Profilbild von Wordworld_Sophia

Wordworld_Sophia

Lesejury Star
offline

Wordworld_Sophia ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Wordworld_Sophia über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.05.2019

Angestaubte Sprache, aufgeblasene Monologe und eine diskontinuierliche Konstruktion der Handlung

Faust
0

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen ...

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen Augenblick festhalten wolle, dann erhält er Fausts Seele. Mephisto tut alles, um Faust vom rechten Weg abzubringen. Er macht ihn jünger und verhilft ihm zu einer Affäre mit einem jungen, unschuldigen Mädchen - Gretchen - dessen physische und psychische Existenz er durch sein triebhaftes, egoistisches Verhalten zerstört. Seine Lebenskrise überwindet er jedoch nicht und sein Irren wird mit "Faust II" weitergeführt.


Vorangestellt muss ich wohl sagen, dass dieser Klassiker eine meiner Deutsch-Abi-Lektüren war, ich mich also im schulischen Rahmen damit beschäftigt habe. Auch wenn ich mir im Rahmen der Klassiker-Challenge das Ziel gesetzt habe, alten Klassikern eine Chance zu geben, hätte ich mich wohl nie an diesen verstaubten Schinken gewagt. Und auch wenn ich die Handlung besser verstanden habe, als ich zu Beginn angenommen hatte, habe ich mich nur durch diese Tragödie gequält. Das liegt meiner Ansicht nach weniger daran, dass ich ein Kulturbanause bin, vielmehr fand ich die Geschichte einfach grottenschlecht erzählt und weder die Handlung noch die Sprache oder die Themen konnten mich abholen. Natürlich ist es sehr schwierig ein solches Werk angemessen zu rezensieren. Und vielleicht kann es auch sein, dass aus mir mit dieser Meinungsäußerung auch der Frust spricht, dass ich mich mit diesem Werkt zwei Jahre lang beschäftigen musste. Dennoch würde ich sagen, dass ich mir nach etlichen Klausuren, detaillierter Textarbeit, spannenden Diskussionen und einer Abiprüfung durchaus das Recht verdient habe, das Werk von meinem Standpunkt aus kritisch zu bewerten.



Wie bin ich mit der Sprache zurecht gekommen?


Goethes Faust ist ein Theaterstück, das aus 28 einzelnen Szenen ohne Akteinteilung besteht. Vielmehr hat sich Goethe hier für ein Stationendrama mit asymmetrischem Aufbau entschieden (2 Peripetien), das man nach der typischen Dramenaufteilung in die Gelehrtentragödie und die Gretchentragödie gliedern kann. Dabei wird die Geschichte nur über Monologe und Dialoge erzählt, die bis auf eine Prosaszene in gereimten Versen verfasst sind. Wem sich bei den Worten Madrigalvers, Knittelvers, Blankvers und freien Rhythmen schon die Nackenhaare sträuben, sollte lieber die Finger davon lassen. Am meisten zu schaffen gemacht hat mir aber nicht die gereimte Sprache mit ihren vielfältigen Versformen und aufgeblasenen Wortbildern, sondern vor allem die diskontinuierliche Szenenfolge. Ständige Zeitsprünge, Ortswechsel und das plötzliche Auf- und Abtreten von Figuren machen das Verfolgen der dialogisch präsentierten Handlung sehr schwer. In der sprachlichen Gestaltung sind eindeutige Einflüsse des Sturm und Drangs erkennbar (eine Epoche deren Gefühlsbetontheit und Ichbezogenheit mir ehrlich gesagt sehr auf die Nerven geht). So hielt Goethe wohl nicht wirklich etwas von einer Einheit von Zeit, Ort, fortlaufender Handlung oder sprachlicher Geschlossenheit sondern legte stattdessen viel Wert auf ausschweifende Monologe von Seiten Fausts über seine Lebenskrise, seinen Treibstau oder über seine entgrenzenden Naturerlebnisse. Wenn ich also sage, die Sprache ist sehr altmodisch und recht anspruchsvoll meine ich eigentlich langweilig und angestaubt. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, welche Art von Faszination für dieses Werk, Menschen dazu treibt, sich freiwillig diesem Kuddelmuddel zu widmen.



Wie finde ich die Konstruktion der Handlung?


Goethe hat dieses Werk über mehrere Jahrzehnte hinweg in mehreren Phasen verfasst („Urfaust“, Fragmente, …). Leider kann man die zeitweisen Arbeitsschritte und die fehlende Stringenz auch der Handlung anspüren. So ist das passendste Attribut, das mir zum Aufbau des Dramas einfällt: verwirrende Inhomogenität. Viele wichtige Informationen werden übergangen, nebenbei erwähnt oder äußerst ungenau wiedergegeben und aufgrund der diskontinuierlichen Szenenfolge lassen sich auch die häufigen Zeitsprünge, die im krassen Gegensatz zu den ausschweifenden Wiederholungen am Anfang stehen, äußerst schlecht identifizieren. So wird dem unwissenden Leser Gretchens Schwangerschaft verschwiegen (bloß wenn man es weiß, kann man Anspielungen erkennen), die Geburt des Kindes, ihr Konflikt und ihr Kindsmord werden zugunsten der widerlich orgiastischen "Walpurgisnacht" und dem parodierenden "Walpurgisnachtstraum" komplett ausgespart. Ich halte mich selbst für eine recht aufmerksame Leserin, aber wenn ich keine schlauen Zusammenfassungen im Internet zur Hilfe gehabt hätte, hätte ich gerade im letzten Teil wenig der Handlung verstanden. Auf der einen Seiten haben mich also die vielen Wiederholungen gleicher Gedankengänge (vor allem Fausts scheinheilige Selbstgespräche, wie weit er bei Gretchen gehen darf) und auf der anderen Seite das Aussparen wichtiger Informationen und essenzieller Szenen, die zum Verständnis der Handlung notwendig sind sowie die nicht vorhandene Kennzeichnung von riesigen Zeitsprüngen, ziemlich verwirrt und genervt. Hätte ein heutiger Roman sich diese grottige Konstruktion geleistet, wäre er in der Luft zerrissen worden.


Kann ich mich mit den Protagonisten identifizieren?

Allgemein ist das angesichts des Alters des Werks recht schwierig, da die Figuren in einer komplett anderen Zeit gelebt haben und sich sowohl ihre Denk- als auch Lebensweise stark von unserer unterscheidet. Dazu kommt, dass die Hauptfigur Faust mit seinen schätzungsweise 50 Jahren in einer Lebenskrise steckt, die man wohl heutzutage als Midlife Crises betiteln würde und die ich nur schwer auf meine eigene Lebenswelt beziehen kann. So leidet er an einem emotionalen Defizit, hat keine engen sozialen Bindungen und sein immenser Triebstau sorgt in seiner Beziehung mit Gretchen für ein Schwanken zwischen Schwärmerei und sexuellem Verlangen. Ein weiterer Punkt, weshalb ich mit Faust nicht besonders viel anfangen konnte, ist seine verantwortungslose, zerstörerische Ich-Bezogenheit, mit der er das Leben der jungen Margarete zerstört und die Tatsache, dass er all seine Schuld an ihrem Schicksal leugnet, verdrängt und auf Mephisto abzuwälzen versucht. Ihr seht also - ein sehr liebenswerter Charakter, dieser Heinrich Faust.

Da sich mit "Faust" und "Steppenwolf" gleich zwei Schwerpunktlektüren mit den Lebenskrisen älterer Männer befassen und das für mich als junge Frau nicht besonders relevant ist, kam die Prüfungskommission doch tatsächlich auf die Idee, uns "Faust" mit der Begründung schmackhaft zu machen, dass ja mit Margarete ein junges Mädchen eine wichtige Rolle spiele. Dass sie erst 14 Jahre alt ist und sich naiv (trotz guter Intuition) von dem viel älteren Faust verführen (mal ehrlich, das ist trotz seiner Verjüngung echt widerlich), benutzen und wegwerfen lässt, macht sie meiner Meinung nach trotzdem nicht unbedingt zur passendsten Identifikationsperson Die einzig erfreuliche Wendung, die ihren Charakter anbelangt ist, dass sie sich am Ende im Kerker dazu entscheidet, nicht mit Faust zu fliehen, sondern ihre Schuld bekennt, zu sich selbst zurückfindet und sich ihrem Gericht stellt.

Wen ich als einziges wirklich interessant fand, ist Mephisto, da er mit seinen verschiedenen Rollen und Erscheinungsformen sowie mit seiner Stellung als Katalysator des Guten im Weltgefüge als einziger eine gewisse Ambivalenz und Tiefe besitzt. Spannend finde ich auch den Gedanken, dass Faust und Mephisto als antithetische Figuration eines inneren Prozesses gesehen werden können, Mephisto also zum Alter Ego oder zur Wesensdimension Faust werden würde.


Ist das Thema des Romans noch zeitgemäß? Inwiefern lässt es sich auf die heutige Zeit beziehen?

Ganz grob geht es im Faust mit seiner "Zwei-Seelen-Problematik" um den Widerspruch zwischen Körper und Geist, Wissen und Spaß, Intellektualität und Sinnlichem, Göttlichem und Irdischem und dem daraus folgenden Streben nach Entgrenzung. Faust leidet unter seinem begrenzten Erkenntnisvermögen und als klassischer Pantheist unter der Enge des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs, was ihn in eine tiefe Depression stürzt (Gelehrtentragödie). Auf der anderen Seite, locken ihn aber auch die sinnlichen Erfüllungen, was zur Gretchentragödie führt. Diese Thematik, dieser grundsätzliche Widerspruch, ist in ihren Grundzügen meiner Meinung nach immer noch relevant.

Sehr spannend finde ich außerdem, dass Goethe 1808 so offen über Religion und die Abkehr von dieser schreibt. Faust äußert sich als klassischer Pantheist und scheint nicht viel von Gretchens Frömmigkeit zu halten und auch das Gottesbild im "Prolog im Himmel" lässt eher auf eine ganzheitliche Betrachtung der religiösen Vorstellung schließen, als auf eine christliche. Goethes Vorstellung von "Gut und Böse" und Mephisto als wichtige Erfüllungshilfe, der die Menschen in ihrer Trägheit zum Streben bringt, empfinde ich ebenfalls als recht fortschrittlich.

Auch wenn das vermutlich nicht so beabsichtigt war, könnte man außerdem in Gretchens Opferrolle ein abschreckendes Beispiel für das Scheitern einer Beziehung sehen. Da sich die beiden in Alter, Schicht, Intelligenz, Reife, Religiosität und Ehrlichkeit der Absichten stark unterscheiden, ist ein Scheitern eigentlich vorprogrammiert. Ihre Beziehung war von Beginn an von Hierarchie, Abhängigkeit und von keiner richtigen Liebe von Seiten Fausts geprägt und stand unter dem Vorzeichen von Lug und Betrug.



Gesamteindruck: Ein Klassiker und must-read?

Goethes "Faust" ist insofern ein interessanter Klassiker als dass es Merkmale mehrerer verschiedener Epochen aufweist (Weimarer Klassik, Sturm und Drang, Aufklärung) und für die damalige Zeit recht fortschrittlich war was Sozialkritik, Religionskritik und Wissenschaftskritik anbelangt. Ob es ein "must-read" ist, würde ich dennoch entschiedenen verneinen. Weder die umständliche Sprache mit den aufgeblasenen Dialogen, den vielen Wiederholungen noch die diskontinuierliche Konstruktion der Handlung oder die fragwürdigen Figuren konnten mich überzeugen. So ist alles was von dem Werk bleibt der schale Triumpf, es einmal in meinem Leben gelesen zu haben.

Veröffentlicht am 13.05.2019

Angestaubte Sprache, aufgeblasene Monologe und eine diskontinuierliche Konstruktion der Handlung

Faust
0

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen ...

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen Augenblick festhalten wolle, dann erhält er Fausts Seele. Mephisto tut alles, um Faust vom rechten Weg abzubringen. Er macht ihn jünger und verhilft ihm zu einer Affäre mit einem jungen, unschuldigen Mädchen - Gretchen - dessen physische und psychische Existenz er durch sein triebhaftes, egoistisches Verhalten zerstört. Seine Lebenskrise überwindet er jedoch nicht und sein Irren wird mit "Faust II" weitergeführt.


Vorangestellt muss ich wohl sagen, dass dieser Klassiker eine meiner Deutsch-Abi-Lektüren war, ich mich also im schulischen Rahmen damit beschäftigt habe. Auch wenn ich mir im Rahmen der Klassiker-Challenge das Ziel gesetzt habe, alten Klassikern eine Chance zu geben, hätte ich mich wohl nie an diesen verstaubten Schinken gewagt. Und auch wenn ich die Handlung besser verstanden habe, als ich zu Beginn angenommen hatte, habe ich mich nur durch diese Tragödie gequält. Das liegt meiner Ansicht nach weniger daran, dass ich ein Kulturbanause bin, vielmehr fand ich die Geschichte einfach grottenschlecht erzählt und weder die Handlung noch die Sprache oder die Themen konnten mich abholen. Natürlich ist es sehr schwierig ein solches Werk angemessen zu rezensieren. Und vielleicht kann es auch sein, dass aus mir mit dieser Meinungsäußerung auch der Frust spricht, dass ich mich mit diesem Werkt zwei Jahre lang beschäftigen musste. Dennoch würde ich sagen, dass ich mir nach etlichen Klausuren, detaillierter Textarbeit, spannenden Diskussionen und einer Abiprüfung durchaus das Recht verdient habe, das Werk von meinem Standpunkt aus kritisch zu bewerten.



Wie bin ich mit der Sprache zurecht gekommen?


Goethes Faust ist ein Theaterstück, das aus 28 einzelnen Szenen ohne Akteinteilung besteht. Vielmehr hat sich Goethe hier für ein Stationendrama mit asymmetrischem Aufbau entschieden (2 Peripetien), das man nach der typischen Dramenaufteilung in die Gelehrtentragödie und die Gretchentragödie gliedern kann. Dabei wird die Geschichte nur über Monologe und Dialoge erzählt, die bis auf eine Prosaszene in gereimten Versen verfasst sind. Wem sich bei den Worten Madrigalvers, Knittelvers, Blankvers und freien Rhythmen schon die Nackenhaare sträuben, sollte lieber die Finger davon lassen. Am meisten zu schaffen gemacht hat mir aber nicht die gereimte Sprache mit ihren vielfältigen Versformen und aufgeblasenen Wortbildern, sondern vor allem die diskontinuierliche Szenenfolge. Ständige Zeitsprünge, Ortswechsel und das plötzliche Auf- und Abtreten von Figuren machen das Verfolgen der dialogisch präsentierten Handlung sehr schwer. In der sprachlichen Gestaltung sind eindeutige Einflüsse des Sturm und Drangs erkennbar (eine Epoche deren Gefühlsbetontheit und Ichbezogenheit mir ehrlich gesagt sehr auf die Nerven geht). So hielt Goethe wohl nicht wirklich etwas von einer Einheit von Zeit, Ort, fortlaufender Handlung oder sprachlicher Geschlossenheit sondern legte stattdessen viel Wert auf ausschweifende Monologe von Seiten Fausts über seine Lebenskrise, seinen Treibstau oder über seine entgrenzenden Naturerlebnisse. Wenn ich also sage, die Sprache ist sehr altmodisch und recht anspruchsvoll meine ich eigentlich langweilig und angestaubt. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, welche Art von Faszination für dieses Werk, Menschen dazu treibt, sich freiwillig diesem Kuddelmuddel zu widmen.



Wie finde ich die Konstruktion der Handlung?


Goethe hat dieses Werk über mehrere Jahrzehnte hinweg in mehreren Phasen verfasst („Urfaust“, Fragmente, …). Leider kann man die zeitweisen Arbeitsschritte und die fehlende Stringenz auch der Handlung anspüren. So ist das passendste Attribut, das mir zum Aufbau des Dramas einfällt: verwirrende Inhomogenität. Viele wichtige Informationen werden übergangen, nebenbei erwähnt oder äußerst ungenau wiedergegeben und aufgrund der diskontinuierlichen Szenenfolge lassen sich auch die häufigen Zeitsprünge, die im krassen Gegensatz zu den ausschweifenden Wiederholungen am Anfang stehen, äußerst schlecht identifizieren. So wird dem unwissenden Leser Gretchens Schwangerschaft verschwiegen (bloß wenn man es weiß, kann man Anspielungen erkennen), die Geburt des Kindes, ihr Konflikt und ihr Kindsmord werden zugunsten der widerlich orgiastischen "Walpurgisnacht" und dem parodierenden "Walpurgisnachtstraum" komplett ausgespart. Ich halte mich selbst für eine recht aufmerksame Leserin, aber wenn ich keine schlauen Zusammenfassungen im Internet zur Hilfe gehabt hätte, hätte ich gerade im letzten Teil wenig der Handlung verstanden. Auf der einen Seiten haben mich also die vielen Wiederholungen gleicher Gedankengänge (vor allem Fausts scheinheilige Selbstgespräche, wie weit er bei Gretchen gehen darf) und auf der anderen Seite das Aussparen wichtiger Informationen und essenzieller Szenen, die zum Verständnis der Handlung notwendig sind sowie die nicht vorhandene Kennzeichnung von riesigen Zeitsprüngen, ziemlich verwirrt und genervt. Hätte ein heutiger Roman sich diese grottige Konstruktion geleistet, wäre er in der Luft zerrissen worden.


Kann ich mich mit den Protagonisten identifizieren?

Allgemein ist das angesichts des Alters des Werks recht schwierig, da die Figuren in einer komplett anderen Zeit gelebt haben und sich sowohl ihre Denk- als auch Lebensweise stark von unserer unterscheidet. Dazu kommt, dass die Hauptfigur Faust mit seinen schätzungsweise 50 Jahren in einer Lebenskrise steckt, die man wohl heutzutage als Midlife Crises betiteln würde und die ich nur schwer auf meine eigene Lebenswelt beziehen kann. So leidet er an einem emotionalen Defizit, hat keine engen sozialen Bindungen und sein immenser Triebstau sorgt in seiner Beziehung mit Gretchen für ein Schwanken zwischen Schwärmerei und sexuellem Verlangen. Ein weiterer Punkt, weshalb ich mit Faust nicht besonders viel anfangen konnte, ist seine verantwortungslose, zerstörerische Ich-Bezogenheit, mit der er das Leben der jungen Margarete zerstört und die Tatsache, dass er all seine Schuld an ihrem Schicksal leugnet, verdrängt und auf Mephisto abzuwälzen versucht. Ihr seht also - ein sehr liebenswerter Charakter, dieser Heinrich Faust.

Da sich mit "Faust" und "Steppenwolf" gleich zwei Schwerpunktlektüren mit den Lebenskrisen älterer Männer befassen und das für mich als junge Frau nicht besonders relevant ist, kam die Prüfungskommission doch tatsächlich auf die Idee, uns "Faust" mit der Begründung schmackhaft zu machen, dass ja mit Margarete ein junges Mädchen eine wichtige Rolle spiele. Dass sie erst 14 Jahre alt ist und sich naiv (trotz guter Intuition) von dem viel älteren Faust verführen (mal ehrlich, das ist trotz seiner Verjüngung echt widerlich), benutzen und wegwerfen lässt, macht sie meiner Meinung nach trotzdem nicht unbedingt zur passendsten Identifikationsperson Die einzig erfreuliche Wendung, die ihren Charakter anbelangt ist, dass sie sich am Ende im Kerker dazu entscheidet, nicht mit Faust zu fliehen, sondern ihre Schuld bekennt, zu sich selbst zurückfindet und sich ihrem Gericht stellt.

Wen ich als einziges wirklich interessant fand, ist Mephisto, da er mit seinen verschiedenen Rollen und Erscheinungsformen sowie mit seiner Stellung als Katalysator des Guten im Weltgefüge als einziger eine gewisse Ambivalenz und Tiefe besitzt. Spannend finde ich auch den Gedanken, dass Faust und Mephisto als antithetische Figuration eines inneren Prozesses gesehen werden können, Mephisto also zum Alter Ego oder zur Wesensdimension Faust werden würde.


Ist das Thema des Romans noch zeitgemäß? Inwiefern lässt es sich auf die heutige Zeit beziehen?

Ganz grob geht es im Faust mit seiner "Zwei-Seelen-Problematik" um den Widerspruch zwischen Körper und Geist, Wissen und Spaß, Intellektualität und Sinnlichem, Göttlichem und Irdischem und dem daraus folgenden Streben nach Entgrenzung. Faust leidet unter seinem begrenzten Erkenntnisvermögen und als klassischer Pantheist unter der Enge des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs, was ihn in eine tiefe Depression stürzt (Gelehrtentragödie). Auf der anderen Seite, locken ihn aber auch die sinnlichen Erfüllungen, was zur Gretchentragödie führt. Diese Thematik, dieser grundsätzliche Widerspruch, ist in ihren Grundzügen meiner Meinung nach immer noch relevant.

Sehr spannend finde ich außerdem, dass Goethe 1808 so offen über Religion und die Abkehr von dieser schreibt. Faust äußert sich als klassischer Pantheist und scheint nicht viel von Gretchens Frömmigkeit zu halten und auch das Gottesbild im "Prolog im Himmel" lässt eher auf eine ganzheitliche Betrachtung der religiösen Vorstellung schließen, als auf eine christliche. Goethes Vorstellung von "Gut und Böse" und Mephisto als wichtige Erfüllungshilfe, der die Menschen in ihrer Trägheit zum Streben bringt, empfinde ich ebenfalls als recht fortschrittlich.

Auch wenn das vermutlich nicht so beabsichtigt war, könnte man außerdem in Gretchens Opferrolle ein abschreckendes Beispiel für das Scheitern einer Beziehung sehen. Da sich die beiden in Alter, Schicht, Intelligenz, Reife, Religiosität und Ehrlichkeit der Absichten stark unterscheiden, ist ein Scheitern eigentlich vorprogrammiert. Ihre Beziehung war von Beginn an von Hierarchie, Abhängigkeit und von keiner richtigen Liebe von Seiten Fausts geprägt und stand unter dem Vorzeichen von Lug und Betrug.



Gesamteindruck: Ein Klassiker und must-read?

Goethes "Faust" ist insofern ein interessanter Klassiker als dass es Merkmale mehrerer verschiedener Epochen aufweist (Weimarer Klassik, Sturm und Drang, Aufklärung) und für die damalige Zeit recht fortschrittlich war was Sozialkritik, Religionskritik und Wissenschaftskritik anbelangt. Ob es ein "must-read" ist, würde ich dennoch entschiedenen verneinen. Weder die umständliche Sprache mit den aufgeblasenen Dialogen, den vielen Wiederholungen noch die diskontinuierliche Konstruktion der Handlung oder die fragwürdigen Figuren konnten mich überzeugen. So ist alles was von dem Werk bleibt der schale Triumpf, es einmal in meinem Leben gelesen zu haben.

Veröffentlicht am 13.05.2019

Angestaubte Sprache, aufgeblasene Monologe und eine diskontinuierliche Konstruktion der Handlung

Faust I
0

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen ...

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen Augenblick festhalten wolle, dann erhält er Fausts Seele. Mephisto tut alles, um Faust vom rechten Weg abzubringen. Er macht ihn jünger und verhilft ihm zu einer Affäre mit einem jungen, unschuldigen Mädchen - Gretchen - dessen physische und psychische Existenz er durch sein triebhaftes, egoistisches Verhalten zerstört. Seine Lebenskrise überwindet er jedoch nicht und sein Irren wird mit "Faust II" weitergeführt.


Vorangestellt muss ich wohl sagen, dass dieser Klassiker eine meiner Deutsch-Abi-Lektüren war, ich mich also im schulischen Rahmen damit beschäftigt habe. Auch wenn ich mir im Rahmen der Klassiker-Challenge das Ziel gesetzt habe, alten Klassikern eine Chance zu geben, hätte ich mich wohl nie an diesen verstaubten Schinken gewagt. Und auch wenn ich die Handlung besser verstanden habe, als ich zu Beginn angenommen hatte, habe ich mich nur durch diese Tragödie gequält. Das liegt meiner Ansicht nach weniger daran, dass ich ein Kulturbanause bin, vielmehr fand ich die Geschichte einfach grottenschlecht erzählt und weder die Handlung noch die Sprache oder die Themen konnten mich abholen. Natürlich ist es sehr schwierig ein solches Werk angemessen zu rezensieren. Und vielleicht kann es auch sein, dass aus mir mit dieser Meinungsäußerung auch der Frust spricht, dass ich mich mit diesem Werkt zwei Jahre lang beschäftigen musste. Dennoch würde ich sagen, dass ich mir nach etlichen Klausuren, detaillierter Textarbeit, spannenden Diskussionen und einer Abiprüfung durchaus das Recht verdient habe, das Werk von meinem Standpunkt aus kritisch zu bewerten.



Wie bin ich mit der Sprache zurecht gekommen?


Goethes Faust ist ein Theaterstück, das aus 28 einzelnen Szenen ohne Akteinteilung besteht. Vielmehr hat sich Goethe hier für ein Stationendrama mit asymmetrischem Aufbau entschieden (2 Peripetien), das man nach der typischen Dramenaufteilung in die Gelehrtentragödie und die Gretchentragödie gliedern kann. Dabei wird die Geschichte nur über Monologe und Dialoge erzählt, die bis auf eine Prosaszene in gereimten Versen verfasst sind. Wem sich bei den Worten Madrigalvers, Knittelvers, Blankvers und freien Rhythmen schon die Nackenhaare sträuben, sollte lieber die Finger davon lassen. Am meisten zu schaffen gemacht hat mir aber nicht die gereimte Sprache mit ihren vielfältigen Versformen und aufgeblasenen Wortbildern, sondern vor allem die diskontinuierliche Szenenfolge. Ständige Zeitsprünge, Ortswechsel und das plötzliche Auf- und Abtreten von Figuren machen das Verfolgen der dialogisch präsentierten Handlung sehr schwer. In der sprachlichen Gestaltung sind eindeutige Einflüsse des Sturm und Drangs erkennbar (eine Epoche deren Gefühlsbetontheit und Ichbezogenheit mir ehrlich gesagt sehr auf die Nerven geht). So hielt Goethe wohl nicht wirklich etwas von einer Einheit von Zeit, Ort, fortlaufender Handlung oder sprachlicher Geschlossenheit sondern legte stattdessen viel Wert auf ausschweifende Monologe von Seiten Fausts über seine Lebenskrise, seinen Treibstau oder über seine entgrenzenden Naturerlebnisse. Wenn ich also sage, die Sprache ist sehr altmodisch und recht anspruchsvoll meine ich eigentlich langweilig und angestaubt. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, welche Art von Faszination für dieses Werk, Menschen dazu treibt, sich freiwillig diesem Kuddelmuddel zu widmen.



Wie finde ich die Konstruktion der Handlung?


Goethe hat dieses Werk über mehrere Jahrzehnte hinweg in mehreren Phasen verfasst („Urfaust“, Fragmente, …). Leider kann man die zeitweisen Arbeitsschritte und die fehlende Stringenz auch der Handlung anspüren. So ist das passendste Attribut, das mir zum Aufbau des Dramas einfällt: verwirrende Inhomogenität. Viele wichtige Informationen werden übergangen, nebenbei erwähnt oder äußerst ungenau wiedergegeben und aufgrund der diskontinuierlichen Szenenfolge lassen sich auch die häufigen Zeitsprünge, die im krassen Gegensatz zu den ausschweifenden Wiederholungen am Anfang stehen, äußerst schlecht identifizieren. So wird dem unwissenden Leser Gretchens Schwangerschaft verschwiegen (bloß wenn man es weiß, kann man Anspielungen erkennen), die Geburt des Kindes, ihr Konflikt und ihr Kindsmord werden zugunsten der widerlich orgiastischen "Walpurgisnacht" und dem parodierenden "Walpurgisnachtstraum" komplett ausgespart. Ich halte mich selbst für eine recht aufmerksame Leserin, aber wenn ich keine schlauen Zusammenfassungen im Internet zur Hilfe gehabt hätte, hätte ich gerade im letzten Teil wenig der Handlung verstanden. Auf der einen Seiten haben mich also die vielen Wiederholungen gleicher Gedankengänge (vor allem Fausts scheinheilige Selbstgespräche, wie weit er bei Gretchen gehen darf) und auf der anderen Seite das Aussparen wichtiger Informationen und essenzieller Szenen, die zum Verständnis der Handlung notwendig sind sowie die nicht vorhandene Kennzeichnung von riesigen Zeitsprüngen, ziemlich verwirrt und genervt. Hätte ein heutiger Roman sich diese grottige Konstruktion geleistet, wäre er in der Luft zerrissen worden.


Kann ich mich mit den Protagonisten identifizieren?

Allgemein ist das angesichts des Alters des Werks recht schwierig, da die Figuren in einer komplett anderen Zeit gelebt haben und sich sowohl ihre Denk- als auch Lebensweise stark von unserer unterscheidet. Dazu kommt, dass die Hauptfigur Faust mit seinen schätzungsweise 50 Jahren in einer Lebenskrise steckt, die man wohl heutzutage als Midlife Crises betiteln würde und die ich nur schwer auf meine eigene Lebenswelt beziehen kann. So leidet er an einem emotionalen Defizit, hat keine engen sozialen Bindungen und sein immenser Triebstau sorgt in seiner Beziehung mit Gretchen für ein Schwanken zwischen Schwärmerei und sexuellem Verlangen. Ein weiterer Punkt, weshalb ich mit Faust nicht besonders viel anfangen konnte, ist seine verantwortungslose, zerstörerische Ich-Bezogenheit, mit der er das Leben der jungen Margarete zerstört und die Tatsache, dass er all seine Schuld an ihrem Schicksal leugnet, verdrängt und auf Mephisto abzuwälzen versucht. Ihr seht also - ein sehr liebenswerter Charakter, dieser Heinrich Faust.

Da sich mit "Faust" und "Steppenwolf" gleich zwei Schwerpunktlektüren mit den Lebenskrisen älterer Männer befassen und das für mich als junge Frau nicht besonders relevant ist, kam die Prüfungskommission doch tatsächlich auf die Idee, uns "Faust" mit der Begründung schmackhaft zu machen, dass ja mit Margarete ein junges Mädchen eine wichtige Rolle spiele. Dass sie erst 14 Jahre alt ist und sich naiv (trotz guter Intuition) von dem viel älteren Faust verführen (mal ehrlich, das ist trotz seiner Verjüngung echt widerlich), benutzen und wegwerfen lässt, macht sie meiner Meinung nach trotzdem nicht unbedingt zur passendsten Identifikationsperson Die einzig erfreuliche Wendung, die ihren Charakter anbelangt ist, dass sie sich am Ende im Kerker dazu entscheidet, nicht mit Faust zu fliehen, sondern ihre Schuld bekennt, zu sich selbst zurückfindet und sich ihrem Gericht stellt.

Wen ich als einziges wirklich interessant fand, ist Mephisto, da er mit seinen verschiedenen Rollen und Erscheinungsformen sowie mit seiner Stellung als Katalysator des Guten im Weltgefüge als einziger eine gewisse Ambivalenz und Tiefe besitzt. Spannend finde ich auch den Gedanken, dass Faust und Mephisto als antithetische Figuration eines inneren Prozesses gesehen werden können, Mephisto also zum Alter Ego oder zur Wesensdimension Faust werden würde.


Ist das Thema des Romans noch zeitgemäß? Inwiefern lässt es sich auf die heutige Zeit beziehen?

Ganz grob geht es im Faust mit seiner "Zwei-Seelen-Problematik" um den Widerspruch zwischen Körper und Geist, Wissen und Spaß, Intellektualität und Sinnlichem, Göttlichem und Irdischem und dem daraus folgenden Streben nach Entgrenzung. Faust leidet unter seinem begrenzten Erkenntnisvermögen und als klassischer Pantheist unter der Enge des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs, was ihn in eine tiefe Depression stürzt (Gelehrtentragödie). Auf der anderen Seite, locken ihn aber auch die sinnlichen Erfüllungen, was zur Gretchentragödie führt. Diese Thematik, dieser grundsätzliche Widerspruch, ist in ihren Grundzügen meiner Meinung nach immer noch relevant.

Sehr spannend finde ich außerdem, dass Goethe 1808 so offen über Religion und die Abkehr von dieser schreibt. Faust äußert sich als klassischer Pantheist und scheint nicht viel von Gretchens Frömmigkeit zu halten und auch das Gottesbild im "Prolog im Himmel" lässt eher auf eine ganzheitliche Betrachtung der religiösen Vorstellung schließen, als auf eine christliche. Goethes Vorstellung von "Gut und Böse" und Mephisto als wichtige Erfüllungshilfe, der die Menschen in ihrer Trägheit zum Streben bringt, empfinde ich ebenfalls als recht fortschrittlich.

Auch wenn das vermutlich nicht so beabsichtigt war, könnte man außerdem in Gretchens Opferrolle ein abschreckendes Beispiel für das Scheitern einer Beziehung sehen. Da sich die beiden in Alter, Schicht, Intelligenz, Reife, Religiosität und Ehrlichkeit der Absichten stark unterscheiden, ist ein Scheitern eigentlich vorprogrammiert. Ihre Beziehung war von Beginn an von Hierarchie, Abhängigkeit und von keiner richtigen Liebe von Seiten Fausts geprägt und stand unter dem Vorzeichen von Lug und Betrug.



Gesamteindruck: Ein Klassiker und must-read?

Goethes "Faust" ist insofern ein interessanter Klassiker als dass es Merkmale mehrerer verschiedener Epochen aufweist (Weimarer Klassik, Sturm und Drang, Aufklärung) und für die damalige Zeit recht fortschrittlich war was Sozialkritik, Religionskritik und Wissenschaftskritik anbelangt. Ob es ein "must-read" ist, würde ich dennoch entschiedenen verneinen. Weder die umständliche Sprache mit den aufgeblasenen Dialogen, den vielen Wiederholungen noch die diskontinuierliche Konstruktion der Handlung oder die fragwürdigen Figuren konnten mich überzeugen. So ist alles was von dem Werk bleibt der schale Triumpf, es einmal in meinem Leben gelesen zu haben.

Veröffentlicht am 18.01.2022

Inkonsequent, unlogisch und klischeehaft!

Der Chip
0

Ich habe "Der Chip" von Manfred Theisen angefragt, da es nach einer Mischung aus packender Überwachungsdystopie und Academia-Thriller à la "The Circle" klang. Statt mit einem düsteren Setting, hochspannender ...

Ich habe "Der Chip" von Manfred Theisen angefragt, da es nach einer Mischung aus packender Überwachungsdystopie und Academia-Thriller à la "The Circle" klang. Statt mit einem düsteren Setting, hochspannender Handlung und einer gesellschaftskritischen Auseinandersetzung mit technischem Fortschritt aufzuwarten, stellte sich "Der Chip" jedoch als langatmige, oberflächliche und sprunghafte Jugenddystopie heraus, die leider unter den schlechtesten 5 Science-Fiction-Büchern rangiert, die ich jemals gelesen habe. Ehrlicherweise ist es nur dem Buddyread mit Sofia von Sofias kleiner Bücherwelt zu verdanken, dass ich das Buch überhaupt zu Ende gelesen habe (schaut unbedingt mal bei ihrer Rezension vorbei, sie bringt unser Leseerlebnis echt so gut auf den Punkt, dass ich mir eine eigene Rezension auch hätte sparen können😁)!

Doch, bevor ich mich schon in der Einleitung zu sehr in Rage rede, ein paar Worte zur Gestaltung. Mit den goldenen Leiterplatten auf typisch dunkelgrüner Leiterplatte, die zu einem schwarzen Mikrochip führen, auf dem der Titel in grünen Buchstaben steht, passt das Cover natürlich perfekt zum Thema und Titel. Auch der Klapptext machte mir sofort Lust, zur Geschichte zu greifen. An dieser Stelle endet der positive Einfluss des Verlags auf den Roman aber auch schon, denn zu dem, was sich innerhalb der Buchdeckel befindet, habe ich leider nicht besonders viel Positives zu sagen.

Erster Satz: "Sie lag in seinem Arm."

Zugutehalten muss man dem Roman, dass er einige interessante Themen und Fragen aufgreift: Überwachung, künstliche Intelligenz, kollektives Bewusstsein, Freiheit, Individualität des Einzelnen und die Frage, ob technischer Fortschritt immer ein Schritt nach vorne bedeuten muss. Jedes einzelne dieser Themen hätte einen Anknüpfungspunkt für spannende Diskussionen geboten, doch schon nach wenigen Seiten hatte ich das Gefühl, in einer abgedrehte, oberflächlichen Version der durchschnittlichen Teenie-Dystopie gelandet zu sein, in dem der typische unangepassten Außenseiter, das naive Mädchen davon überzeugen, dass etwas gehörig falschläuft. Nach ebenso kurzer Zeit waren dann auch meine Hoffnungen auf ein interessantes Worldbuilding dahin. Erklärt der Autor, weshalb er uns ins Jahr 2032 entführt? Bekommen wir geschildert, inwiefern sich die dortige Gesellschaft von unserer unterscheidet? Erfahren wir, was sich genau hinter der allgegenwärtigen KI "Brain" verbirgt, wie die Firma BrainVision und das umstrittene Elite-Internat Galileo genau funktionieren? Nicht im Geringsten! Dadurch, dass hier kaum etwas erklärt wird, erscheint die Handlung an einigen Stellen geradezu absurd. Zum Beispiel kam mir irgendwann der Gedanke, dass ich ja theoretisch der in "Der Chip" auftauchenden Erwachsenengeneration angehören würde, mir aber kaum vorstellen kann, was passieren müsste, dass sich meine Einstellungen so krass verändern, dass ich mich verhalte, wie die in der Handlung vorkommenden Eltern. Leider wird jedes einzelne der interessanten Themen nur am Rande gestreift und weder weiterentwickelt noch zu Ende gedacht, sodass es mir eigentlich fast widerstrebt, "Der Chip" als Dystopie zu klassifizieren.

Kein Worldbuiling? Nun gut, damit hätte ich noch leben können, wenn der Autor seine 224 Seiten dazu genutzt hätte, ein rasantes Kammerspiel zu schreiben, das sich ganz auf den Rahmen der Schule fokussiert und alle äußeren Einflüsse außer Acht lässt. Das tut er aber leider auch nicht und während er sich in zusammenhangslosen Diskussionen über Prepping oder die veraltete Playstation 7 verläuft, wird uns Lesern klar, dass das miserable Worldbuilding nicht das Ergebnis einer wohlüberlegten Entscheidung, sondern vielmehr einer seltsamen Schwerpunktsetzung ist, die beim Lesen fast ein wenig willkürlich wirkt. Was genau die Rebellen in Spreewald tun und gegen was sie rebellieren bleibt ein Geheimnis, aber dass Dwayne "the Rock" Johnson nun Präsident der USA ist, scheint dem Autor eine wichtige Information zu sein? Da würde ich gerne nochmal eine Diskussion über Prioritäten führen... Die vielen random eingestreuten Anspielungen wirken also insgesamt wie der misslungene, verzweifelte Versuch, irgendwas einfließen zu lassen, was man als Gesellschaftskritik deuten könnte, wenn man dem Buch wohlgesonnen wäre. Bin ich aber nicht. Und deshalb kann ich nur anmerken, dass sich der Autor lieber auf die Grundidee mit der Überwachung und den Chips konsequent hätte fokussieren sollen.

"Der Mensch hat den Hammer erfunden, weil seine Hand nicht stark genug war. Der Mensch hat das Fernglas erfunden, weil seine Augen nicht weit genug sehen konnten. Der Mensch hat die Schrift erfunden, weil er sich nicht alles merken konnte. Und jetzt haben wir die KI, wir haben Brain, die alles weiß, wie wir alles wissen. Wir sind Brain."

Und dieser fehlende Fokus, diese Inkonsequenz der Handlung ist leider ein Problem, das sich durch den gesamten Roman zieht. Ich habe noch nie ein Buch gelesen, in dem so viele Aspekte während der Handlung einfach kommentarlos fallen gelassen und nie wieder aufgegriffen werden. Eines der etlichen Motive ist zum Beispiel das des Skarabäus Käfers, der in verschiedenen Formen und Gestalten an unterschiedlichen Stellen des Buches vorkommt, sodass ich fest davon ausgegangen bin, dass dieser irgendwann nochmal wichtig wird, oder zumindest dessen ständiges Auftauchen zu einem Zeitpunkt erklärt werden würde. Das passiert aber einfach nie, sodass natürlich die Frage aufkam, wozu das Ganze überhaupt erwähnt wurde. In diesem Stil gab es noch einige weitere Szenen, die sich als komplett irrelevant für den Plot erwiesen haben und deren Sinn ich in diesem nur 224seitigen Roman ich demnach angezweifelt habe. Dazu kommen viele offensichtliche Logikprobleme wie, dass "Brain" durch Kameras im Gebäude omnipräsent und scheinbar allwissend zu sein scheint, es aber nicht auffällt, wenn Kim mit selbstgebautem Glasschneider in andere Zimmer einbricht, sie stundenlang ihr Datenband nicht trägt, mit dem die KI Informationen über sie sammelt und sie sich trotz lückenloser medizinischer Überwachung in jeder zweiten Szene mit vorgetäuschter Übelkeit aus der Affäre ziehen kann.

Zu diesem inkonsistenten, unvollständigen Eindruck tragen auch die Zeitsprünge bei. Anstatt in Kapitel hat der Autor seine Geschichte in sehr große Textteile eingeteilt, die von insgesamt fünf Zeitpunkten erzählen: dem 8. Mai und dann vom 16. bis zum 19. Mai. 2032. Während das Erzähltempo während der letzten Abschnitte zunimmt und sich die Handlung liest, wie eine fortlaufende Szene, vergeht zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt eine ganze Woche, ohne dass jemals aufgeholt wird, was in der Zwischenzeit passiert ist. Es scheint, als hätte der Autor einen groben ersten Entwurf geschrieben, aus dem im Lektorat dann genau die falschen Szenen herausgestrichen worden wären. Um den Plot, die Hintergründe der Welt oder auch die Protagonisten wirklich auf Romanniveau auszuarbeiten, hätte der Autor mindestens noch 100-200 Seiten mehr schreiben müssen (wobei ich im Nachhinein echt froh bin, dass er das nicht getan hat, da ich schon mit den 224 Seiten echt zu kämpfen hatte).

"Eine neue Phase der Geschichte ist angebrochen. Bis jetzt haben wir den Egoismus gepflegt, das Individuum war heilig. Aber das ist jetzt vorbei. Wer nicht WIR sein will, der muss gehen!"


So, und das waren jetzt erst meine Kritikpunkte zum Plot... Ich könnte mich noch stundenlang Absatz um Absatz weiter beschweren und neue Beispiele finden, warum "Der Chip" echt schlecht ist. Der lückenhafte Plot wird nämlich auch von einem Schreibstil begleitet, der sich liest, als wäre er von einem unerfahrenen Selfpublisher verfasst worden. Selbst wenn man im Kopf behält, dass ich persönlich ein Freund von eher gefühlsbetonten Schreibstilen bin, kann man den unpersönlichen, wenig packenden Eindruck nicht nur auf meinen eigenen Geschmack schieben. Denn auch die Sprache ist voll von gedanklichen Sprüngen und irrelevanten Einschiebungen, von denen oft nicht klar ist, weshalb sie überhaupt dastehen (Stichwort: Karies bei Werwölfen?!?). Manfred Theisen schreibt sehr assoziationsbasiert, was sich ab und zu so liest, als würde man den leicht unzusammenhängenden, verworrenen Gedanken eines Erstklässlers folgen. Dazu gesellen sich gelegentlich abrupte Übergänge in der Erzählperspektive, die neben dem personalen Er-Erzähler aus Kims Sicht auch einige auktoriale Passagen beinhaltet, die beim Lesen zusätzlich verwirren.

Damit Ihr nachvollziehen könnte, wie irritierend die einzelnen Szenen dadurch wirken, habe ich ein kurzer Beispielabschnitt von Seite 12 herausgesucht. Diese Szene steht ohne Witz genauso im Buch, ohne dass ich etwas zusammenkopiert oder weggelassen hätte: "Sie lief über den Flur. Der alte Google Spruch "Don´t be evil" prangte auf dem Sperrbildschirm ihres Handys. Julian hatte noch nicht geschrieben. Der Boden war grau und glatt, Kim dachte an den grauen Strich, auf dem sie eben im Kreis gelaufen war. Es war gut, dass Brain sie jetzt überall identifizieren konnte. Falls etwas schieflief, könnte ihr Brain sofort helfen. Sicherheit und Glück waren zwei Seiten einer Medaille. Rechts und links gingen knallrote Türen ab. Vielleicht hatte sich Kim deshalb eben rote Fingernägel geträumt. Denn sie durfte sich die Nägel nicht lackieren. Ihre Mutter hatte es verboten."

Eine weitere irritierende Beobachtung, die Sofia und ich beim Lesen gemacht haben, ist dass es überproportional viele Szenen gibt, in denen Kim grundlos nackt ist. Einige dieser Szenen lassen sich darauf zurückführen, dass Kim wahnsinnig häufig duscht. Oftmals sind Dusch- und Toilettengänge in Romanen ja ausgespart. Manfred Theisen beschreibt diese aber in jedem Kapitel mindestens einmal. Im ersten Abschnitt duscht Kim sogar ganze dreimal an einem einzigen Tag: 1x nach ihrer Gangprobe für Brain, dann bevor sie sich mit ihrem derzeitigen Freund zum Trainieren trifft und dann nochmal nach dem Training - und wenn das nicht schon irrsinnig genug wäre, sind alle drei Szenen im Buch enthalten. Das sind natürlich nur kleine Details, die mir wahrscheinlich nicht aufgefallen wären, wenn die extrem körperbetonte Beschreibung aller Figuren und einige aufgrund des jungen Alters der Protagonistin extrem unpassender Kommentare zu Sexualität, Schwangerschaft und Beziehungen nicht ohnehin schon ein seltsames Gefühl bei mir hinterlassen hätten.

"Sie stand auf und fühlte sich schlecht, so schlecht wie noch nie in ihrem Leben. "Gemeinsam und nicht einsam!", skandierte sie mit den anderen - sie war so einsam wie noch nie zuvor."

Und wenn wir schon gerade bei der unpassenden Darstellung von 15jährigen sind: Allgemein ist festzustellen, dass der Autor leider völlig an seiner Zielgruppe vorbei schreibt. Ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass er Jugendliche besonders ernst nimmt oder als rationale, vollwertige Menschen ansieht (was irgendwie problematisch ist, da Jugendliche wohl seine Hauptzielgruppe sind). Seine jugendlichen Figuren werden ausnahmslos rückgrat- und meinungslos dargestellt, sind leicht zu manipulieren, noch leichter auszutauschen und bieten den LeserInnen somit weder Identifikations- noch Vorbildpotenzial. Am meisten hat mich aber die Darstellung des Innenlebens der Hauptfigur Kim gestört. Das was Manfred Theisen Kim da immer an Emotionen angedichtet hat, funktioniert einfach nicht. Hm, außer vielleicht man ist bipolar oder leidet unter einer extremen Form der Borderline Persönlichkeitsstörung. In diesem Falle wäre es wohl möglich, innerhalb von drei Minuten dreimal seine Meinung zu ändern und sich von jetzt auf gleich unsterblich zu verlieben und wieder zu entlieben.

Auch abgesehen von ihren urplötzlichen Meinungsänderungen, die mit keinen Hormonschwankungen der Welt erklärbar wären, ist Kims Charakterisierung ein Witz. Nur weil sie sich wundert, wo denn einer ihrer Mitschüler hin verschwunden ist und vielleicht zwei Sekunden darüber nachdenkt, bevor sie sich autonome Nanochips spritzen lässt, die ihre Individualität auslöschen, wird die hirnlose Mitläuferin von einer Sekunde auf die andere zur Rebellin deklariert. Ihre nur menschlichen Handlungen (das was sie getan hat war nicht besonders mutig, sondern nur das absolute Minimum von dem, was man von einer gesunden, mündigen Bürgerin in einer solchen Situation erwarten würde) werden dabei so glorifiziert, dass man fast übersieht, dass sie gar keine große Widerstandskämpferin ist, sondern die anderen einfach noch viel dümmer sind als sie. Frustrierend ist gar kein Ausdruck, sage ich Euch!

Auch die Beziehungen zwischen den Figuren konnte ich einfach nicht ernstnehmen. Das bezieht sich nicht nur auf die "Freundschaften" und "Liebesbeziehungen" (ich traue mich fast nicht, diese fünfminutigen Gefühlsschwankungen so zu bezeichnen), sondern auch auf die Verhältnisse von Kim zu ihrer Mutter und ihrem Großvater. Beide hätten das Potenzial gehabt, eine neue Perspektive in die Handlung miteinzubringen und das Verhalten der Teenies ist einen etwas vernünftigeren Rahmen zu stecken. Stattdessen tauchen die beiden nur am Rande auf und werden von Kim in die Kategorie "nervige Erwachsene" gesteckt, bevor der Großvater sich dann am Ende aus dem Nichts als großer Retter inszeniert und alle Probleme sich in Luft auflösen.



Fazit:


Die 0,5 Sterne bekommt "Der Chip" ausschließlich für die interessanten Gedankenansätze. Die Umsetzung dieser in einer inkonsequenten, unlogischen Handlung mit rückgratlosen lebendigen Klischees als Figuren und einem sprunghaften Schreibstil konnte mich nämlich absolut nicht überzeugen. Schade, aber das war Mist!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.01.2022

Inkonsequent, unlogisch und klischeehaft!

Der Chip
0

Ich habe "Der Chip" von Manfred Theisen angefragt, da es nach einer Mischung aus packender Überwachungsdystopie und Academia-Thriller à la "The Circle" klang. Statt mit einem düsteren Setting, hochspannender ...

Ich habe "Der Chip" von Manfred Theisen angefragt, da es nach einer Mischung aus packender Überwachungsdystopie und Academia-Thriller à la "The Circle" klang. Statt mit einem düsteren Setting, hochspannender Handlung und einer gesellschaftskritischen Auseinandersetzung mit technischem Fortschritt aufzuwarten, stellte sich "Der Chip" jedoch als langatmige, oberflächliche und sprunghafte Jugenddystopie heraus, die leider unter den schlechtesten 5 Science-Fiction-Büchern rangiert, die ich jemals gelesen habe. Ehrlicherweise ist es nur dem Buddyread mit Sofia von Sofias kleiner Bücherwelt zu verdanken, dass ich das Buch überhaupt zu Ende gelesen habe (schaut unbedingt mal bei ihrer Rezension vorbei, sie bringt unser Leseerlebnis echt so gut auf den Punkt, dass ich mir eine eigene Rezension auch hätte sparen können😁)!

Doch, bevor ich mich schon in der Einleitung zu sehr in Rage rede, ein paar Worte zur Gestaltung. Mit den goldenen Leiterplatten auf typisch dunkelgrüner Leiterplatte, die zu einem schwarzen Mikrochip führen, auf dem der Titel in grünen Buchstaben steht, passt das Cover natürlich perfekt zum Thema und Titel. Auch der Klapptext machte mir sofort Lust, zur Geschichte zu greifen. An dieser Stelle endet der positive Einfluss des Verlags auf den Roman aber auch schon, denn zu dem, was sich innerhalb der Buchdeckel befindet, habe ich leider nicht besonders viel Positives zu sagen.

Erster Satz: "Sie lag in seinem Arm."

Zugutehalten muss man dem Roman, dass er einige interessante Themen und Fragen aufgreift: Überwachung, künstliche Intelligenz, kollektives Bewusstsein, Freiheit, Individualität des Einzelnen und die Frage, ob technischer Fortschritt immer ein Schritt nach vorne bedeuten muss. Jedes einzelne dieser Themen hätte einen Anknüpfungspunkt für spannende Diskussionen geboten, doch schon nach wenigen Seiten hatte ich das Gefühl, in einer abgedrehte, oberflächlichen Version der durchschnittlichen Teenie-Dystopie gelandet zu sein, in dem der typische unangepassten Außenseiter, das naive Mädchen davon überzeugen, dass etwas gehörig falschläuft. Nach ebenso kurzer Zeit waren dann auch meine Hoffnungen auf ein interessantes Worldbuilding dahin. Erklärt der Autor, weshalb er uns ins Jahr 2032 entführt? Bekommen wir geschildert, inwiefern sich die dortige Gesellschaft von unserer unterscheidet? Erfahren wir, was sich genau hinter der allgegenwärtigen KI "Brain" verbirgt, wie die Firma BrainVision und das umstrittene Elite-Internat Galileo genau funktionieren? Nicht im Geringsten! Dadurch, dass hier kaum etwas erklärt wird, erscheint die Handlung an einigen Stellen geradezu absurd. Zum Beispiel kam mir irgendwann der Gedanke, dass ich ja theoretisch der in "Der Chip" auftauchenden Erwachsenengeneration angehören würde, mir aber kaum vorstellen kann, was passieren müsste, dass sich meine Einstellungen so krass verändern, dass ich mich verhalte, wie die in der Handlung vorkommenden Eltern. Leider wird jedes einzelne der interessanten Themen nur am Rande gestreift und weder weiterentwickelt noch zu Ende gedacht, sodass es mir eigentlich fast widerstrebt, "Der Chip" als Dystopie zu klassifizieren.

Kein Worldbuiling? Nun gut, damit hätte ich noch leben können, wenn der Autor seine 224 Seiten dazu genutzt hätte, ein rasantes Kammerspiel zu schreiben, das sich ganz auf den Rahmen der Schule fokussiert und alle äußeren Einflüsse außer Acht lässt. Das tut er aber leider auch nicht und während er sich in zusammenhangslosen Diskussionen über Prepping oder die veraltete Playstation 7 verläuft, wird uns Lesern klar, dass das miserable Worldbuilding nicht das Ergebnis einer wohlüberlegten Entscheidung, sondern vielmehr einer seltsamen Schwerpunktsetzung ist, die beim Lesen fast ein wenig willkürlich wirkt. Was genau die Rebellen in Spreewald tun und gegen was sie rebellieren bleibt ein Geheimnis, aber dass Dwayne "the Rock" Johnson nun Präsident der USA ist, scheint dem Autor eine wichtige Information zu sein? Da würde ich gerne nochmal eine Diskussion über Prioritäten führen... Die vielen random eingestreuten Anspielungen wirken also insgesamt wie der misslungene, verzweifelte Versuch, irgendwas einfließen zu lassen, was man als Gesellschaftskritik deuten könnte, wenn man dem Buch wohlgesonnen wäre. Bin ich aber nicht. Und deshalb kann ich nur anmerken, dass sich der Autor lieber auf die Grundidee mit der Überwachung und den Chips konsequent hätte fokussieren sollen.

"Der Mensch hat den Hammer erfunden, weil seine Hand nicht stark genug war. Der Mensch hat das Fernglas erfunden, weil seine Augen nicht weit genug sehen konnten. Der Mensch hat die Schrift erfunden, weil er sich nicht alles merken konnte. Und jetzt haben wir die KI, wir haben Brain, die alles weiß, wie wir alles wissen. Wir sind Brain."

Und dieser fehlende Fokus, diese Inkonsequenz der Handlung ist leider ein Problem, das sich durch den gesamten Roman zieht. Ich habe noch nie ein Buch gelesen, in dem so viele Aspekte während der Handlung einfach kommentarlos fallen gelassen und nie wieder aufgegriffen werden. Eines der etlichen Motive ist zum Beispiel das des Skarabäus Käfers, der in verschiedenen Formen und Gestalten an unterschiedlichen Stellen des Buches vorkommt, sodass ich fest davon ausgegangen bin, dass dieser irgendwann nochmal wichtig wird, oder zumindest dessen ständiges Auftauchen zu einem Zeitpunkt erklärt werden würde. Das passiert aber einfach nie, sodass natürlich die Frage aufkam, wozu das Ganze überhaupt erwähnt wurde. In diesem Stil gab es noch einige weitere Szenen, die sich als komplett irrelevant für den Plot erwiesen haben und deren Sinn ich in diesem nur 224seitigen Roman ich demnach angezweifelt habe. Dazu kommen viele offensichtliche Logikprobleme wie, dass "Brain" durch Kameras im Gebäude omnipräsent und scheinbar allwissend zu sein scheint, es aber nicht auffällt, wenn Kim mit selbstgebautem Glasschneider in andere Zimmer einbricht, sie stundenlang ihr Datenband nicht trägt, mit dem die KI Informationen über sie sammelt und sie sich trotz lückenloser medizinischer Überwachung in jeder zweiten Szene mit vorgetäuschter Übelkeit aus der Affäre ziehen kann.

Zu diesem inkonsistenten, unvollständigen Eindruck tragen auch die Zeitsprünge bei. Anstatt in Kapitel hat der Autor seine Geschichte in sehr große Textteile eingeteilt, die von insgesamt fünf Zeitpunkten erzählen: dem 8. Mai und dann vom 16. bis zum 19. Mai. 2032. Während das Erzähltempo während der letzten Abschnitte zunimmt und sich die Handlung liest, wie eine fortlaufende Szene, vergeht zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt eine ganze Woche, ohne dass jemals aufgeholt wird, was in der Zwischenzeit passiert ist. Es scheint, als hätte der Autor einen groben ersten Entwurf geschrieben, aus dem im Lektorat dann genau die falschen Szenen herausgestrichen worden wären. Um den Plot, die Hintergründe der Welt oder auch die Protagonisten wirklich auf Romanniveau auszuarbeiten, hätte der Autor mindestens noch 100-200 Seiten mehr schreiben müssen (wobei ich im Nachhinein echt froh bin, dass er das nicht getan hat, da ich schon mit den 224 Seiten echt zu kämpfen hatte).

"Eine neue Phase der Geschichte ist angebrochen. Bis jetzt haben wir den Egoismus gepflegt, das Individuum war heilig. Aber das ist jetzt vorbei. Wer nicht WIR sein will, der muss gehen!"


So, und das waren jetzt erst meine Kritikpunkte zum Plot... Ich könnte mich noch stundenlang Absatz um Absatz weiter beschweren und neue Beispiele finden, warum "Der Chip" echt schlecht ist. Der lückenhafte Plot wird nämlich auch von einem Schreibstil begleitet, der sich liest, als wäre er von einem unerfahrenen Selfpublisher verfasst worden. Selbst wenn man im Kopf behält, dass ich persönlich ein Freund von eher gefühlsbetonten Schreibstilen bin, kann man den unpersönlichen, wenig packenden Eindruck nicht nur auf meinen eigenen Geschmack schieben. Denn auch die Sprache ist voll von gedanklichen Sprüngen und irrelevanten Einschiebungen, von denen oft nicht klar ist, weshalb sie überhaupt dastehen (Stichwort: Karies bei Werwölfen?!?). Manfred Theisen schreibt sehr assoziationsbasiert, was sich ab und zu so liest, als würde man den leicht unzusammenhängenden, verworrenen Gedanken eines Erstklässlers folgen. Dazu gesellen sich gelegentlich abrupte Übergänge in der Erzählperspektive, die neben dem personalen Er-Erzähler aus Kims Sicht auch einige auktoriale Passagen beinhaltet, die beim Lesen zusätzlich verwirren.

Damit Ihr nachvollziehen könnte, wie irritierend die einzelnen Szenen dadurch wirken, habe ich ein kurzer Beispielabschnitt von Seite 12 herausgesucht. Diese Szene steht ohne Witz genauso im Buch, ohne dass ich etwas zusammenkopiert oder weggelassen hätte: "Sie lief über den Flur. Der alte Google Spruch "Don´t be evil" prangte auf dem Sperrbildschirm ihres Handys. Julian hatte noch nicht geschrieben. Der Boden war grau und glatt, Kim dachte an den grauen Strich, auf dem sie eben im Kreis gelaufen war. Es war gut, dass Brain sie jetzt überall identifizieren konnte. Falls etwas schieflief, könnte ihr Brain sofort helfen. Sicherheit und Glück waren zwei Seiten einer Medaille. Rechts und links gingen knallrote Türen ab. Vielleicht hatte sich Kim deshalb eben rote Fingernägel geträumt. Denn sie durfte sich die Nägel nicht lackieren. Ihre Mutter hatte es verboten."

Eine weitere irritierende Beobachtung, die Sofia und ich beim Lesen gemacht haben, ist dass es überproportional viele Szenen gibt, in denen Kim grundlos nackt ist. Einige dieser Szenen lassen sich darauf zurückführen, dass Kim wahnsinnig häufig duscht. Oftmals sind Dusch- und Toilettengänge in Romanen ja ausgespart. Manfred Theisen beschreibt diese aber in jedem Kapitel mindestens einmal. Im ersten Abschnitt duscht Kim sogar ganze dreimal an einem einzigen Tag: 1x nach ihrer Gangprobe für Brain, dann bevor sie sich mit ihrem derzeitigen Freund zum Trainieren trifft und dann nochmal nach dem Training - und wenn das nicht schon irrsinnig genug wäre, sind alle drei Szenen im Buch enthalten. Das sind natürlich nur kleine Details, die mir wahrscheinlich nicht aufgefallen wären, wenn die extrem körperbetonte Beschreibung aller Figuren und einige aufgrund des jungen Alters der Protagonistin extrem unpassender Kommentare zu Sexualität, Schwangerschaft und Beziehungen nicht ohnehin schon ein seltsames Gefühl bei mir hinterlassen hätten.

"Sie stand auf und fühlte sich schlecht, so schlecht wie noch nie in ihrem Leben. "Gemeinsam und nicht einsam!", skandierte sie mit den anderen - sie war so einsam wie noch nie zuvor."

Und wenn wir schon gerade bei der unpassenden Darstellung von 15jährigen sind: Allgemein ist festzustellen, dass der Autor leider völlig an seiner Zielgruppe vorbei schreibt. Ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass er Jugendliche besonders ernst nimmt oder als rationale, vollwertige Menschen ansieht (was irgendwie problematisch ist, da Jugendliche wohl seine Hauptzielgruppe sind). Seine jugendlichen Figuren werden ausnahmslos rückgrat- und meinungslos dargestellt, sind leicht zu manipulieren, noch leichter auszutauschen und bieten den LeserInnen somit weder Identifikations- noch Vorbildpotenzial. Am meisten hat mich aber die Darstellung des Innenlebens der Hauptfigur Kim gestört. Das was Manfred Theisen Kim da immer an Emotionen angedichtet hat, funktioniert einfach nicht. Hm, außer vielleicht man ist bipolar oder leidet unter einer extremen Form der Borderline Persönlichkeitsstörung. In diesem Falle wäre es wohl möglich, innerhalb von drei Minuten dreimal seine Meinung zu ändern und sich von jetzt auf gleich unsterblich zu verlieben und wieder zu entlieben.

Auch abgesehen von ihren urplötzlichen Meinungsänderungen, die mit keinen Hormonschwankungen der Welt erklärbar wären, ist Kims Charakterisierung ein Witz. Nur weil sie sich wundert, wo denn einer ihrer Mitschüler hin verschwunden ist und vielleicht zwei Sekunden darüber nachdenkt, bevor sie sich autonome Nanochips spritzen lässt, die ihre Individualität auslöschen, wird die hirnlose Mitläuferin von einer Sekunde auf die andere zur Rebellin deklariert. Ihre nur menschlichen Handlungen (das was sie getan hat war nicht besonders mutig, sondern nur das absolute Minimum von dem, was man von einer gesunden, mündigen Bürgerin in einer solchen Situation erwarten würde) werden dabei so glorifiziert, dass man fast übersieht, dass sie gar keine große Widerstandskämpferin ist, sondern die anderen einfach noch viel dümmer sind als sie. Frustrierend ist gar kein Ausdruck, sage ich Euch!

Auch die Beziehungen zwischen den Figuren konnte ich einfach nicht ernstnehmen. Das bezieht sich nicht nur auf die "Freundschaften" und "Liebesbeziehungen" (ich traue mich fast nicht, diese fünfminutigen Gefühlsschwankungen so zu bezeichnen), sondern auch auf die Verhältnisse von Kim zu ihrer Mutter und ihrem Großvater. Beide hätten das Potenzial gehabt, eine neue Perspektive in die Handlung miteinzubringen und das Verhalten der Teenies ist einen etwas vernünftigeren Rahmen zu stecken. Stattdessen tauchen die beiden nur am Rande auf und werden von Kim in die Kategorie "nervige Erwachsene" gesteckt, bevor der Großvater sich dann am Ende aus dem Nichts als großer Retter inszeniert und alle Probleme sich in Luft auflösen.



Fazit:


Die 0,5 Sterne bekommt "Der Chip" ausschließlich für die interessanten Gedankenansätze. Die Umsetzung dieser in einer inkonsequenten, unlogischen Handlung mit rückgratlosen lebendigen Klischees als Figuren und einem sprunghaften Schreibstil konnte mich nämlich absolut nicht überzeugen. Schade, aber das war Mist!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere