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SteffK

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Veröffentlicht am 06.04.2020

„Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil“ – hier nur leider nicht

Die stummen Wächter von Lockwood Manor
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Henrietta, genannt Hetty, wird aufgrund von in den Kriegsdienst eingezogenen Kollegen 1939 zur stellvertretenden Leiterin der Abteilung für Säugetiere des Londoner Natural History Museums ernannt. Um die ...

Henrietta, genannt Hetty, wird aufgrund von in den Kriegsdienst eingezogenen Kollegen 1939 zur stellvertretenden Leiterin der Abteilung für Säugetiere des Londoner Natural History Museums ernannt. Um die Ausstellungsstücke vor einer möglichen Zerstörung im Zuge des Krieges zu schützen, übernimmt sie deren Evakuierung nach Lockwood Manor, einem herrschaftlichen Anwesen, dessen Besitzer sich im Zuge der Kriegsanstrengungen zu einer Aufnahme der Abteilung bereit erklärt hat.

Auf Lockwood Manor angekommen wird sie vom Hausherrn, dem Major bzw. Lord Lockwood, seiner Tochter Lucy und deren Bediensteten auf unterschiedlichste Art empfangen. Dabei ist Lucy die einzige, die Hetty wirklich herzlich begegnet und froh um das mit ihr und den Exponaten assoziierte Leben in dem Anwesen zu sein scheint. Lucy und der Lord haben erst vor kurzer Zeit die Mutter/Ehefrau und Großmutter/Mutter bei einem Autounfall verloren, dessen genauen Umstände ungeklärt sind. Vor dem Unfall hatte Lucy tatkräftig Zukunftspläne abseits des Anwesens geschmiedet, die mit dem Unfall jäh gekappt wurden. Der Lord selbst scheint nicht wirklich um seine Frau zu trauern oder er hat mit dem Unterhalten diverser Geliebter eine interessante Kompensation gefunden.

Alle Exponate Hetty´s bekommen derweil den für sie vorgesehenen Platz im Hause und Hetty erfährt durch Lucy sogar Unterstützung in ihrer Arbeit im Museum auf Zeit. Zwischen den beiden Frauen entspinnt sich ein langsam stärker werdendes freundschaftliches Band, beginnend mit einer Führung durch Hetty durch die Sammlung. Ein beschwipster Pfefferminz-Likör-Abend tut dann sein Übriges. Die beiden jungen Frauen eint ihre Sehnsucht nach einer Vertrauten, ihr jeweils eher gestörtes Verhältnis zu ihrer Mutter, ihre Alpträume. Letztere begleiten Lucy neben nervösen Zuständen seit Jahren. Zudem hatte sie unter den Wahnvorstellungen ihrer Mutter und deren Konsequenzen zu leiden. Auch Hetty´s Schlaf auf dem Anwesen ist nicht wirklich erholsam und geprägt von intensiven, sie zunehmend verängstigenden Alpträumen. Zudem macht ihr Lord Lockwood ihren Aufenthalt und ihre Arbeit durch seine Art und seine Handlungen schwer. Hinzu kommen verschwindende oder beschädigte Exponate und Habseligkeiten und Spuren und verstörende Objekte in Hetty´s Zimmer, die nicht von ihr stammen. Auch die Tatsache, dass es auf Lockwood spuken soll, das Thematisieren einer hier ihr Unwesen treibenden „Weißen Frau“ und eines ominösen „Blauen Zimmers“ sollen den Gruselfaktor steigern.
Mit einem heftigen Nervenzusammenbruch Lucy´s liegt die Freundschaft der beiden Frauen jedoch erst einmal auf Eis. Eine Annäherung erfolgt nach einem weiteren unerklärlichen Schaden an einem der Exponate, der Hetty und Lucy zum Schutze der Tiere in deren unmittelbarer Nähe übernachten lässt. Und langsam (für mich zu langsam) wird aus den beiden mehr.

Die Handlung des Buches wird aus dem jeweiligen Blickwinkel der beiden Frauen - durch unterschiedliche Schriftart voneinander abgehoben – beschrieben. Das Buch ist dabei von Hingabe bestimmt. Hingabe in der Skizzierung der mitunter starken Verschrobenheit seiner Charaktere, die mir mit all ihren Eigenarten ans Herz wachsen. So hat Hetty z.B. die Berufskrankheit, die sie umgebenden Menschen mit Tieren zu vergleichen, was mir als Leserin das ein oder andere Schmunzeln entlockt. Hingabe zeigt sich im Buch aber auch in der bildhaften Sprache. Seine Qualitäten liegen darüber hinaus in der liebevollen Beschreibung der Beziehung zwischen Hetty und Lucy, dem Einblick in die Museumsarbeit und die Taxidermie sowie in die Langwierigkeit von Konservierungsarbeiten. Nicht zu vergessen sei die schöne Aufmachung seines Äußeren.

Diesen positiven Eigenschaften des Buches stehen jedoch wahre Berge von Schachtelsätzen gegenüber, durch die ich als Leserin wie durch die Gänge von Lockwood Manor irre und mitunter auch stolpere. Auch der recht unförmige Spannungsbogen macht es mir schwer, motiviert am Ball zu bleiben. Gruseln tue ich mich zudem auch nicht wirklich. Gen Ende nimmt der Handlungsverlauf noch einmal richtig an Fahrt auf, was er für mich aber auch gerne schon 100 Seiten zuvor hätte tun können. Der Ausgang des Buches ist für mich dann jedoch wohltuend unerwartet und entschädigt ein wenig.

Hetty ist eng mit ihren Exponaten und damit Schützlingen, die auf Lockwood Manor mit Handlungsverlauf nicht mehr sicher sind, verbunden. So wie Lucy eng mit dem Anwesen und ihrem einzigen Angehörigen, ihrem Vater, verflochten ist. Ob die Beziehung der beiden vor diesem Hintergrund und in dieser schwierigen gesellschaftlichen Zeit bestand hat, das müsstet ihr schon alleine herausfinden. Die stummen Wächter von Lockwood Manor werden euch dabei sicher nicht aus den Augen lassen.

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Veröffentlicht am 31.03.2020

Und es werde Licht!

Eine Farbe zwischen Liebe und Hass
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Dieses Buch stellt für mich immer wieder die Frage nach Disposition – und hier weniger biologischer, sondern eher soziologischer Art – in welches Land, welche Familie werde ich hineingeboren und wie beeinflusst ...

Dieses Buch stellt für mich immer wieder die Frage nach Disposition – und hier weniger biologischer, sondern eher soziologischer Art – in welches Land, welche Familie werde ich hineingeboren und wie beeinflusst diese meinen weiteren Lebensverlauf.

Im Mittelpunkt des Buches steht der siebzehnjährige Jessup, dessen Züge man zu Beginn langsam kennenlernt. Zunächst wird hierbei ein recht sadistisches Bild von ihm gemalt, erkenntlich an seinem Gefallen an der Brutalität seines Sports (Football - Freude auf die Hässlichkeit des Spiels) und an Schmerz. Neben diesen rauen Zügen zeigt er gleichwohl weiche Seiten, die insbesondere in seiner Beziehung zu seiner jüngeren Schwester Jewel und seiner Freundin Deanne hervortreten. Die Mitte zwischen beiden Polen bildet seine Sehnsucht nach Ruhe, die er bei der Jagd findet. Jessup ist generell eher schweigsam. Und er sehnt sich immer wieder nach Unsichtbarkeit, die ihm aufgrund seiner Statur und vielmehr durch die Geschichte seiner Familie vergönnt ist.

Das Buch liest sich nicht nur wie ein Porträt eines jungen Mannes, sondern auch wie eines einer Familie. Da ist Jessups Mom, Cindy, die aus jeder ihrer Beziehungen ein Kind hervorgebracht hat. In Jessups Alter wurde sie von ihren Eltern vor die Tür gesetzt - da ist sie bereits Mutter eines Sohnes. Es folgen Jessup, dessen Vater dem Alkohol verfallen ist und noch vor seiner Geburt verunglückt. Mit David John, dem dritten Partner seiner Mutter, enden ihre Doppelschichten, ihr Hang zum Alkohol und der Kühlschrank ist fortan stets gefüllt. Er behandelt Jessup und seinen älteren Bruder Ricky wie seine leiblichen Kinder. Mit ihm zieht auch die Kirche in die Familie ein. Das Leben aller wendet sich mit dem Totschlag zweier Schwarzer Studierender durch Ricky unter Beteiligung von David John. Als letzterer vier Jahre nach der Tat wieder freikommt, setzt der Verlauf der Geschehnisse in dem Buch ein. Dieser Tag ist es auch, der Jessups Leben abermals für immer nachhaltig verändern wird.

Jessup wünscht sich derweil ein Leben zurück, in dem er nicht bezweifelte, dass sein Stiefvater ein guter Mensch und seine Kirche die richtige ist. Wohin Jessup auch geht, die Geschehnisse um seinen Bruder und Stiefvater eilen ihm wie ein Stigma voraus. Sich dieses Umstands bewusst, arbeitet er umso härter – für seine Bildung und die damit verbundenen Chancen, für den Unterhalt seiner Familie während der Abstinenz seines Stiefvaters. Manches Mal möchte man ihn einfach aus der Situation nehmen und in eine unbeschwertere Gegenwart verpflanzen. So wie er sich selbst so weit es geht entfernt von seiner Heimat Cortaca wünscht und sich aus diesem Grund bei entlegenen Universitäten beworben hat.

Die Stärke des Buches besteht für mich in der Charakterisierung des Protagonisten. Sie ließ mich im nahe fühlen, ihm das Beste wünschen. Sein Leben und Handeln ist scheinbar voller Ambivalenzen: Angehöriger der Kirche des Weißen Amerikas und Freund einer Person of Color, liebender und zärtlicher großer Bruder und gleichwohl brutaler Football-Spieler. Auch sein Stiefvater David John ist von Widersprüchlichkeiten durchzogen. Immer mehr kommen Jessup Zweifel an der Vereinbarkeit von David Johns Verhalten, seinen Tattoos und seinem Glauben.

Trotz all der Ereignisse in diesem Werk ist es irgendwie ein stilles Buch und das macht für mich gerade seine Kraft aus. Es hat nichts Reißerisches, Wertendes, Fingerzeigendes. Vielmehr hat es einen zwischenmenschlichen Sog. Neben der Frage nach Menschlichkeit in unserem Tun, unserem Glauben, geht es um die Machenschaften im Lichte oder vielmehr unter dem Deckmantel von Religion, aber auch um Solidarität und das Thema Kapital – in finanzieller und kultureller Form.

Letztlich bleibt für mich die Frage, welche Farbe zwischen Liebe und Hass liegt. In jedem Fall hat sie eine helle Nuance und eine, die für mich stets mit der Erinnerung an dieses Buch verbunden sein wird.

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Veröffentlicht am 31.10.2019

Von Liebe, Unterhosen und einer wunderbaren Geschichte

Kissing Lessons
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Wenn man die beste Freundin am Telefon mit einem lauthalsen „Doch nicht mitten in der Sexszene!“ begrüßt, lässt das tief blicken. Und tief gehen auch die Berührungen und Worte zwischen den beiden Protagonisten ...

Wenn man die beste Freundin am Telefon mit einem lauthalsen „Doch nicht mitten in der Sexszene!“ begrüßt, lässt das tief blicken. Und tief gehen auch die Berührungen und Worte zwischen den beiden Protagonisten dieses Buches – Stella, einer Ökonometrikerin mit dem Asperger-Syndrom und Michael, einem Escort. Über allem schwebt die Hoffnung, dass es zwischen ihnen beiden mehr ist und wird als nur ein Escort-Deal. Denn so zumindest beginnt ihrer beider Geschichte.
Als Stellas Mutter ihre Bereitschaft für Enkelkinder signalisiert, nimmt - gepaart mit einem lapidaren Satz eines Arbeitskollegen - für Stella alles seinen Lauf. Übung in Sachen Sex braucht sie und die wird sie auch bekommen.
Die ersten Kapitel sind für mich das, was Stella noch auf ihren ausgetüftelten Plan für die Übung in Sachen Liebe setzen muss: ein Vorspiel und zwar ein sehr sehr schönes. Nie zuvor wurde für mich Küssen so beschrieben und Stella, die sich wider ihres eigenen Erwartens nach Liebe sehnt, förmlich nach ihr lechzt, findet daran Gefallen. Und nicht nur daran, sondern zunehmend auch an Michael, ihrem Escort, der ihr mit unheimlicher Einfühlsamkeit begegnet.
Und wenn die beste Freundin einen dann auch noch fragt, wie viele Seiten das Buch hat und man gar nicht gucken will, weil man sonst weiß, wann es zu Ende ist – ja spätestens dann weiß man, man hält ein richtig gutes Buch in den Händen. Derweil wird für Stella und Michael aus Übung in Sachen Sex letztlich Übung in Sachen Beziehung, soll Michael doch als ihr Übungsfreund fungieren. Mit allen Höhen und Tiefen, die eine Beziehung eben bedeuten kann. Was für Stella ihr Autismus ist, ist für Michael seine Vergangenheit oder vielmehr jene seines Vaters: Diese Punkte machen die beiden in ihren eigenen Augen nicht liebenswert.
Es geht ziemlich schnell zur Sache in diesem Buch. Dadurch, dass einem die zwei Protagonisten aber auf so menschliche Weise nahe gebracht werden und der Schreibstil von schonungsloser Ehrlichkeit geprägt ist, fällt es nicht schwer, sich auf den schnellen Fortgang des Buches einzulassen.
Kurzweiligkeit gepaart mit der Schonungslosigkeit so mancher Äußerungen und Gedanken Stellas machen das Buch amüsant und lassen einen gespannt weiterlesen. Der stete Perspektivwechsel der beiden Protagonisten beleuchtet nicht nur ihrer beider Lebenswelt, sondern auch jene ihrer Gefühle. Hierbei kommt auch die Eigen- und Fremdwahrnehmung von Autismus nicht zu kurz und lässt einen gut in diese Thematik eintauchen.
Bücher kommen ja bekanntlich zu einem, wenn man sie braucht. Und so ist es auch mit die-sem Buch. Es war für mich das erste Buch dieses Genres und hat die Latte sehr sehr hoch gelegt (und wer es dann gelesen hat, erkennt auch die Ironie in der Nutzung des letzten Substantivs...). In all der scheinbaren Planbarkeit von Leistung innerhalb von Escort-Services, zeigt dieses Buch letztlich die Unplanbarkeit von Liebe. Wer neben einer Antwort auf die Frage, ob Stella und Michael auch außerhalb des Übungsfeldes zueinander finden, wissen will, was Liebe mit Unterhosen zu tun hat, dem sei dieses Buch mehr als ans Herz gelegt!