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Veröffentlicht am 12.10.2021

Facetten der interfamiliären Entfremdung

Wenn ich wiederkomme
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„So ist es eben: Solange du nicht die Augen öffnest, geht kein Problem, keiner der Schrecken, die sich jeden Tag ereignen, mich etwas an.“

Inhalt

Manuel Matei wird als Kind von der Mutter zurückgelassen, ...

„So ist es eben: Solange du nicht die Augen öffnest, geht kein Problem, keiner der Schrecken, die sich jeden Tag ereignen, mich etwas an.“

Inhalt

Manuel Matei wird als Kind von der Mutter zurückgelassen, bei seiner großen Schwester, dem Vater und den Großeltern, denn Daniela, seine Mutter geht nach Italien, um die Familie in der rumänischen Heimat finanziell über Wasser zu halten. Ihre beiden Kinder sollen es einmal besser haben, sollen die Möglichkeit auf eine höhere Bildung bekommen und damit die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Und während Angelica Matei zu Hause die Stellung hält und in ihrer Jugend bereits die Verantwortlichkeiten einer Erwachsenen übernimmt, zieht sich der Vater immer mehr aus dem Familienalltag zurück, begibt sich schließlich als Kraftfahrer auf die Straße und kehrt seinem Zuhause ebenfalls den Rücken. Als schließlich der Großvater stirbt, sieht sich Manuel in einer ausweglosen Situation – wo nur sind seine Bezugspersonen geblieben, wohin ist seine Familie geflohen, warum sieht keiner die Probleme vor Ort und welche Chancen bleiben ihm, wenn er es nicht schafft, sie alle wieder zu vereinen …

Meinung

Auf den neuen Roman des italienischen Autors Marco Balzano war ich sehr gespannt, nachdem mich seine beiden Bücher „Ich bleibe hier“ und „Das Leben wartet nicht“ nachhaltig beeindrucken konnten. Das Dilemma einer Mutter, die sich gezwungen sieht, ihren Lebensunterhalt außerhalb der Familie zu verdienen und die damit einen schmerzlichen Trennungsprozess auslößt, ihn jeden Tag mit sich herumträgt und zwischen Bangen, Zweifeln und Hoffen auf ein Ende dieses Zustands spekuliert. Eindeutig ein interessantes Thema, mit ganz vielen Facetten, mit der unausgesprochenen Frage nach der Schuld und dem eklatanten Mangel eines direkten Schuldigen.

Und dem Autor ist es durch diesen zeitgenössischen Roman tatsächlich gelungen, mich für die Belange der Familien zu sensibilisieren, mich in ihre Lage zu versetzen und mir ein Bild zu machen über dieses fremdbestimmte, unfreiwillige Lebenskonzept jenseits der Heimat, weit weg von den geliebten Menschen. Allerdings findet dieser Prozess eine sehr sachliche, fast neutrale Umsetzung, so dass ich tatsächlich mehr die Fakten als die Emotionen verstehen konnte.

Positiv bewerten möchte ich die drei gewählten Perspektiven, die es möglich machen einen umfassenden, weil nicht nur einseitigen Blick auf das Geschehen zu erhalten. Es spricht der Sohn, der die Entscheidung seiner Mutter nicht nachvollziehen kann, es spricht die Mutter und erzählt aus ihrem Alltag in der Fremde und dem Gedankenkarussel bezüglich ihrer einsamen Entscheidung und letztlich hört der Leser die Ausführungen der älteren Tochter, die zwar die Notwendigkeit erkennen konnte, der aber nun nur ein Wunsch geblieben ist – es anders zu machen, als ihre Mutter. Die entsprechende Gesellschaftskritik wird umfassend und vielschichtig vermittelt, der Leser erkennt auf der emotionalen Ebene, wie traumatisch eine derartige Lebensweise ist und wie nachhaltig und unwiderruflich sie Familien trennt, weil sie vor allem Mütter und Kinder entfremdet und Ehen zerstört.

Allerdings berührt mich der Text längst nicht so sehr wie erhofft, weil eben so viel Wert auf eine verständnisvolle Schilderung der Umstände gelegt wird. Dieses Buch besitzt viel Allgemeingültigkeit und verzichtet dafür auf eine kleine Geschichte, die tatsächlich in die Tiefe geht und intensive Emotionen auslöst. Die Charaktere bleiben mir etwas zu blass, sie scheinen eher sinnbildlich für gewisse Rollenbilder zu stehen, denen sie wiederrum gerecht werden. Das Nachwort finde ich sehr aufschlussreich, weil darin deutlich wird, welchen Fokus der Autor gewählt hat. Dieser Roman soll der Versuch einer Wiedergutmachung sein – Marco Balzano hat den tatsächlichen Menschen hinter den hier gewählten Protagonisten zugehört, hat sich die Stimmen der Frauen und Kinder angehört, die das gleiche Schicksal teilen wie die Familie Matei und daraus seine Story geschmiedet.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Sterne für ein wichtiges Buch, welches von zahlreichen Eindrücken und Gedanken lebt. Es ist eine hervorragende Grundlage für diverse Diskussionen bezüglich gesellschaftlich relevanter Themen, die direkte Auswirkungen auf das Familienleben Einzelner haben. Mir hätte die Geschichte aber besser gefallen, wenn sie persönlicher, trauriger und emotionaler geworden wäre, meinetwegen auch etwas entfremdet zu den realen Begebenheiten, dafür mit Menschen, die ich nicht nur kennenlerne über ihre Handlungen, sondern in erster Linie über meine Identifikationsmöglichkeiten mit ihnen. Dem Autor bleibe ich treu, er wählt für mich sehr lesenswerte Geschichten, die er literarisch ansprechend umsetzt.

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Veröffentlicht am 05.08.2021

Alte Freundschaft auf der Probe

Dein ist die Lüge
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„Wir beide wissen, dass es keinerlei Garantien gibt. Sie hat sich mehrerer schwerer Vergehen schuldig gemacht und könnte jahrelang hinter Gitter kommen. Ihre Karriere bei der Polizei ist ganz sicher zu ...

„Wir beide wissen, dass es keinerlei Garantien gibt. Sie hat sich mehrerer schwerer Vergehen schuldig gemacht und könnte jahrelang hinter Gitter kommen. Ihre Karriere bei der Polizei ist ganz sicher zu Ende und ihr Ruf für immer geschädigt.“

Inhalt

Während in Ohio ein eisiger Winter die Wetterlage bestimmt und neben Kälte auch enorme Mengen an Schnee bringt, bleiben die Menschen bestenfalls in ihren Häusern und meiden jeden Gang nach draußen. So hat die Polizistin Gina Colorosa großes Glück, dass sie von einem amischen Familienvater gefunden wird, der sie trotz ihrer Schussverletzung und ominöser Umstände mit zu sich auf seinen Hof nimmt. Adam Lengacher, sucht sich Unterstützung bei Kate Burkholder, die es gerade noch so durch Eis und Schnee zu der Verletzten und ihrem Retter schafft. Kate und Gina kennen sich, waren einst gute Freundinnen und sind beide Polizistinnen, deren Lebenswege sich in den letzten Jahren allerdings gänzlich anders entwickelt haben, denn während Kate zu einer angesehenen Polizistin in der Kleinstadt Painters Mill geworden ist, befindet sich Gina mittlerweile auf der Flucht vor ihren Kollegen, die ihr angeblich nach dem Leben trachten. Sie erzählt Kate eine haarsträubende Geschichte um diverse Machenschaften und schwere Korruption innerhalb ihrer Dienststelle und nennt mehrere Beteiligte. Die Ausmaße der ganzen Geschichte, sind so weitreichend, dass Kate sie kaum glauben kann, denn das würde bedeuten, dass Polizisten ihre Machtbefugnisse missbrauchen und Unschuldige töten, nur um ihre Spuren zu verwischen. Allerdings ist sie sich nicht sicher, ob ihr Gina überhaupt die Wahrheit erzählt oder ihr nur wilde Lügen auftischt, um ihren eigenen Hals zu retten …

Meinung

Die Krimireihe um die einst amische Polizeikommissarin Kate Burkholder zählt zu den wenigen Fortsetzungsromanen des Genres, die ich schon von Anfang an begleite und komplett gelesen habe. Deshalb musste es natürlich auch der neue Fall sein, der sich diesmal ganz anders als die restlichen Bände nicht mit den Verfehlungen innerhalb der Glaubensgemeinschaft beschäftigt, sondern mit Ungereimtheiten des Polizeiapparates.

Das bescheidene Leben der Amischen bildet hier eher den Hintergrund zu einer Geschichte, die sich zwischen Lügen, Korruption und einem Netz falscher Anschuldigungen bewegt. Auch der Radius der Handlung ist sehr begrenzt und konzentriert sich auf ein paar Tage und Nächte auf dem Hof von Adam Lengacher und den zahlreichen Gesprächen zwischen Kate und Gina, die nach wie vor zwischen Sympathie und alter Freundschaft oder Misstrauen und Verrat gefangen sind.

Der Mittelteil des Buches lässt etwas nach und schenkt dem Leser wieder zahlreiche Einblicke in das Leben der amischen Gemeinschaft, was als Neuleser höchst interessant ist, mir aber durch den Regelmäßigen Konsum dieser Reihe schon hinreichend bekannt ist. Das Ende dann gewohnt spannend und mit wechselnden Einblicken in die Überlegungen der Täter und Opfer.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen interessanten, eher stillen Roman, der sich auch auf Zwischenmenschliches konzentriert. Als Fan der ersten Stunde kann ich diese Kriminalreihe uneingeschränkt weiterempfehlen, denn nicht nur das Setting ist äußerst ansprechend, sondern auch die Gestaltung der Handlungsebene und des Personals. Zwar kann man die Bände isoliert lesen, da die Fälle in sich abgeschlossen sind, dennoch empfehle ich die chronologische Reihenfolge, die die Komplexität des Ganzen erst richtig zur Geltung bringt. Ich habe wieder unterhaltsame Lesestunden genossen und freue mich schon jetzt auf den nächsten Band, der dann wieder ganz oben auf meiner Wunschliste stehen wird und hoffentlich nicht allzu lange auf sich warten lässt.

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Veröffentlicht am 20.07.2021

Die Zuflucht des Gefängnisses

Raum
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„Ich glaube, in der Welt verteilt sich die Zeit ganz dünn überall hin, über die ganzen Straßen und die Häuser und die Spielplätze und die Geschäfte, deshalb gibt es an jedem Ort nur einen kleinen Klecks ...

„Ich glaube, in der Welt verteilt sich die Zeit ganz dünn überall hin, über die ganzen Straßen und die Häuser und die Spielplätze und die Geschäfte, deshalb gibt es an jedem Ort nur einen kleinen Klecks davon, und alle müssen schnell weiter zum nächsten.“

Inhalt

Jack ist 5 Jahre alt geworden, als seine Mutter ihm klar macht, dass die Welt, die er bis dato kennt, gar nicht die richtige ist, sondern nur ein Gefängnis. Ein Bunker, in dem „Old Nick“ ihr Versorger und Peiniger gleichermaßen, sie eingesperrt hält und ihnen damit das Recht auf Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben nimmt. Jacks Mutter ist dort schon viele Jahre, nachdem sie mit 19 entführt wurde und an diesen dunklen, traurigen Ort gebracht wurde. Jack mag es gar nicht glauben, dass es außerhalb von „RAUM“ noch etwas anderes geben soll und warum seine Mutter dort unbedingt hinwill und sich nicht länger mit dem gemeinsamen Alltag begnügen möchte. Jack wird zur Schlüsselfigur in einer sorgsam geplanten Flucht aus der Entführungshölle, nur bleibt er auch ein Risikofaktor, denn er kennt überhaupt nichts anderes als seine Mutter, die karge Einrichtung in RAUM und „Old Nick“, doch wenn es ihm nicht gelingt, den Plan nach den genauen Vorgaben einzuhalten, steht ihr Leben auf dem Spiel.

Meinung

Zunächst verfügt dieses Buch natürlich über eine absolut fesselnde Ausgangssituation, die nicht nur den Alltag eines Missbrauchsopfers abzubilden versucht, sondern auch die Schäden, die lebenslange Isolationshaft, ohne Kenntnisse einer normalen Welt nach sich zieht. Umso beängstigender wird das Szenario, weil die irische Autorin Emma Donoghue die Erzählperspektive in die Hände eines Kindes legt, dessen Welt nicht nur winzig klein ist, sondern auch kreuzgefährlich und lebensbedrohlich, sobald eine falsche Entscheidung getroffen wird. Doch gerade diese Sicht auf die Dinge, hat mir zunächst einige Probleme bereitet, denn Jack erzählt mit seinen Worten von einem Alltag, der sich dem Leser erst nach und nach erschließt und oftmals die Schrecken umschreibt, die andernfalls ganz ungefiltert ankommen würden. So versteckt sich der Junge zum Beispiel im Schrank, wenn „Old Nick“ mal wieder Bett quietscht und zählt die Quietscher, bis ein seltsames Stöhnen die Geräuschkulisse unterbricht.

Im ersten Drittel des Buches bin ich gar nicht so richtig damit warmgeworden, doch nachdem es dem Jungen und seiner Mutter tatsächlich gelungen ist, aus „RAUM“ zu fliehen, beginnt für mich der Teil, der einen regelrechten Lesesog verursacht hat, denn plötzlich steht man genauso wie Jack mitten in einer Welt, die so anders und gefährlich ist, dass man sich sehr gut vorstellen kann, warum sich das Kind zunächst in die Sicherheit und Zuflucht seiner bekannten Umgebung zurücksehnt. Gerade der psychologische Aspekt hat mich sehr inspiriert, denn was ist, wenn es nicht nur die vor Angst gepeinigte Mutter gibt, sondern plötzlich andere Kinder, Menschen, Verwandte, Ärzte und eine Welt, die unermesslich groß ist und doch so wenig Anteil nimmt am Leben des Einzelnen.

In nur wenigen Tagen wird Jack mit all dem konfrontiert und versucht, wenigstens ein paar gute Dinge zu finden, die es ihm möglich machen das „draußen“ ebenso zu mögen, wie das „drinnen“, selbst wenn es voller Entbehrungen und Belastungen war.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für eine krasse, beängstigende Story, die gerade auf Grund der Erzählperspektive so verstörend wirkt. Und obwohl das Buch keine sensationellen Überraschungen bereithält und trotz der bedrückenden Lage glaubwürdig erscheint, kann man sich der Geschichte bald nicht mehr entziehen und fiebert dem weiteren Geschehen entgegen. Möglicherweise hätte mich das ganze auch auf der Ebene eines Thrillers angesprochen, dann aber aus Sicht der Mutter, die mir hier doch etwas zu blass geblieben ist, was aber nicht an ihrer Persönlichkeit liegt, sondern schlicht und einfach an der Fokussierung des Kindes auf die Umstände.

Auf jeden Fall möchte ich mir hier jetzt die Verfilmung anschauen, denn möglicherweise füllen sich dort die Lücken, die der Text trotz seiner thematischen Dichte hatte. Ich empfehle diese Lektüre gerne weiter, sie vermittelt einen komplett anderen Blick auf die Schrecken einer Entführung und einer langen, ungewollten Haft in den Fängen des Bösen.

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Veröffentlicht am 16.06.2021

Subjektive Unmöglichkeiten

Echo des Schweigens
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„Sie haben getan, was ein guter Verteidiger tut: Sie haben geredet, wo es zu reden galt. Und sie haben geschwiegen, wenn Schweigen das einzig Richtige war. Ein guter Verteidiger weiß, dass es nicht seine ...

„Sie haben getan, was ein guter Verteidiger tut: Sie haben geredet, wo es zu reden galt. Und sie haben geschwiegen, wenn Schweigen das einzig Richtige war. Ein guter Verteidiger weiß, dass es nicht seine Aufgabe ist, Lücken der Anklage zu füllen.“

Inhalt

Hannes Jansen bekommt mit seinem derzeitigen Fall die Möglichkeit zugespielt, sich endlich als würdiger Nachfolger in seiner Kanzlei zu erweisen und damit in die Fußstapfen seines Chefs zu treten, der mit dem Gedanken liebäugelt sich allmählich von der vordersten Anwaltsfront zurückzuziehen, um seinen Ruhestand zu genießen. Umso wichtiger scheint ihm dieser Mordprozess, bei dem ein Polizist, ein Familienvater, ein angesehener Bürger angeklagt wurde, dass er einen bereits inhaftierten Afrikaner in seiner Zelle verbrannt haben soll. Ursprünglich wurde der Beschuldigte schon einmal freigesprochen, weil die Indizien nicht reichten, ihn den Mord zweifelsfrei nachzuweisen. Doch nun existiert ein neues Gutachten, bei dem die Pathologin Sophie Tauber eindeutig nachgewiesen hat, dass die Verbrennungen des Opfers nur durch Fremdeinwirkung und einen Brandbeschleuniger zustande gekommen sein können. Mit Erschrecken stellt Hannes fest, dass es sich bei seiner Kontrahentin vor Gericht um seine neue Bekanntschaft handelt, mit der er eigentlich eine Beziehung beginnen wollte, doch nun stehen sie auf gegnerischen Seiten und zwischen ihnen offenbaren sich ganz verschiedene Ansichten bezüglich Gerechtigkeit, Schuld und Moral. Schlagartig kühlt die erste Leidenschaft wieder ab, aber so ganz können sie nicht voneinander lassen, zumal sich immer mehr Schnittstellen zwischen Sophies Vergangenheit und der von Hannes ergeben …

Meinung

Nachdem ich vor kurzem mit absoluter Begeisterung „Die Wahrheit der Dinge“ gelesen habe, wollte ich unbedingt den vorherigen Roman des als Anwalt agierenden Schriftstellers Markus Thiele kennenlernen und bin mit entsprechend hoher Erwartungshaltung an die Lektüre herangetreten. Und zugegeben, sowohl der Schreibstil als auch der Plot an sich, bieten genau das richtige Maß an Unterhaltung, Spannung und tiefgreifenden Gedankengängen, die ich bei guter Belletristik zu schätzen weiß.

Gerade der Beruf des Strafverteidigers, mit seinen vielfältigen Aufgaben und der ständigen Belastung damit leben zu müssen, möglicherweise einen Mörder zu decken, bzw. dessen Strafmaß ausschlaggebend zu minimieren, wurde hier bestens und glaubwürdig umgesetzt. Insbesondere die Gesprächsanteile zwischen dem Seniorchef der Kanzlei und dem Hauptprotagonisten machen dabei deutlich, wie schmal der Grat zwischen moralischer Vertretbarkeit, tatsächlicher Schuld und gängigen Moralvorstellungen ist. Und dieser Zwiespalt scheint in der Berufsgruppe keine Ausnahme zu sein, sondern sich mit jedem Fall, mit jeder Gerichtsverhandlung zu verfestigen und klare Grenzen zwischen dem persönlichen Empfinden und den tatsächlichen Möglichkeiten der Verteidigung aufzuzeigen. Eine Vermischung zwischen Gesetz und Moral darf nicht erfolgen, wenn man als Strafverteidiger einen guten Job ausüben möchte.

Der Autor entwirft in diesem Roman zwei verschiedene Handlungsstränge, die zwar miteinander in Verbindung stehen, deren klare Zusammenhänge aber erst relativ spät im Text offenbart werden. Neben der gegenwärtigen Gerichtssituation und der Anbahnung einer Liebesbeziehung zwischen Anwalt und Pathologin, reist der Leser in die Vergangenheit und begleitet Sophies Mutter und Großmutter auf deren Lebensreise durch das nationalsozialistische Deutschland.

Mir persönlich hat dieser Schachzug von Markus Thiele nicht so gut gefallen, denn obwohl er das Unterhaltungsniveau des Buches aufwertet, geraten die beiden Handlungsstränge miteinander in Konflikt, insbesondere deswegen, weil sie sich stets abwechseln. Und wenn der Leser gedanklich bei der Judenverfolgung verweilt, schwenkt die Story wieder in den Gerichtsprozess, der damit in keiner direkten Verbindung steht, bzw. umgekehrt. Bei Thrillern mag ich diesen Wechsel zwischen dem Gestern und Heute immer ausgesprochen gern, hier hat mir dieses Spannungselement eher missfallen. Andererseits handelt es sich hier um Kritik auf hohem Niveau, denn über den Aufbau der Story kann man eigentlich nicht meckern und das Lesevergnügen bleibt trotz dieser Unterbrechungen gleichbleibend gut erhalten.

Fazit

Zu 5 Sternen reicht es diesmal nicht ganz aber es werden vier gute Punkte und eine Leseempfehlung meinerseits. Nach wie vor kann ich der Mischung zwischen Fiktion und Realität in der Verhandlungsführung und im Gerichtssaal viel abgewinnen. Im Nachwort richtet sich der Autor dann klar aus und beschreibt, die zu Grunde liegenden wahren Fälle, die er als Ideensammlung für den vorliegenden Roman genutzt hat.

Und darin liegt für mich auch der besondere Reiz der Bücher – weit über die Tatsachen hinaus entsteht eine berührende Geschichte, die sich mit wichtigen menschlichen Grundsatzfragen beschäftigt und den Leser mitnimmt auf die Gedankenreise zwischen Gut und Böse und diversen Schattierungen dazwischen. All die Dinge, die den Berufszweig der Juristerei so trocken erscheinen lassen, werden hier ausgeblendet und stattdessen so komprimiert dargestellt, dass man auch als Laie einen geschärften Blick fürs Detail bekommt. Markus Thiele steht auf meiner Watch-List, sehr gern verfolge ich seine weiteren Ausführungen der zeitgenössischen Gerichtsbarkeit und ihrer Stolpersteine.

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Veröffentlicht am 26.05.2021

Ideen, die das Schicksal hat

Das Licht ist hier viel heller
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„Wenn Wenger an seine Kinder denkt, dann wie Nebenfiguren in einem Roman. Sie sind da, aber man konzentriert sich nicht so auf sie, man glaubt, sie seien nicht so wichtig. Doch das ist nicht wahr. Denn ...

„Wenn Wenger an seine Kinder denkt, dann wie Nebenfiguren in einem Roman. Sie sind da, aber man konzentriert sich nicht so auf sie, man glaubt, sie seien nicht so wichtig. Doch das ist nicht wahr. Denn vernachlässigt man die Nebenfiguren, bricht das Ganze zusammen. Was man allerdings erst merkt, wenn der Geschichte, nein, dem ganzen Leben plötzlich die Stimmen fehlen, die die Melodie so vielschichtig gemacht haben.“

Inhalt

Maximilian Wenger ist in seiner Midlife Crisis angekommen, denn weder privat noch beruflich läuft irgendetwas. Die Kinder sind groß, die Frau hat ihn für einen viel jüngeren Fitnessguru verlassen und ihm, dem einstigen Stern am Autorenhimmel sind nun definitiv die Ideen ausgegangen und so wird es wohl nichts werden mit dem erträumten Erfolg eines weiteren Bestsellers. In seiner neuen Junggesellenbude, die er schnell verwahrlosen lässt, öffnet er ein paar Briefe, die eigentlich an seinen Vormieter adressiert waren und lässt sich von den Worten einer ihm unbekannten Frau fesseln, die ihn wachrütteln. Denn das Männerbild, welches sie in Textform heraufbeschwört, erinnert ihn zu sehr an sein eigenes Leben, zwischen zahlreichen Geliebten und immer auf der Sonnenseite des Lebens. Doch gerade jetzt, wo er ganz unten ist, und etwas Zuspruch gebrauchen könnte, haben sich alle von ihm abgewandt. Für Herrn Wenger werden die Briefe zur Inspirationsquelle und plötzlich scheint wieder alles möglich, zumindest auf dem Papier …Währenddessen kämpft seine fast 18-jährige Tochter mit ebenjenen Beschuldigungen, die Inhalt der Briefe sind, denn auch sie hat aus Neugier einen Blick in die fremden Dokumente geworfen. Umso enttäuschter ist sie von ihrem Vater, der ihr zwar immer alles bieten konnte, nur nicht den Schutz und die Zuneigung, die sie sich über viele Jahre von ihm gewünscht hätte …

Meinung

Die österreichische Autorin Mareike Fallwickl konnte mich schon mit ihrem Debütroman „Dunkelgrün fast schwarz“ überzeugen und deshalb habe ich mir gleich nach dem Erscheinungstermin 2019 ihren zweiten Roman zugelegt, der nun leider noch etwas warten musste, bis ich ihn von meinem SUB befreit habe. Ein wenig ins Grübeln bekommen bin ich auf Grund der Worte, die der Klappentext formuliert: „Ein soghafter Roman über das Gelingen und Scheitern von Beziehungen, über Macht und Machtmissbrauch, über Männer und Frauen und alles, was sie einander antun.“ So ganz klar war es mir nämlich nicht, auf was ich mich hier einlassen würde. Aber meine Zweifel bezüglich des Gefallens wurden schnell zerstreut, denn allein schon der Schreibstil und die Ausarbeitung der verschiedenen Charaktere lassen kaum Wünsche offen und entführen den Leser schnell in die fiktive Welt des Maximilian Wengers, der mit seinen ausgesprochen unsympathischen Wesenszügen, gleich einmal als Sinnbild für einen bestimmten Männertyp steht und dem man eigentlich nur die kalte Schulter zeigen kann.

Der Plot selbst hat mich eher wenig inspiriert, denn weder die Schaffenskrise des Literaten, noch die schwere Zeit, die dessen Tochter durchmacht (Schwerpunkt sexueller Missbrauch), konnten mich so richtig fesseln. Es sind einfach Themen, die mich nur bedingt interessieren, und gerade, weil es hier zwei Einzelerzählungen sind, die lediglich geringfügige Berührungspunkte aufweisen, fehlte mir eine Verbindungslinie. Das mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass Herr Wenger und seine Tochter schlicht und einfach zwei gänzlich verschiedene Leben führen und einander so gut wie nichts zu sagen haben. Dadurch konnte man sich zwar hervorragend die beiden divergierenden Lebensentwürfe vorstellen, aber zu den einzelnen Protagonisten entsteht eine zu schwache Bindung. Denn irgendwie habe ich mich immer so gefühlt, als würde ich beiden gerne eine ganze Menge Dinge mitteilen, über die sie anscheinend noch nicht nachgedacht haben.

Das sind aber schon die einzigen Kritikpunkte, die ich anzumerken habe und die sind wohl persönlicher Natur. Was dieses Buch aber tatsächlich zum Lesevergnügen macht, ist die vielschichtige emotionale Ebene, die man vorrangig zwischen den Zeilen herauslesen kann. Gerade das zerbrechende Familiengefüge, die zahlreichen Verletzungen zwischen Eltern und Kindern, die Kluft, die sich über Jahre entwickelt und auch nicht mehr überbrücken lässt – all diese familiären Stolpersteine, sind bei den Wengers schon zu regelrechten Felsblöcken geworden. Und dieser Aspekt zwischen Eltern und Kindern schimmert immer wieder durch und hätte gern das zentrale Thema des Buches sein dürfen, denn darin liegt für mich die eigentliche Aussagekraft des Romans.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen aktuellen, intelligenten und gut beobachteten Roman, der stereotypische Verhaltensweisen anprangert, im Kern wirklich wichtige Lebensfragen behandelt und Gesellschaftskritik gekonnt humoristisch verpackt. Und obwohl mich der Inhalt nicht restlos überzeugen konnte, war es eine unterhaltsame Leseerfahrung mit Mehrwert. Bei diesem Buch ging es mir ähnlich wie beim Vorgänger, die reine Handlungsebene erreicht mein Herz nicht, dafür spürt man beim Lesen viel tiefere Gedankengänge, über die man gewillt ist, länger nachzudenken. Insgesamt ein empfehlenswertes Buch: authentische Figuren, glaubwürdige Entwicklungen und genügend Raum für eigene Spekulationen. Die Autorin behalte ich im Auge, sie ist nah dran am Puls der Zeit und schafft es, eigene Erzählwelten zu schaffen, die man gerne aus der Zuschauerperspektive erkundet.

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