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Veröffentlicht am 04.11.2025

Die Vergangenheit kehrt zurück

Düsteres Tal
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Vor fünf Jahren hat sich Clara Lofthus, die smarte norwegische Ex-Justizministerin und unerkannte Serienmörderin, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Mit ihrem neuen Partner Axel und ihren 15-jährigen ...

Vor fünf Jahren hat sich Clara Lofthus, die smarte norwegische Ex-Justizministerin und unerkannte Serienmörderin, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Mit ihrem neuen Partner Axel und ihren 15-jährigen Zwillingssöhnen lebt sie in Nairobi und leitet dort im Auftrag von UNICEF eine Schule.

Als der norwegische Entwicklungshilfeminister die Einrichtung besucht, kommt es zu einem brutalen Terroranschlag mit mehreren Toten. Geistesgegenwärtig und kaltblütig rettet Clara eine Gruppe von Kindern und feuert mit dem Maschinengewehr eines toten Terroristen auf die Angreifer. Schlagartig steht sie als Heldin wieder im Mittelpunkt des norwegischen Medieninteresses.

Das Comeback
Zurück in Oslo überschlagen sich die Ereignisse. Die Ministerpräsidentin beruft Clara erneut auf den Posten der Justizministerin, deren verhasste Mutter Agnes plant den Verkauf von Grundstücken auf dem familieneigenen Hof in Westnorwegen und eine fünf Jahre alte Frauenleiche wird in einem Salzfass in einer aufgegebenen Wurstfabrik gefunden.

Hier tritt der bekannte Talkshow-Moderator Erik Heier auf den Plan, dessen populäre Sendung aus Kostengründen weichen muss. Nachdem er in der letzten Sendung die charismatische, wortgewandte und schöne Vorzeige-Karrierefrau Clara zu Gast hatte, für die auch er eine große Faszination verspürt, plant er einen investigativen Podcast über cold cases, ungelöste Altfälle. Thema des ersten Projekts soll der Fall der Salzfass-Leiche sein, Sabiya Rana, einer jungen Kinderärztin pakistanischer Herkunft und Mutter dreier Kinder, die plötzlich des Dreifachmordes verdächtigt wurde und nach ihrer Entlassung spurlos verschwand. Erik Heier ahnt nicht, wie nahe er mit seinen Recherchen dem Mysterium Clara Lofthus kommt…

Psychothriller mit Sog und literarischen Qualitäten
"Düsteres Tal" ist der dritte Band der ungewöhnlichen Psychothriller-Trilogie der 1978 geborenen, 2013 mit dem Brageprisen ausgezeichneten norwegischen Lyrikerin, Belletristik- und Kinderbuchautorin Ruth Lillegraven. Ungewöhnlich ist das „normale“ Umfeld, in dem sich die skrupellose Protagonistin bewegt, ungewöhnlich die wunderbaren Naturbeschreibungen aus Westnorwegen und die detaillierten Beschreibungen politischer Prozesse, die Ruth Lillegraven aus ihrer langjährigen Arbeit im Verkehrsministerium kennt, aber auch die literarische Qualität. Aus all diesen Gründe habe ich, obwohl ich sonst kaum Thriller lese, jeden neuen Band dieser Trilogie dringend erwartet. Hervorragend gelingt es der Autorin, das Innenleben ihrer furchteinflößenden, ohne Hemmschwelle agierenden Heldin glaubhaft darzustellen, in deren Logik Problemlösung bedeutet, alles und jeden aus dem Weg zu räumen, der ihr in die Quere kommt:

"Es gibt keine Gerechtigkeit, aber manchmal kann man etwas tun, um das Gleichgewicht wiederherzustellen." (S. 78)

Menschlich wird die gnadenlose Protagonistin in ihrem idealistischen Einsatz für einen verbesserten Schutz für Kinder und mit ihrer Sehnsucht nach dem Hof ihrer Familie in ihrer westnorwegischen Heimat:

„Ich will nach Hause. Wenn ich mit der Politik fertig bin, kann es nur diesen Weg geben […].“ (S. 179)

Kein Whodunit und trotzdem unglaublich spannend
Wie bei den Vorgängerbänden "Tiefer Fjord" und "Dunkler Abgrund" beruht die Spannung auch bei "Düsteres Tal" nicht auf der Frage nach dem Täter oder der Täterin, sondern auf dem Wie und Warum sowie der sehr besonderen Erzählweise von Ruth Lillegraven. Die 78 kurzen Kapitel mit einem Prolog bzw. Epilog aus dem Podcast werden abwechselnd von Clara, Axel und Erik Heier erzählt, was Tempo wie Dramatik gleichermaßen steigert.

Eine rundum gelungene, wendungsreiche und perfekt konstruierte Psychothriller-Trilogie mit einem für mich ebenso überraschenden wie genialen Finale.

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Veröffentlicht am 08.10.2025

Wohin mit 20.000 Elefanten?

Das Geschenk
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2006 wurde der Braunbär Bruno in Deutschland zum Politikum. Die bayerische Staatsregierung erklärte ihn zum „Problembären“ und gab ihn unter großer medialer Anteilnahme zum Abschuss frei.

Von anderer ...

2006 wurde der Braunbär Bruno in Deutschland zum Politikum. Die bayerische Staatsregierung erklärte ihn zum „Problembären“ und gab ihn unter großer medialer Anteilnahme zum Abschuss frei.

Von anderer Tragweite sind die Schwierigkeiten von Bundeskanzler Hans Christian Winkler im Roman "Das Geschenk" der flämischen Autorin Gaea Schoeters, denn wie von Zauberhand tauchen in Berlin plötzlich 20.000 afrikanische Elefanten auf. Ein Anruf des botswanischen Präsidenten schafft Klarheit: Die Dickhäuter sind weder Terroranschlag noch Spionageangriff, sondern die Antwort auf das vom Bundestag mit deutlicher Mehrheit verabschiedete sogenannte „Elfenbeingesetz“, das die Bedingungen für den Import exotischer Jagdtrophäen beträchtlich verschärft. Das tierische Geschenk ist vergiftet:

"Ihr Europäer wollt uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Vielleicht solltet ihr einfach mal selbst versuchen, mit Megafauna zurechtzukommen. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, Deutschland zwanzigtausend Elefanten zu schenken." (S. 34)

Liquidieren oder einsperren ist keine Option:

"Jeder Elefant, dem auch nur ein einziger Stein in den Weg gelegt wird, wird sich verdoppeln. […] Alles für die Elefanten." (S. 35)

Die Rechtspopulisten im Nacken
Winklers Hoffnung, sein Image durch medienwirksame Krisenbewältigung aufzubessern und damit den rechtspopulistischen Konkurrenten Holger Fuchs bei den anstehenden Wahlen in Schach zu halten, zerplatzt wie eine Seifenblase. Stattdessen ergeht man sich im Krisenstab in Macht- und Ränkespielen und steht hilflos den 2000 Tonnen Elefantenfäkalien pro Tag gegenüber, für deren Treibhausgase die nötigen Emissionszertifikate im schlimmsten Fall für viel Geld von Botswana erworben werden müssen, kämpft mit der Beschaffung von Wasser und Futter, demonstrierenden Müllwerkern und Bauern, Massenkarambolagen, Verwüstungen und höchst invasiven Pflanzen. Die Öffentlichkeit schwankt zwischen gefühliger Euphorie für ein neugeborenes Elefantenbaby, hysterischer Ablehnung und Unterstützung für Holger Fuchs, der sich mit Hilfe der Elefanten zunehmend profiliert. In seiner Not und auf Anraten seiner Vorgängerin beruft Winkler eine Ministerin für Elefantenangelegenheiten und verlagert die Verantwortung auf die taffe schwäbische Parteigenossin Hannelore Hartmann:

"Männer bekommen meistens in stabilen Unternehmen oder Situationen Führungsposten, Frauen werden nur in Krisenzeiten solche Spitzenjobs angeboten." (S. 66)

Die neue Ministerin sprüht vor Tatendrang, stellt strenge Verhaltensregeln auf, ruft Elefantenquoten für die Bundesländer aus, lässt aus Exkrementen exklusiven Dünger für den Weltmarkt produzieren und radikalisiert sich auf ihre Weise - alles für die Elefanten!

Eine Politsatire mit realem Hintergrund
Als der botswanische Präsident Mokgweetsi Masisi am 2. April 2024 die Ankündigung machte, 20.000 Elefanten nach Deutschland zu schicken, hielten viele das für einen verspäteten Aprilscherz. Tatsächlich hatte die ebenso provokante wie absurde Ankündigung einen ernsten Hintergrund: die Überforderung seines Landes durch die zunehmende Elefantenpopulation und die postkoloniale Überheblichkeit des Westens. Gaea Schoeters, 1976 geborene Tochter eines belgischen Politikers, hat die Idee als Steilvorlage für ihren schmalen Roman Das Geschenk aufgegriffen und die Folgen von Tag 1 bis 435 äußerst fantasievoll ausgemalt. Herausgekommen ist eine klug komponierte Polit- und Gesellschaftssatire, bissig, zoologisch wie botanisch lehrreich, entlarvend und urkomisch, wobei mir das Lachen oftmals im Hals steckengeblieben ist.

Herausragend, aufrüttelnd und unbedingt lesenswert!

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Veröffentlicht am 16.09.2025

Eingeweideschau

Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten
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Ein Roman über vier Generationen einer Familie und ein ganzes Jahrhundert ist üblicherweise ein dicker Wälzer mit penibel recherchierten Details und gegebenenfalls fiktionaler Überbrückung von Leerstellen. ...

Ein Roman über vier Generationen einer Familie und ein ganzes Jahrhundert ist üblicherweise ein dicker Wälzer mit penibel recherchierten Details und gegebenenfalls fiktionaler Überbrückung von Leerstellen. Es geht aber auch ganz anders. Anna Maschik, 1995 geborene Autorin aus Österreich, die bisher Kurzprosa und Lyrik veröffentlicht hat, schafft ein solches Panorama auf nur 232 großzügig gesetzten Seiten in Fragmenten und lässt Leerstellen bewusst offen oder füllt sie mit magischem Realismus. Das mag ungewöhnlich klingen und ist es natürlich auch, aber es gelingt dermaßen gut, dass ihr Erstling "Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten" zurecht als einer von sechs Titeln auf der Longlist zum Debütpreis im Rahmen des Österreichischen Buchpreises 2025 steht.

Vier Frauen prägen die Familie
Anna Maschik konzentriert sich in ihrem von der eigenen Familiengeschichte inspirierten Roman ganz auf die Frauen. Henrike, Bäuerin auf einem Hof an der deutschen Nordsee, geboren am 1. Januar 1901, die den jüngeren Brüdern früh die Mutter und im Krieg auf dem Hof Mann und Sohn ersetzen muss, schlachtet aus Not illegal Schafe, weil die im Gegensatz zu Schweinen still sterben. Ihre Tochter Hilde will keinesfalls Bäuerin werden, heiratet einen österreichischen Soldaten und leidet unter Heimweh. Miriam, die dritte in der Reihe, entkommt nur knapp Hildes Abtreibungsversuch und erzieht ihre Tochter Alma, Ich-Erzählerin des Romans, allein.

Alma wiederum spürt dem Schicksal ihrer Vorfahrinnen, aber auch der Vorfahren nach, die bei jedem Todesfall auftauchen und die Sterbenden in Empfang nehmen. Ständige Begleiterinnen sind außerdem Anna, die Hebamme, und Nora, die Totenfrau, die, wie Alma bei Miriams Tod erstmals bemerkt, „einander sehr ähnlich sehen“ (S. 230). Indem sie die Bruchstücke zusammenträgt, in den Innereien wühlt, wie Henrike einst in den Innereien der geschlachteten Schafe, ergründet sie die Auswirkungen vergangener Leben auf ihr eigenes und was ihr in die Wiege gelegt wurde:

Ich möchte mich vorstellen, ich bin Alma, und meine Erzählung ist eine Eingeweideschau. Leber, Lunge, Herz und Magen werden auf ihre Beschaffenheit untersucht. (S. 8)

Familienerbe
Vieles wiederholt sich. Henrike und Hilde singen nur für eines ihrer Kinder Schlaflieder, die benachteiligten beneiden ihre Geschwister, während diese wiederum unter ihrer Verantwortung leiden. Erst Miriam durchbricht die Kette, indem sie dem Drängen von Alma nach einem Geschwisterkind nicht nachgibt. Alle Frauen haben ein schwieriges Verhältnis zu ihren Töchtern, jedoch eine besondere Beziehung zur Natur und zu Gärten. Henrike, Hilde und Miriam sind gefangen in Sprachlosigkeit, bei Hilde und Miriam von ihren Müttern verordnet, im Buch spürbar durch unbedruckten Raum. Alma bricht dieses Schweigen, indem sie fragmentarisch die Familiengeschichte aufschreibt, in Anekdoten und in Listen, einer weiteren Besonderheit dieses Romans:

SYNONYME FÜR »FRÜHER «:
Im Norden
Im Krieg
Im Dorf
Daheim (S. 102)

Obwohl ich magischen Anteilen in Geschichten sonst eher kritisch gegenüberstehe, haben sie mich hier überhaupt nicht gestört, sondern im Gegenteil die Realität in eigentümlicher Weise verstärkt: ein Sohn, der die ersten 15 Jahre seines Lebens verschläft, ein anderer, der zum Wolf wird und ein dritter, der verholzt, oder Miriam, die am Ende ihres Lebens – ein wunderschönes Bild – als Zitronenbaum erblüht.

Anna Maschik ist mit ihrem innovativen, manchmal springenden Erzählstil, ihrer Sprachsensibilität und vielfältigen Metaphern ein ganz außerordentliches Debüt gelungen. Eine neue Stimme, auf deren weitere Werke ich äußerst gespannt bin.

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Veröffentlicht am 14.09.2025

Kurskorrekturen

Aufsteiger
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Die Karriere des ehrgeizigen Journalisten Felix Licht kannte bisher nur eine Richtung: nach oben. Dafür hat er Familie, Privatleben und Gesundheit hintangestellt und lebt in Erwartung weiteren Aufsteigens ...

Die Karriere des ehrgeizigen Journalisten Felix Licht kannte bisher nur eine Richtung: nach oben. Dafür hat er Familie, Privatleben und Gesundheit hintangestellt und lebt in Erwartung weiteren Aufsteigens auf zu großem Fuß. Um den Gipfel in Gestalt des Chefredakteurspostens bei der bedeutenden Wochenzeitschrift „Das Magazin“ zu erreichen, schreckt er auch vor Königsmord an seinem Mentor, Förderer und Freund Richard Leck nicht zurück, doch kommt ihm der mit der Kündigung zuvor. Seit das Blatt vom neureichen Ehepaar Christian und Charlotte Berg übernommen wurde, die ihr Riesenvermögen mit Kleidung für Neurechte gemacht haben und dieses Image nun unbedingt loswerden möchten, rückt Felix‘ Ziel in immer greifbarere Nähe, nun ist er sich seiner Sache sicher:

"Er fühlte sich wie ein Alpinist, der im Schatten eines gewaltigen Berges aufgewachsen war und nun nach vielen Jahren und Aufstiegsversuchen nur noch wenige Meter bis zum Gipfel vor sich hatte, das Ziel fest im Blick. Er war viel zu nah dran, als dass er noch scheitern könnte." (S. 35)

Verkalkuliert
Der Schlag trifft ihn ebenso unvorbereitet wie hart, plötzlich ist nicht nur Richard Leck, sondern auch Felix Licht ein alter weißer Mann. Ihm, der sich mit seinen 48 Jahren noch zum journalistischen Nachwuchs im besten Alter zählte, wird dank der Fürsprache von Charlotte Berg ausgerechnet die 31-jährige woke, schwarze Zoe Rauch vorgezogen, eine Frau mit einem „ausgezeichneten Ruf in genau dem Milieu, das das Magazin bislang strikt ablehnte“ (S. 76). Vor zwölf Jahren war sie seine begabteste Volontärin. Um ein Haar wäre er damals ihrer Schönheit und ihrem Charme erlegen und hätte für sie sein „Spießerleben“ (S. 71) riskiert. Nun ist sie plötzlich wieder da – unter umgekehrten Vorzeichen, aber ebenso anziehend. Innerhalb weniger Stunden bricht für Felix Licht alles zusammen: Karriere, Ansehen, Familie. Warum also nicht auf das Angebot des rechten Hetzbloggers und Anwalts Cornelius Sentheim eingehen und auf Diskriminierung wegen Alters, Geschlechts und Hautfarbe klagen, um wenigstens die finanziellen Probleme abzufedern?

Auf und Ab
"Aufsteiger" ist ein Roman aus der Berliner Medienwelt, der mich zunächst in Bann gezogen hat. Der Prolog in den Räumen der Gerichtsmedizin macht neugierig, die Niederlage des selbstmitleidigen Ehrgeizlings Felix Licht erzeugt Schadenfreude und die Schilderung der prekären Lage der Printmedien ist interessant. Dass der 1969 geborene Autor Peter Huth heute Unternehmenssprecher bei Axel Springer ist und früher als Journalist unter anderem Chefredakteur der "B.Z." und der "Welt am Sonntag" war, steht für tiefe Kenntnis der bundesdeutschen Medienszene.

Allerdings flaute meine Begeisterung im Mittelteil deutlich ab, denn die Diskussionen in der Redaktion und den rechtspopulistischen sozialen Medien über Klimakleber, Windkraft, Indianer, Gendersternchen und Transpersonen wirken – wenn auch nicht abschließend gelöst – entsetzlich abgedroschen. Ausgetauscht werden altbekannte Argumente, die mich  angesichts der schweren aktuellen Krisen wie Ukraine- oder Gazakrieg noch weniger ineressieren als damals und mit denen ich mich einfach nur gelangweilt habe. Gestört hat mich außerdem, dass es durchgängig nur radikale Charaktere gibt, die zudem jedes erdenkliche Klischee erfüllen: radikal ehrgeizig, geltungssüchtig, (pseudfeministisch, rechtspopulistisch, wertefrei, selbstmitleidig, reich…, keinerlei Grautöne, und für mich damit ohne Möglichkeit zur Anknüpfung.

Im letzten Teil hat mich die Handlung allerdings wieder eingefangen, trotz der extremen Wendungen, so dass "Aufsteiger", nicht zuletzt wegen des dynamischen, temporeichen Schreibstils und des Clous im Epilog, trotz der angeführten Schwächen letztlich insgesamt doch eine lohnende Lektüre für mich war.

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Veröffentlicht am 08.08.2025

Ermittlungsakte 40/913/990-07

Lilianas unvergänglicher Sommer
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Statistisch gesehen stirbt weltweit alle zehn Minuten eine Frau oder ein Mädchen durch den Partner oder Ex-Partner, wobei die drei Monate nach der Trennung das höchste Gefahrenpotential darstellen. In ...

Statistisch gesehen stirbt weltweit alle zehn Minuten eine Frau oder ein Mädchen durch den Partner oder Ex-Partner, wobei die drei Monate nach der Trennung das höchste Gefahrenpotential darstellen. In Deutschland gab es 2023 laut BKA-Bundeslagebericht 360 Femizide, also Tötungsdelikte aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, Tendenz steigend. In 155 Fällen waren die Täter Partner oder Ex-Partner, in 92 weiteren Familienangehörige.

Deutlich höhere Zahlen weisen Afrika, aber auch Amerika und Ozeanien auf. In Mexiko, wo der Straftatbestand des Femizids 2012 ins Bundesstrafgesetzbuch aufgenommen wurde, sind es zehn pro Tag.

Selten geschehen die Taten ohne Vorlauf. Die US-amerikanische Krankenschwester Jacquelin Campbell hat 1985 eine „Kartografie der Gewalt“ (S. 59) mit 22 Risikofaktoren für häusliche Übergriffe erstellt. Die Vorzeichen nicht erkannt zu haben, ist eine der Ursachen für Schuldgefühle Hinterbliebener.

Eine Akte ersetzen
Schuldgefühle, Scham, Trauer und die fehlende Sprache für den Femizid an ihrer Schwester Liliana Rivera Garza am 16.07.1990 ließen auch die mexikanische Schriftstellerin Cristina Rivera Garza jahrzehntelang stumm bleiben. Nach einer Odyssee durch mexikanische Behörden 2019 jedoch, bei der die Ermittlungsakten unauffindbar blieben, obwohl der mutmaßliche Täter Ángel González Ramoz nie gefasst und angeklagt wurde, fasste sie einen Entschluss:

"In Zukunft, sage ich mir, während ich versuche, dem Augenblick zu entfliehen, werde ich mich daran erinnern, dass dies der Moment war, in dem ich erkannt habe, dass ich schreiben muss, um diese Akte zu ersetzen, die vielleicht für immer unauffindbar bleibt." (S. 36)

Entstanden ist ein äußerst persönliches Memoir über das kurze Leben Lilianas, das sie und nicht den mutmaßlichen Täter oder die Tat in den Mittelpunkt stellt, verbunden mit einem Blick auf die strukturellen und gesamtgesellschaftlichen Probleme hinter dem Phänomen Femizid. Getrennt durch einen Altersabstand von fünf Jahren und unterschiedliche Interessen fühlt sich die Autorin Liliana bis heute besonders bei ihrem gemeinsamen Hobby nah: dem Schwimmen.

Eine detailreiche Rekonstruktion
Mit Hilfe einer Unzahl von „Heften, Notizen, Aufzeichnungen, Collagen, Plänen, Briefen, Kassetten und Kalendern“ (Nachwort, S. 327), außerdem zahlreichen transkribierten, literarisch aufbereiteten Interviews im Freundes- und Familienkreis der 20-jährigen begabten, freiheitsliebenden, lebenshungrigen und umschwärmten Architekturstudentin, rekonstruiert Cristina Rivera Garza deren Persönlichkeit. Sechs Jahre währte die immer wieder unterbrochene Beziehung zu ihrem späteren Mörder, einem von Wut, rasender Eifersucht, Penetranz und Kontrollzwang getriebenen jungen Mann, der so gar nicht zu Lilianas studentischem Freundeskreis in Mexiko-Stadt passte, und von dem sie sich etwa im Mai 1990 endgültig befreite. Viele Fragen bleiben offen, da die kommunikative Liliana sich ausgerechnet in Beziehungsfragen äußerst bedeckt hielt. Ahnte sie die Gefahr? Warum kehrte Liliana immer wieder in die belastende Beziehung zurück? Eine Antwort darauf gibt die US-amerikanische Journalistin und Expertin für häusliche Gewalt Rachel Louise Snyder:

"Opfer partnerschaftlicher Gewalt bleiben in der Beziehung, weil sie wissen, dass jede plötzliche Bewegung den Bären provoziert." (S. 235)

Die inzwischen überwiegend in den USA lebende und lehrende, 1964 in Mexiko geborene Soziologin und Historikerin Cristina Rivera Garza gehört zu den wichtigsten Autorinnen ihres Herkunftslands. Für "Lilianas unvergänglicher Sommer" - der Titel bezieht sich auf ein Zitat von Albert Camus - erhielt sie den Pulitzer-Preis 2024 in der Kategorie Memoiren oder Autobiographie, der seit 2023 vergeben wird. Ich hätte mir bei den Interviews und den Notizen Kürzungen, bei den Bildern erklärende Unterschriften gewünscht und streckenweise war mir der Text zu gefühlvoll, wenngleich das aus Sicht der Autorin verständlich ist. Gefallen haben mir der kämpferische Stil, die allgemeinen, nüchternen Betrachtungen zum Thema Femizid und besonders die ergreifende Schilderung der lebenslangen Auswirkungen einer solchen Tat auf die Hinterbliebenen.

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