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Veröffentlicht am 09.08.2022

Spannendes Porträt einer Nicht-Ikone

Susan Sontag. Geist und Glamour
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Sie wollte weder das Label als feministische Autorin, das der lesbischen Schriftstellerin, noch das der Miss Camp und doch war sie auch all das. Daniel Schreiber zeichnet den Lebensweg von Susan Sontag ...

Sie wollte weder das Label als feministische Autorin, das der lesbischen Schriftstellerin, noch das der Miss Camp und doch war sie auch all das. Daniel Schreiber zeichnet den Lebensweg von Susan Sontag (1933-2004) nach, von der vaterlosen Kindheit bis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und ihrem Tod im darauf folgenden Jahr.

Von Susan Sontag wußte ich vor diesem Buch kaum etwas, das hat sich nun geändert. Schreiber hat das Leben und Werk der amerikanischen Intellektuellen in das jeweilige Umfeld aus Gesellschaft, Literatur, Kunst, Politik, Freundschaften etc. gekonnt eingebettet und die Beziehungen und Einflüsse auf Sontag und ihre Texte und auch ihre Einflüsse auf andere herausgearbeitet. Das liest sich sehr, sehr interessant und viele Arbeiten wären ohne den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund nicht einzuordnen. Schreiber setzt Sontags Texte in Bezug zu anderen Autorinnen und Autoren, erläutert die Entstehungsgeschichten und fast die Texte auch zusammen. Ich gebe gerne zu, dass ich hier nicht immer alles verstanden habe. Es geht oft um Theorien, vor allem in ihren Essays. Dennoch hat man selbst bei den kompliziertestes Passagen zumindest eine Ahnung, um was es Sontag ging.

Schreiber schildert den teilweise problematischen Alltag, die schwierigen Partnerschaften, die ständigen Geldsorgen, die Versagensängste, die schwere Krankheit Sontags und ihre nicht enden wollende Umtriebigkeit, ihr großes Interesse für alles, was mit Kunst und Kultur zu tun hatte.

Herausgekommen ist das Porträt einer Frau, die von Ambivalenz geprägt war, die sich oft selbst inszenierte und sich einer eigenen Anspruchshaltung in Bezug auf ihr Schaffen gegenübersah, die sie häufig nicht erfüllen konnte. In Perioden großer Produktivität ersann sie so viele Projekte, dass häufig keines davon umgesetzt wurde. Ein schönes Zitat von Jeff Seroy, Publicity-Direktor ihres Verlages FSG, zeigt auf, wie radikal sie auch mit den Menschen in ihrer Umgebung umging: "Bei Susan saß man entweder auf dem Beifahrersitz, oder man war ein überfahrenes Tier am Straßenrand, aber auf dem Beifahrersitz war es eine großartige Erfahrung." (S. 250f.)

Insgesamt hat mich die Biografie wahnsinnig fasziniert und ich habe mit Schrecken festgestellt, wie viele Personen aus dem engeren und weiteren Umfeld von Sontag mir nichts gesagt haben. Das Buch ist voller Post-Its und ich werde noch weitere Bücher über und vor allem auch Texte von Sontag lesen. Als umfassende Einführung in Leben und Werk fand ich das Buch ideal.

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Veröffentlicht am 09.08.2022

Eine Jugend auf Sand gebaut

Das Leben vor uns
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Anja und Milka sind zwei Teenager, die Musik und Jungs im Kopf haben. Die aber auch über Politik und Literatur diskutieren und sich auf die Zukunft freuen, auf die Zeit, wenn sie endlich erwachsen sind. ...

Anja und Milka sind zwei Teenager, die Musik und Jungs im Kopf haben. Die aber auch über Politik und Literatur diskutieren und sich auf die Zukunft freuen, auf die Zeit, wenn sie endlich erwachsen sind. Aber sie werden in der Sowjetunion der 80er Jahre erwachsen; in einem Umfeld, das noch von der Revolution, dem Krieg, der Angst vor der Tyrannei von Lenin und Stalin und der allgegenwärtigen Mangelwirtschaft geprägt ist. In all diesem Chaos des eigenen Lebens und dem Chaos um sie herum, halten Anja und Milka zusammen. Sie verbringen herrliche Sommer in der Datscha der Eltern, feiern und treffen sich mit Jungs. Aber der Zusammenbruch der Sowjetunion geht auch an den Mädchen nicht spurlos vorüber.

Kristina Gorcheva-Newberry hat einen fulminanten Debütroman geschrieben. Eine Geschichte vom Erwachsenwerden hinter dem eisernen Vorhang. Voller kluger Sätze, voller Widersprüche und Zerrissenheit. Es wird ein Einblick in die "russische Seele" gegeben und das in wunderbar bildhafter Sprache.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, das nicht nur eine besondere Coming-of-Age-Story enthält, sondern - aktueller denn je - auch stark die Politik des Landes thematisiert. Dies kann in einer Geschichte, die im Zeitalter von Glasnost und Perestroika spielt, auch gar nicht anders sein. Während wir im Westen voller Freude die Politik von Generalsekretär Gorbatschow begrüßt haben, sahen die Sowjetbürger zerfallen, woran sie Jahrzehnte geglaubt hatten. Ihre völlige Orientierungslosigkeit versteht die Autorin gekonnt abzubilden. Die beiden Mädchen und ihre Freunde stehen für die verlorene Jugend dieser Zeit, deren Zukunft so verheißungsvoll begann, aber offene Grenze sind nicht alles.

Der Roman hat wunderbare helle Momente, ist aber grundsätzlich von einer eher traurigen und melancholischen Stimmung geprägt. Der im Zentrum der Geschichte stehende Apfelgarten von Anjas Eltern spiegelt den gesamten Roman wider und steht zudem in enger Verbindung zu Tschechows Theaterstück "Der Kirschgarten". Leider wurde der englische Originaltitel "The Orchard" nicht wörtlich übersetzt - schade.

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Veröffentlicht am 29.07.2022

Entführung, Brandstiftung und Mord

Der gute Samariter
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Corona macht auch vor dem Kosmos von Olivia Rönning und Tom Stilton nicht Halt. Im mittlerweile siebten Band der Serie ist die Pandemie in Schweden angekommen und legt weite Teile des öffentlichen Lebens ...

Corona macht auch vor dem Kosmos von Olivia Rönning und Tom Stilton nicht Halt. Im mittlerweile siebten Band der Serie ist die Pandemie in Schweden angekommen und legt weite Teile des öffentlichen Lebens lahm. Mittendrin verschwindet Olivia und Tom, der sich mit Luna in seine Hütte auf Rödlöga zurückgezogen hatte, kehrt in die Zivilisation zurück und unterstützt die Suche. Zeitgleich fürchtet Olivia in einem Keller um ihr Leben, dann bricht über ihr ein Feuer aus.

Dieser Teil der Handlung, der auch ähnlich auf dem Klappentext steht, ist allerdings bereits nach 76 Seiten (von insgesamt 441) abgearbeitet. Die Handlung entwickelt sich dann in eine ganz andere Richtung.

Zunächst hatte ich ein bisschen Mühe, mich in den Sprachstil einzufinden. Ich dachte zunächst an neue Übersetzer*innen, das stimmt aber nicht. Allerdings habe ich den letzten Band übersprungen, der ist mir irgendwie entgangen. Daher fehlte wohl ein bisschen der Anschluss, obwohl ich die anderen Bände gelesen habe. Es wird also für Quereinsteiger etwas schwieriger, aber dennoch kann man der Handlung folgen. Einige lieb gewonnene Figuren erschienen mir etwas gewollt in die Handlung eingebaut (Abbas, der Nerz). Eine kleine Liebesgeschichte hat sich ziemlich überstürzt und nicht so richtige nachvollziehbar entwickelt. Für mich hatte der Krimi darüber hinaus einige Längen, wirkte etwas lieblos und ich wollte auch nicht unbedingt in einem Buch Corona begegnen, davon ist man ohnehin schon umzingelt. Aber sei es drum.

Für Fans der Serie natürlich ein Muss, für Einsteiger eher nicht zu empfehlen. Die ersten Bände waren wesentlich spannender. Band acht wird mit einem Cliffhanger in Aussicht gestellt.

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Veröffentlicht am 28.07.2022

Beeindruckend geschriebene Familiengeschichte

Die Unschärfe der Welt
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Hannes ist Pfarrer im rumänischen Banat; seine Frau Florentine ist schwanger, fast verliert sie ihr Kind. Mit dem Blick auf dieses Paar und seine Umgebung, auf die Freunde im Dorf und den Besuch aus Ostdeutschland ...

Hannes ist Pfarrer im rumänischen Banat; seine Frau Florentine ist schwanger, fast verliert sie ihr Kind. Mit dem Blick auf dieses Paar und seine Umgebung, auf die Freunde im Dorf und den Besuch aus Ostdeutschland beginnt der Roman von Iris Wolff. In sieben Episoden wird die Geschichte dieser Familie über vier Generationen erzählt. Dabei entfaltet die Autorin in einer unglaublich zarten Sprache mit vielen Bildern eine ruhige und doch fesselnde Geschichte. Dabei kommen die innersten Gedanken der Charaktere ans Licht, über Heimat, Familie, Freundschaft, Liebe und Verlust aber auch die äußeren Umstände werden deutlich aufgezeigt: Bespitzelung, Willkürsystem, Folter, Verfolgung, Flucht und Widerstand.

"Vielleicht wäre es besser, die frühen, glücklichen Erinnerungen nicht zu haben. Vielleicht wäre es ohne überhaupt nicht zu ertragen." (S. 90)

Der grazilen und doch präzisen Sprache der Autorin stehen die eher verhaltenen Stimmen der Figuren gegenüber, allen voran Florentine und ihr Sohn Samuel. Florentine schweigt lieber, anstatt zu reden. Für sie können Worte nur unscharf die Welt wiedergeben, die man durch Erfahrung kennenlernt. Der Roman ist oft vor allem durch die Gedanken der Figuren geprägt. Gedanken z.B. über ein System, das aufrechterhalten wird, obwohl es ein Phantasiegespinst ist und das schließlich doch zusammenbricht.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Trotz der episodenhaften Anlage des Romans sind für mich keine Lücken in der Handlung entstanden. Die 213 Seiten hatte ich nicht so schnell gelesen, wie gedacht. Das Beziehungs- und Familiengeflecht der Personen ist überschaubar, aber es stehen so viele kluge Sätze in diesem Buch und - ich kann es nur wiederholen - in einer so schönen poetischen Sprache, dass man sich dafür Zeit nehmen sollte.

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Veröffentlicht am 15.07.2022

Die Bekenntnisse des Sprücheklopfers Werner Weber

Die Lange Stille
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Werner Weber - ein Name wie gemacht für einen unauffälligen und peniblen Durchschnittsmann, lebenslang gefangen in der mittleren Beamtenlaufbahn. Weit gefehlt. Trotz unvollendeter gymnasialer Laufbahn ...

Werner Weber - ein Name wie gemacht für einen unauffälligen und peniblen Durchschnittsmann, lebenslang gefangen in der mittleren Beamtenlaufbahn. Weit gefehlt. Trotz unvollendeter gymnasialer Laufbahn hat es Sprücheklopfer Werner Weber zu einem ansehnlichen Guthaben bei der örtlichen Sparkasse gebracht. Er kann als die norddeutsche Version von Steve Rubell und Ian Schrager gelten, jenen legendären Betreibern des Studio 54 in New York. Werners Beteiligung an der Wum Wum-Diskothekenkette und dem Wegschleppen der schwarzen Scheine in Plastiktüten wird aber ebenso wie ehedem den New Yorkern ein unschönes Ende gesetzt, der Steuerfahndung sei Dank. Was Werner noch alles widerfährt, "hätte man gut auf fünfzig Mann verteilen können. Da wäre keiner zu kurz gekommen." (S. 243)

Wir begleiten Werner von der Tanzschule, wo er seine Jugendliebe Karin im Discofox über die Tanzfläche schiebt, über seine zahlreichen beruflichen Stationen bis zu seinem Blick in den Abgrund. Und damit beginnt der Roman. Da er Gesprächs- und Gruppentherapie verweigert, wird ihm angeraten, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Und das macht das selbsternannte Genie dann auch, und zwar "schnodderig und überheblich, da ist kein Einsehen oder gar eine Selbstanalyse erkennbar." (S. 78). Statt Reflexionen gibt es nur Selbstdarstellung, aber das höchst amüsant.

Der Autor läßt Werner durch die 80er, 90er und 2000er Jahre düsen und fängt gleichzeitig das Flair dieser Jahrzehnte ein. Das fand ich sehr gelungen. Natürlich ist Werner als Charakter ein Chauvi, oberflächlicher Draufgänger, Fremdgeher, Aufschneider, Lügner und Betrüger ... Aber er ist auch witzig, ideenreich, findig, charmant und hat eine Schwäche für die strebsame und seriöse Karin, die große Schweigsame bzw. die lange Stille. Ob Karin ihn retten kann?

Das Buch hat mich angenehm überrascht. Es liest sich flott und witzig und hat mich gut unterhalten. Da ich vorher einige "schwerere" Romane gelesen hatte, war es jetzt genau das Richtige. Was dem Protagonisten alles widerfährt, aber welche glücklichen Zufälle ihm auch oft zur Hilfe kommen, ist wirklich vergnüglich. Absolut lesenswert auch die Musikkritiken, die im Text eingestreut sind und ein weiteres berufliches Standbein von Werner darstellen.

Gestört haben mich zwei Dinge: Zum einen ein Satz auf Seite 197, der hier nicht erwähnt werden kann, weil Spoilergefahr besteht und zweitens das etwas sehr biedere Cover. Das wird dem Inhalt nämlich in keiner Weise gerecht.

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