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Veröffentlicht am 30.08.2021

Roman über eine lange Ehe mit vielen Fehlern und später Wiedergutmachung des Ehemannes

Barbara stirbt nicht
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Wie schon in ihren früheren ebenso wunderbaren Büchern „Der Zopf meiner Großmutter“ und „Baba Dunjas letzte Liebe“ verarbeitet die Autorin, die in den 1990er Jahren aus Russland nach Deutschland gekommen ...

Wie schon in ihren früheren ebenso wunderbaren Büchern „Der Zopf meiner Großmutter“ und „Baba Dunjas letzte Liebe“ verarbeitet die Autorin, die in den 1990er Jahren aus Russland nach Deutschland gekommen ist, ein wenig auch hier ihren eigenen Migrationshintergrund. Sie erzählt über die schon mehr als 50 Jahre währende Ehe von Walter und Barbara Schmidt, die einst keinen glücklichen Start hatte, weil es eine „Muss-Ehe“ war und Barbara russischer Herkunft ist, was für den kleinen Rassisten Walter lange ein Makel war. Er hat in seiner Ehe und seinen Kindern gegenüber so manchen Fehler gemacht. Im Alter dann macht er unbewusst vieles davon wieder gut und zeigt seinem Umfeld bislang verborgene positive Seiten. Barbara wird nämlich aufgrund von Krankheit zum Pflegefall und der bislang in Haushaltsdingen völlig unbedarfte Walter widmet sich mit zunehmender Perfektion vor allem dem Kochen. Zugleich sinniert er viel über die Vergangenheit.
Der Schreibstil ist sehr gelungen mit Ansätzen von schwarzem Humor und Wortwitz, ohne dass dies übertrieben eingesetzt wird. Das Buchcover passt wie die Faust aufs Auge, denn mit dem erstmaligen Kaffeekochen hat Walter den ersten Schritt in seine Selbständigkeit getan. Die Geschichte als solche überzeugt thematisch und in der Ausführung und veranlasst vielleicht den einen oder anderen, einmal über die Arbeitsteilung in der eigenen Ehe und Respektbekundungen gegenüber dem Ehepartner nachzudenken. Obwohl Walter mit seinen Ansichten nicht gerade ein Sympathieträger ist, hat man es mit ihm als Romanfigur gerne zu tun. Er ist ein typischer Mann seiner Generation. Lobenswert ist, welche schöne Entwicklung er schließlich durchmacht und erkennt, dass er Barbara immer unterschätzt hat.
Sehr empfehlenswert.

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Veröffentlicht am 22.08.2021

Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte gegen Ende der DDR

Kairos
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Buchtitel und Cover passen haargenau auf den neuesten Roman von Jenny Erpenbeck. Kairos ist der griechische Gott des richtigen Augenblicks. Als genau solch einen Augenblick empfinden die 19jährige Katharina ...

Buchtitel und Cover passen haargenau auf den neuesten Roman von Jenny Erpenbeck. Kairos ist der griechische Gott des richtigen Augenblicks. Als genau solch einen Augenblick empfinden die 19jährige Katharina und der 34 Jahre ältere, verheiratete Schriftsteller Hans den Moment, in dem sie sich im Jahr 1986 zufällig auf einer Straße Ostberlins kennenlernen. Sie werden zum Liebespaar und können nicht ohne den anderen sein. Hans mag an Katharina deren kindliche Unschuld und gibt sich mit ihr masochistischen Sexpraktiken hin, Katharina fasziniert das Wissen des ihr an so viel Lebenserfahrung reicheren Hans und ist diesem fast hörig. Doch kann eine solche Beziehung gut gehen angesichts Hans Eifersucht auf jüngere Männer und seinem Hang, die Geliebte dafür zu bestrafen sowie Katharinas Kinderwunsch und ihrer zunehmenden Ungeduld, dass Hans seine Ehefrau verlassen möge? Jedenfalls fängt das anfängliche Glück an zu bröckeln und Hans zeigt seine wahre Fratze. Der Pappkarton vom Cover ist einer von zwei Kartons mit gesammelten Erinnerungsstücken aus der Beziehung, die Katharina später zugespielt werden und die für sie Anlass zur Rückschau sind.
Doch nicht nur die ungewöhnliche Liebesgeschichte hat mich in ihren Bann gezogen, sondern auch das geschichtliche Umfeld, in dem sie angesiedelt ist. Es sind wenige Jahre rund um die Wendezeit in der DDR. Im persönlichen Umfeld von Hans und Katharina gehören die meisten Personen zur seinerzeitigen geistigen Elite, so dass Vieles zur Wende aus deren Perspektive zu lesen ist.
Das Buch setzt hohe Ansprüche beim Lesen. In formeller Hinsicht fällt auf, dass wörtliche Reden nicht als solche kenntlich gemacht sind und Schachtelsätze nicht ungewöhnlich sind. Inhaltlich kommen viele Passagen hinzu, die die griechische Mythologie, literarische Werke bedeutender deutscher Dramatiker oder wichtige Musikstücke betreffen. Aber es lohnt sich wirklich, dieses Buch zu lesen.

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Veröffentlicht am 08.08.2021

Ein liebenswerter Postbote und Vater

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
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Dieses Buch fand ich wirklich sehr beeindruckend. Das beginnt schon bei formalen Besonderheiten wie dem recht langen Buchtitel und den ebenso ausführlichen 40 Kapitelüberschriften sowie aufgenommenen Fotos ...

Dieses Buch fand ich wirklich sehr beeindruckend. Das beginnt schon bei formalen Besonderheiten wie dem recht langen Buchtitel und den ebenso ausführlichen 40 Kapitelüberschriften sowie aufgenommenen Fotos und Skizzen, setzt sich dann aber inhaltlich in der Geschichte selbst fort.
Diese dreht sich um den 40jährigen Pedro, einem Postboten in der dritten Generation mit Fleisch und Blut, dessen Job auf Lanzarote zusehends der Digitalisierung zum Opfer fällt, so dass ihm fast nur noch die Zustellung von Postwurfsendungen bleibt. Umso mehr Zeit hat er für die Erziehung seines kleinen Sohnes, mit dem ihn ein inniges Verhältnis verbindet. Eine Welt geht für ihn unter, als seine Freundin samt Kind ihn urplötzlich Richtung Barcelona verlässt. Sein verrückter Jugendfreund mit seinen immer neuen Geschäftsideen und ein schwarzer Flüchtling aus Afrika bringen ihn allmählich wieder in die Spur und spornen ihn an, zu seinem Sohn zu reisen.
Der Protagonist Pedro ist eine sehr sympathische Romanfigur, weil er trotz seines Alters ein Kind geblieben ist und sich so rührend um seinen Sohn kümmert. Da sieht man es ihm gerne nach, dass er so wenig Ehrgeiz hat, seine berufliche Situation zu ändern und stattdessen sinnlose Touren über die Insel mit dem Dienstmotorrad unternimmt, um seinem Dienstherrn die fortbestehende Notwendigkeit eines Postboten zu beweisen. Sehr interessant ist, dass Pedro zufällig auch mit seiner eigenen familiären Herkunft, insbesondere seiner Verbindung zum Vater konfrontiert wird. Der Autor belässt es nicht bei einer Familiengeschichte, sondern flicht sehr detailreich historische Fakten ein, wie den spanischen Bürgerkrieg ab 1936, die Verwicklung der Nationalsozialisten hierin, die Bedeutung Francos für Spanien, die Flucht von Afrikanern nach Spanien. Auch die verrückten Geschäftsideen seines Freundes rund um die Villa Winter und die versunkene Insel Atlantis sind von geschichtlicher Bedeutung. Nicht zuletzt werden Kenntnisse über Lanzarote als Vulkaninsel vermittelt, wenn auf die Vulkanausbrüche ab 1730 eingegangen wird.
Ein wirklich lesenswertes Buch.

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Veröffentlicht am 25.07.2021

Das Leben einer alleinerziehenden Mutter

Kleine Fluchten
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Dieses Buch richtet sich nicht nur an alleinerziehende Mütter, wie die namenlose Protagonistin eine ist. Es zeigt ein allgemein gültiges gesellschaftliches Phänomen auf, nämlich die Vereinbarkeit von Mutterschaft ...

Dieses Buch richtet sich nicht nur an alleinerziehende Mütter, wie die namenlose Protagonistin eine ist. Es zeigt ein allgemein gültiges gesellschaftliches Phänomen auf, nämlich die Vereinbarkeit von Mutterschaft mit Berufstätigkeit und dem Wunsch auf ein eigenes Leben außerhalb von Kind und Haushalt. Drastischer darstellen lassen sich die Probleme natürlich anhand einer Frau, die wie die Erzählerin ihr Kleinkind ohne den Vater aufzieht, der sang- und klanglos aus ihrem Leben verschwunden ist. Ihr täglicher Spagat, es allen, vor allem ihrem Kind gerecht zu machen und dennoch langsam und sicher sozial abzusteigen und sich selbst zu verlieren, wird absolut realistisch dargestellt. Eigentlich kann man es ihr nicht verdenken, wenn sie sich nachts während des Schlafs ihres Kindes für immer länger werdenden Intervalle aus der Wohnung schleicht, um Einblicke auf das an ihr vorbeiziehende Leben zu erhaschen. Dass solche Freiräume von der Gesellschaft, die den Frauen nötige Hilfen verweigert, an den Pranger gestellt werden und diese auch sonst gnadenlos mit einer Alleinerziehenden abrechnet, die sich doch „nur“ richtig zu organisieren habe, um Kind und sonstiges Leben unter einen Hut zu bekommen, versteht sich von selbst. Das Ende der Geschichte ist hervorragend gelöst. Alles sieht danach aus, als ob während der nächtlichen Abwesenheit der Frau etwas Tragisches mit ihrem Kind passiert ist. Aber weit gefehlt … Doch das muss einfach jeder selbst lesen, indem er zu diesem nur zu empfehlenden Buch greift.

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Veröffentlicht am 19.07.2021

Dorfleben zu Zeiten von Corona

Über Menschen
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Noch während andauernder Corona-Pandemie einen Corona-Roman wie den vorliegenden zu lesen, hat etwas, denn in ihm werden alle nur denkbaren Meinungen über das Thema abgehandelt und der Leser wird sich ...

Noch während andauernder Corona-Pandemie einen Corona-Roman wie den vorliegenden zu lesen, hat etwas, denn in ihm werden alle nur denkbaren Meinungen über das Thema abgehandelt und der Leser wird sich schon irgendwo wiederfinden. Die Protagonistin Dora ist eine Werbetexterin aus Berlin, die Abstand von ihrem Freund, einem radikalen Klimaaktivisten und Lockdown-Verfechter, braucht und sich in einem alten Haus in einem brandenburgischen Dorf niederlässt. Seine Bewohner sind ganz dem üblichen Klischee entsprechend rechtsgerichtet und deshalb so gar nicht Doras Fall. Dennoch entsteht rasch eine enge Beziehung zu ihrem als „Dorf-Nazi“ geltenden Nachbarn und anderen Bewohnern, weil diese ihr Hilfe und ein Gefühl von Zugehörigkeit geben. Die Geschichte ist witzig und ironisch geschrieben, das Ende sehr berührend. Die Charakterisierungen der Personen sind sehr liebevoll und treffend und werden dem Buchtitel voll gerecht. Als Lehre lässt sich aus der Geschichte ziehen, dass sich Vorurteile nicht immer bewahrheiten.
Sehr empfehlenswert.

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