterbrochen in Frage gestellt wird. Ich setze nun „Das Seidenraupenzimmer“, einen anderen Roman der Autorin auf meine Wunschliste, denn dieser hier hat mir sehr gut gefallen.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Wer keinen Schatten wirft, existiert nicht

Roman d’amour
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„Am Meer lernt man am besten, dass man die Welt nicht halten kann, nichts kann man halten, nichts, nichts, nichts.“

Inhalt

Charlotte Moire hat einen Roman geschrieben, in dem sie die Liebschaft zwischen ...

„Am Meer lernt man am besten, dass man die Welt nicht halten kann, nichts kann man halten, nichts, nichts, nichts.“

Inhalt

Charlotte Moire hat einen Roman geschrieben, in dem sie die Liebschaft zwischen einem verheirateten Mann und seiner Affäre beschreibt, natürlich endet es tragisch, natürlich gibt es nicht nur den Betrüger, sondern auch die hintergangene Ehefrau und die unglückliche Zweitfrau, die ihren Geliebten niemals für sich allein haben wird.

Und Charlotte hat ganz bewusst ihre eigenen Erfahrungen mit in die Thematik einfließen lassen, aber so geschickt, dass ein Außenstehender nur mutmaßen kann, wieviel Wahrheit in der fiktiven Erzählung steckt. Dieser Frage geht nun die Journalistin Frau Sittich nach, die die Künstlerin in einem Interview anlässlich einer Preisverleihung genauer charakterisieren möchte. Die beiden Frauen sind sich nicht unbedingt sympathisch und doch scheint es eine besondere Verbindung zwischen ihnen zu geben, denn die eine fragt immer mehr als sie wissen muss und die andere fühlt sich bemüßigt Dinge zu erklären, bei denen kein Erklärungsbedarf besteht. Ein offenes Gespräch über die Liebe und deren Verästelungen nimmt seinen Lauf, bei dem es nicht um die Frage der Schuld, sondern um die Möglichkeiten der Liebe geht …

Meinung

Dies war mein erster Roman der deutsch-französischen Autorin Sylvie Schenk, die hier auf kurzen 128 Seiten ein sehr besonderes Leseerlebnis bietet, welches ganz anders gestrickt ist, als eine Vielzahl der Bücher mit der Thematik des Ehebruchs.

Gerade der Aufbau einer zweiten Geschichte innerhalb eines Romans, mit ähnlichen Protagonisten, bekannten Situationen und verständlichen Entwicklungen, lässt vieles verschmelzen und macht es dem Leser nicht immer einfach, die Situationen auseinander zu halten. Doch hier ist dieses Konstrukt gelungen, denn es spielt überhaupt keine Rolle wer hier wen betrügt und aus welchem Grund – alles sind nur Erinnerungen an eine längst vergangene Liebschaft, die dennoch immer aktuell sein wird, weil sie so universell und altbekannt scheint, wie die Liebe selbst.

Positiv beurteile ich die Aussagekraft der Geschichte, die sich eher nebenbei ergibt, denn man findet zwischen den Zeilen eine Vielzahl philosophischer Gedanken über die Liebe an sich und im Besonderen, man spürt die Lebensweisheit der Erzählenden und genießt außerdem, die Eindrücke der Protagonisten, die kurzzeitig in dieser Affäre aufgehen, sie genießen, sie verachten und schließlich mit ihr vergehen, denn das diese Liebelei endlich sein wird, ist von Anfang an klar. Ohnehin bekommt die Gefühlsebene hier eine wesentliche Rolle, sie ist es, die Menschen in die Verwirrungen der Liebe stürzt und sie dann straucheln lässt, weil sie sich voll und ganz auf den Moment konzentriert haben und sich fortan mit der schnöden Realität abfinden müssen, die es ihnen unmöglich macht für immer den Ausnahmezustand zu genießen. Wie fühlt man sich in dieser Situation, die man zwar von Anfang an durchdacht hat, sie aber dennoch anders erlebt, wenn man sie durchlebt?

Der Sprachstil ist gehoben, wirkt ästhetisch und lädt zum Träumen ein, zum Nachdenken und zum Innehalten, denn es macht wirklich Freude hier ganze Sätze gleich noch mal zu lesen, um sie in ihrer vollen Schönheit zu erfassen. Der Text ist faszinierend dicht geschrieben, die Handlungen greifen wie kleine Rädchen ineinander und dabei können die Gedanken des Lesers wunderbar schweifen. Auf wenig Raum konzentriert sich hier eine vielschichtige Handlung, bei der das Kalkül weniger auf der Anklage liegt als auf den Emotionen, die auch Jahre nach dieser Amour fou noch so präsent sind, dass sie schmerzen. Bei den Charakteren liegen die Sympathien meinerseits bei den weiblichen Figuren, während der Mann doch sehr blass bleibt und für meinen Geschmack zu austauschbar wirkt – vielleicht ein klitzekleiner Kritikpunkt in der sonst so niveauvollen, formschönen Erzählung.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen autofiktionalen Roman, der die Identitäten der handelnden Personen aufweicht und deshalb weniger Nähe und Emotionalität erzeugt als andere Bücher mit ähnlicher Thematik. Dafür liegt die Stärke des Textes darin, Hintergründe und Ursachen viel deutlicher und universeller hervorzuheben und einen höchst interessanten Plot zu entwerfen, der am Ende mit einer Überraschung aufwartet, die gleich dazu animiert, nochmals von vorne zu beginnen, um diesmal alle/ andere Nuancen aufzunehmen. Ein weiteres Buch der Autorin würde ich sehr gerne lesen und kann dieses hier empfehlen.

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