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Veröffentlicht am 23.04.2025

Verständlicher Gedankenanstoß rund um einen gesellschaftlichen Wandel

Identitätskrise
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Mein Leseeindruck:

Ich mag Alice Hasters als Autorin für ihre klare, verständliche Art des Schreibens sowie das Vereinen von Eindringlichkeit und Unaufgeregtheit. Das erfüllt „Identitätskrise“ auf jeden ...

Mein Leseeindruck:

Ich mag Alice Hasters als Autorin für ihre klare, verständliche Art des Schreibens sowie das Vereinen von Eindringlichkeit und Unaufgeregtheit. Das erfüllt „Identitätskrise“ auf jeden Fall auch. Und doch tue ich mich etwas schwer mit meiner Rezension, weil ich den Punkt des Buches nicht so richtig greifen kann - aber vielleicht geht es genau darum.

Irritiert war ich bereits zu Beginn, als Hasters das 20. Jhd. als das tödlichste der Menschheitsgeschichte mit „Millionen Opfern rassistischer Gewalt“ bezeichnet. Für mich klingt es hier und auch später noch einmal so, als würde sie Antisemitismus in Rassismus eingliedern, was faktisch absolut inkorrekt ist. Antisemitismus liegt ein Glaube an übermächtige Juden_Jüdinnen zugrunde, welchen mensch entgegentreten muss - daher ist Antisemitismus auch so oft Anknüpfungspunkt für Verschwörungserzählungen. Andere Diskriminierungsformen wirken dagegen insofern, dass sie die marginalisierte Gruppe abwerten und deshalb auslöschen wollen. Das Ergebnis ist natürlich das gleiche, aber der Ausgangspunkt verschieden. Damit möchte ich selbstverständlich keins von beiden irgendwie kleiner reden, mir geht es lediglich um die sprachliche Abgrenzung, welcher der Autorin am Ende dann auch doch nachkommt. Somit weiß ich einfach nicht so recht, was ich davon halten soll.

Abgesehen davon findet sich in diesem Buch viel Grundlegendes und manch Persönliches. Die Autorin schreibt zwar verständlich, aber auch etwas sprunghaft. Bis zum Ende hin fiel es mir schwer, ein konkretes Fazit aus dem Buch mitzunehmen außer: Der Westen funktioniert so nicht (mehr). Das war mir vorher schon bewusst und doch fand ich die Herleitung über verschiedene Identitätskrisen und warum es deshalb so schwer ist, bei privilegierten Menschen Verständnis und Veränderung zu erwirken, interessant. „Identitätskrise“ würde ich als eingängiges Einstiegswerk einordnen, in dem Hasters die Fakten mit der nötigen Eindringlichkeit darbietet. Den kürzeren zweiten Teil fand ich in der Idee gut und er hat das Schwere aus dem ersten Teil durch bissige Ironie und verschiedene Erzähltöne angenehm aufgelockert. Einerseits fehlte mir auch hier ein wenig Struktur, andererseits weist die Autorin hier auch völlig berechtigt auf die Notwendigkeit von mehr Ambiguitätstoleranz hin, sodass ich diese Gedankensammlung in ihrer Form passend finde.

Ich empfehle es durchaus für alle, die sich grundlegend über strukturelle Zusammenhänge informieren wollen.


Was ich besonders interessant fand:

Aufschlussreich war für mich, noch einmal das fatale Wechselspiel von Kapitalismus und Demokratie aufgezeigt zu bekommen. Im Gegensatz zu Autokratien soll in einer Demokratie von der Gesellschaft selbst entschieden werden. Grundlage dafür ist natürlich eine entsprechende Freiheit und Identitätsklarheit. Und hier kommt Kapitalismus als „stabilisierende“ Komponente ins Spiel - er soll durch ein breites Angebot die absolute (Wahl-)Freiheit garantieren. Dass das so nicht funktioniert und mittelfristig zu mehr Unfreiheit führt, dürfte mittlerweile hoffentlich vielen Menschen bewusst sein.

„Wohlstand für alle“ mag eine nette Idee sein, die aber nicht mit einem kapitalistischen System (das immer auf Ausbeutung beruht) vereinbar ist und in der Vergangenheit auch noch nie funktioniert hat. Denn Selbstverwirklichung wird immer proklamiert, doch auch hier geht die Rechnung strukturell nicht auf, denn irgendwer muss ja auch die unbeliebten Jobs machen.

Gleichberechtigung bedroht in vielerlei Hinsicht westliche Identitäten - ob Weiße oder cis Männer, ob hetero oder nicht-behindert. Denn wenn tatsächliche Gleichberechtigung geschaffen würde, würden sich die bisherigen Identitäten, die stets in Abgrenzung und konstruierter Überlegenheit zu anderen existieren, in Luft auflösen und das ist mental herausfordernd.

Auch die westliche Selbsterzählung rund um Innovation und Fortschritt wankt, wenn der Fortschritt nicht zum Nutzen echter Menschen passiert (z. B. Arbeitszeitverkürzung durch Maschinenunterstützung). Wie kann sich der Westen diese Erzählung von Freiheit eigentlich noch selbst glauben, wenn Technologien Menschen eher noch unfreier machen und den Weg ebnen für autoritäre Kräfte?

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Veröffentlicht am 17.04.2025

Ein interessanter Aufhänger, aber mir zu wenig Tiefgang

Die Summe unserer Teile
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Ich finde Familienromane über mehrere Generationen hinweg und dann noch mit verschiedenen Erzählperspektiven richtig toll und habe mir deshalb auch von diesem viel erwartet. Ganz enttäuscht wurde ich nicht ...

Ich finde Familienromane über mehrere Generationen hinweg und dann noch mit verschiedenen Erzählperspektiven richtig toll und habe mir deshalb auch von diesem viel erwartet. Ganz enttäuscht wurde ich nicht und doch ist „Die Summe unserer Teile“ für mein Empfinden einfach ein wenig zu kurz für sein Vorhaben.

Wir begleiten drei Generationen von Frauen in der Wissenschaft und erfahren nach und nach, vor allem durch Lucy als jüngste Generation, mehr über die Geheimnisse sowie Herausforderungen aller Figuren. Festgefahrene Rollenverteilungen, Sexismus in der Wissenschaft, Weitergabe von Traumata an die eigenen Kinder - wirklich interessante Aspekte, die mir doch leider alle zu kurz kamen. Viel wurde angeschnitten, aber bevor es für mich emotional wirklich greifbar wurde, war die Szene schon wieder vorbei.

Die emotionale Distanziertheit wird durch die Wahl der dritten Person als Erzählperspektive noch einmal verstärkt, weshalb ich sie nicht optimal fand. Die Autorin schreibt auch allgemein eher bildhaft und atmosphärisch, Emotionen werden selten vorgegeben. Damit habe ich auch nicht grundsätzlich ein Problem, gern mache ich mir selbst ein Bild. Hier fehlte es mir für diesen Prozess jedoch oft an weiteren Informationen und Zusammenhang.

Für Daria als Lucys Mutter hatte ich am Ende am meisten Verständnis und auch die Enthüllungen rund um Lyudmilas Vergangenheit haben mich betroffen gemacht. Lucy nimmt jedoch am meisten Raum ein und gerade ihre Parts blieben mir bis zum Schluss größtenteils nicht greifbar. Fast wirkte es auf mich so, als ob sie gar nicht Teil der Handlung wäre, sondern vor allem Informationen beschaffen soll.

Das Ende bleibt offen und auf seine eigene Art unversöhnlich, was ich aber in Ordnung fand. Alles andere hätte ich als zu naiv kritisiert. Und so bleibe ich etwas zwiegespalten zurück. Der Roman hat für mich sein Potenzial nicht ausgeschöpft und war mir in der Charakterentwicklung zu oberflächlich. Hier hätte ich eindeutig noch mehr Seiten gebraucht. Trotzdem thematisiert die Handlung einige wichtige Aspekte, wie z. B. Mental Load, subtil und ohne viel an Interpretation vorzugeben. Ein Buch für Menschen, die nicht so gern dickere Romane lesen, Atmosphäre wichtig finden und sich am liebsten selbst eine Meinung bilden.

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Veröffentlicht am 27.03.2025

Ein ruhiges Buch mit sanftem Tiefgang, aber emotional ziemlich distanziert

Das Haus über dem Fjord
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Ich finde, dass Kristin Valla hier ein solides Buch mit klarer schnörkelloser Sprache geschrieben hat, welches durch viel Ruhe überzeugt und mich am Ende auch emotional ziemlich bewegt hat. Es hat allerdings ...

Ich finde, dass Kristin Valla hier ein solides Buch mit klarer schnörkelloser Sprache geschrieben hat, welches durch viel Ruhe überzeugt und mich am Ende auch emotional ziemlich bewegt hat. Es hat allerdings seine Längen und weigert sich, die Protagonistin wirklich nahbar zu machen. Die auf dem Klappentext ausgewiesene Spannung kam mir doch etwas zu kurz, da wäre mehr Potenzial vorhanden gewesen.

Elin kehrt in ihre Heimat zurück, trifft dort unter anderem auf eine Jugendliebe und kommt hinter ein großes Familiengeheimnis. Der Roman ist wirklich gut lesbar, auch wenn er im Mittelteil ein wenig schneller hätte sein dürfen. Ich gehe absolut mit den anderen Rezensierenden mit, dass die Protagonistin wirklich sehr distanziert bleibt und emotional nicht sonderlich tief blicken lässt. Irgendwie passt es für mich aber zu dem, was ich von einer norwegischen Figur erwartet habe - auch wenn das vielleicht ein fürchterliches Klischee ist. Somit war ich nicht über die Maßen enttäuscht, obwohl ich emotional vielschichtige Charaktere präferiere.

Am Ende hab ich sogar ein paar Tränen verdrückt, obwohl ich mir die Enthüllungen wirklich deutlich eher erhofft hatte und die Handlung ganz schön vor sich hin plätschert. Das passte wiederum gut zum gewählten Ton und ich habe den Roman gern gelesen, auch wenn er aus den genannten Gründen kein Highlight für mich war. Zu weiteren Büchern der Autorin würde ich wieder greifen, wenn ich eine eher unaufgeregte Lektüre mit sanftem Tiefgang suche.

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Veröffentlicht am 15.03.2025

Intensiv, echt und vielschichtig - manchmal auch ein wenig zu wild

Achtzehnter Stock
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Zum Hörbuch: Die Sprecherin hat mir sehr gut gefallen und ich halte sie für eine passende Wahl. Ihre Stimme hat mich gut für sich eingenommen und auch, wenn manche Figuren mir persönlich noch zu ähnlich ...

Zum Hörbuch: Die Sprecherin hat mir sehr gut gefallen und ich halte sie für eine passende Wahl. Ihre Stimme hat mich gut für sich eingenommen und auch, wenn manche Figuren mir persönlich noch zu ähnlich klangen, fand ich die Figurenabgrenzung gut.

Zum Buch selbst: Es war zwar kein 100%ig passendes Buch für mich, aber ich bleibe eher positiv gestimmt zurück. In jedem Fall ist der Roman einer, der seine Leser:innen fordert und auf intensive Art eintauchen lässt in eine Welt, die ihnen vielleicht nicht bekannt ist.

Sprachlich halte ich das Werk für sehr authentisch. Wanda war mir als Protagonistin vielleicht nicht sympathisch, aber ich habe ihr das beschriebene Leben absolut geglaubt. Der Frust angesichts des eigenen Alltags in der Platte und der Wunsch nach einem Schauspiel-Durchbruch waren wirklich deutlich spürbar. Besonders die Krankheit ihrer Tochter Karlie im ersten Teil hat mich sehr mitgenommen, obwohl ich keine Mutter bin. Auch hier werden die Emotionen wie Wut und Verzweiflung angesichts der schlechten medizinischen Behandlung, ja sogar des Medical Gaslighting, packend beschrieben.

Im späteren Verlauf wurde es mir dann aber doch etwas zu wild. Bei den Schilderungen am Set hatte ich das Gefühl, hier sollte besonders viel Drama aufgebaut werden, was das Ganze für mich völlig übertrieben darstellte. Auch ihr Versinken in einen depressiven Zustand und das ständige Kreisen um das eigene Schicksal habe ich als herausfordernd bis anstrengend empfunden - vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass da noch ein Kind im Spiel war. Ich habe wohl auch einfach nicht verstanden, warum sie sich so vehement als Einzelkämpferin sieht und nicht auf das existierende Netzwerk zurückgreift bzw. dieses ausbaut.

Nichtsdestotrotz liegt dem Text eine Gesellschaftskritik zugrunde: Wer hat aus welchem Grund Privilegien und kann ein Mensch den bei Geburt mitgegebenen Umständen wirklich entfliehen? Stellenweise waren mir die Reflexionen rund um „Was macht einen Menschen wirklich glücklich?“ dann doch etwas zu platt und auch die anderen Bewohner:innen des Hauses hätte ich gern vielschichtiger kennengelernt. Als eine Perspektive von vielen ist der Roman aber sicher eine eindrückliche Erzählung.

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Veröffentlicht am 18.02.2025

Ein Wutrausch in Buchform, von dem ich mir mehr Tiefe gewünscht hätte

Wenn wir lächeln
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Ich habe große Hoffnungen in das Debüt von Mascha Unterlehberg gesetzt, weil ich Geschichten über wütende Frauen sehr gern lese. Mir persönlich ist es dann aber wichtig, dass ich emotional auch darüber ...

Ich habe große Hoffnungen in das Debüt von Mascha Unterlehberg gesetzt, weil ich Geschichten über wütende Frauen sehr gern lese. Mir persönlich ist es dann aber wichtig, dass ich emotional auch darüber hinaus von den Figuren mitgenommen werden. Nicht zwangsläufig muss für mich die Wut am Ende verpuffen, ich kann ihre Anwesenheit auch nach der Lektüre noch gut aushalten. Aber hier hat es für mich auf Figurenebene nicht ganz gepasst.

Doch erst einmal zum Positiven: Der Roman hat mich durch seine innovative Schreibweise und die kurzen Kapitel schnell in sich aufgenommen. Der Schreibstil ist bissig, rau, getrieben und kommt ohne direkte Rede aus. Das ist zwar üblicherweise nicht ganz meins, hier konnte ich aber ingesamt gut damit leben. Jara erzählt fragmentarisch, aber auch irgendwie rauschhaft, was meiner Meinung nach sehr gut zur Wut beider Protagonistinnen passt. Gleichzeitig verschwimmen auf Erzählebene Realität, Erinnerung und Fiktion immer wieder miteinander. Das fand ich gewöhnungsbedürftig, aber nicht schlecht. Nicht immer wird klar, was genau nun Realität und was Fantasie ist. Rein literarisch erfordert der Roman also auf jeden Fall Einiges an Konzentration beim Lesen, obwohl er paradoxerweise geradezu zum schnellen Lesen verleitet.

Die zwei Mädchen im Fokus sind sehr verschieden und reiben sich darüber auch wiederholt aneinander, teilen jedoch eine tiefe Wut - primär eine Wut auf misogyne Strukturen und Männer, die sich nehmen, was sie wollen. Die Beziehung der beiden bewegt sich immer wieder hin und her zwischen Gemeinschaft (teilweise durchaus einer gefährlichen) und Auseinanderdriften aufgrund ihrer Unterschiede und gegenseitiger Missverständnisse.

Warum konnte mich der Roman aber nun doch nicht so begeistern, wie ich es erwartet habe? Zum einen hatte ich ein Problem mit Jaras Gewaltfantasien, in denen sie sich zwischendrin immer wieder verliert. Ob nachvollziehbar oder nicht, an der Stelle bin ich einfach eher sensibel. Und zum anderen konnte ich weder Jara noch Anto so richtig emotional greifen. Ihre Wut habe ich gespürt und sie hat mich auch in ihren Bann gezogen, so weh tat diese Realität beim Lesen. Abgesehen davon gab es für mich aber nicht so richtig viel und auch die Beziehung der beiden habe ich bis zum Ende nicht wirklich verstanden. Es blieben mir dann schlussendlich doch zu viele Leerstellen.

Ich sehe in der Autorin aber großes Potenzial und wäre auch für ihre Folgeromane offen. Ihr Debüt verstehe ich eher als eine Facette des Aufwachsens als weiblich sozialisierter Mensch. Wer Lust hat auf ein stark von Wut getriebenes Buch mit hohem Tempo und offen ist für literarische Innovation, wird hier auf jeden Fall fündig. Damit ich persönlich mich nachhaltiger an ihn erinnere, hätte der Text auf Figurenebene noch facettenreicher und konkreter sein müssen.

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