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Veröffentlicht am 20.09.2023

Krieg, Zeitenwende, Gaslieferungen

Ernstfall
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Der journalistische Schnellschuss der tagesaktuellen Berichterstattung ist Stephan Lambys Sache nicht. Sein Buch "Ernstfall" befasst sich zwar mit einem sehr aktuellen Thema - das Krisenmanagement der ...

Der journalistische Schnellschuss der tagesaktuellen Berichterstattung ist Stephan Lambys Sache nicht. Sein Buch "Ernstfall" befasst sich zwar mit einem sehr aktuellen Thema - das Krisenmanagement der Ampel-Koalition angesichts des Ukraine-Kriegs und die Auswirkungen des Konflikts auf das eigentlich geplante Reformprogramm. Doch der Dokumentarfilmer legt mit seinem fast 400 Seiten umfassenden Buch den langen Wurf vor.

Das hat den Vorteil, dass er über Entwicklungen ganz anders reflektieren und sie über einen Zeitram von fast eineinhalb Jahren Beobachtungen einordnen und bewerten kann, als Journalisten, die für eine Tageszeitung von Tag zu Tag über Ereignisse bewerten und dabei natürlich keinen Blick in irgendeine Kristallkugel werfen können - so manche Bewertung eines Tages würde einige Monate später wegen des weiteren Verlaufs womöglich anders ausfallen. Für Lamby scheint es mitunter den Vorteil zu haben, eher mal ein Interview gewährt zu bekommen, in dem es dann um eine längere Perspektive geht als die ein Zitat des Tage benötigenden Kollegen.

Ausgesprochen detailreich, analytisch und nah dran an den Protagonisten im Zentrum der Macht beschreibt Lamby nicht nur das Vorgehen der Koalition von Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts der Herausforderungen, die Zerreißproben, Eitelkeiten und Machtspiele, ungeliebte Kompromisse und Entscheidungen, die alles auf die Probe stellen, wofür manche Politiker einmal standen - etwa wenn es um Rüstungslieferungen oder längere Laufzeiten von Atomkraftwerken geht.

Informativ ist das allemal. Allerdings kann Lamby der Versuchung nicht widerstehen, die Gedankengänge und inneren Monologe, die Szenen von Ereignissen zu schildern, bei denen er schwerlich dabei gewesen sein dürfte - etwa, wenn ein Emmanuel Macron mit seinen Beratern scherzt oder Scholz Putin ins Gewissen redet. Das ist dann doch mehr schriftstellerische Freiheit als journalistische Recherche, möchte ich annehmen. Und auch das Nachdenken darüber, was denn wohl die Dorfbewohner unten am Boden denken, wenn sie hoch über sich am Himmel von Mali die Lichter der Berliner Regierungsmaschine sehen - nein, das ist dann doch ein bißchen zu viel eurozentrische Selbstverliebtheit.

Lamby versteht es zudem, die Berichte von Kanzler- oder Ministerreisen zu Gipfeln und Krisentreffen so darzustellen, als habe er dort exklusive Einblicke erhalten und habe nicht gemeinsam mit dem üblichen Medientross im üblichen Hintergrundgespräch gesessen zu haben. Das wirkt dann leider ein bißchen zu sehr nach Selbstvermarktung und Ego-Show und ist eigentlich ziemlich überflüssig.

In der aktuellen Berichterstattung, und gerade angesichts komplexer Umstände, gibt es ein beliebtes journalistisches Format - "was wir wissen - was wir (noch) nicht wissen". Dank der langen Vorbereitung und zeitlichen Dauer weiß Lamby deutlich mehr, hat er doch die Möglichkeit des Rückblicks. Ein Dokumentarfilmer kann mehr zeigen als ein Journalist, der sofort die News des Tages liefern muss. Insofern bringt "Ernstfall" auch manches in Erinnerung, dass Leser angesichts der ständig neuen Entwicklungen vielleicht schon wieder halb vergessen haben. Für politisch Interessierte ist es auf jeden Fall ein guter Einblick ins Innere der Berliner Republik. Interessant fand ich seine Überlegungen, wie die Generationszugehörigkeit der Regierungsmitglieder auch Entscheidungen und Haltungen beeinflusst - hier die einen, die den Kalten Krieg, das Wettrüsten und die Friedensbewegung bewusst erlebt haben, dort diejenigen, für die das alles schon sehr lange her ist.

Veröffentlicht am 24.08.2023

Die Slow Horses im walisischen Schneegestöber

Joe Country
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Disclaimer: Ich war vermutlich voreingenommen, als ich "Joe Country" von Mick Herron las. Denn ich fand bereits die Vorgängerromane großartig, habe den Autor als intelligent, spannend und mit diesem sehr ...

Disclaimer: Ich war vermutlich voreingenommen, als ich "Joe Country" von Mick Herron las. Denn ich fand bereits die Vorgängerromane großartig, habe den Autor als intelligent, spannend und mit diesem sehr britisch-selbstironischen schwarzen Humor erlebt - da gehe ich von vornherein mit großem Wohlwollen an jedes neue Buch des Autors heran. Wobei er dadurch ja auch hohe Erwartungen zu erfüllen hat. Und gleich vorrneweg, ich bin auch diesmal nicht enttäuscht worden.

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings, Herron hat die Angewohnheit, sich seiner Figuren öfter mal gewaltsam zu entledigen. Als Leser ist man daher gut beraten, keine der Figuren zu sehr ins Herz zu schließen, auch wenn die Spionage-Pechvögel aus dem Slough House dazu einladen können.

Die ungeliebten Versager des MI5 haben diesmal nicht nur mit den Ätz-Kommentaren ihres Chefs Jackson Lamb zurechtzukommen, sondern auch mit einer Rettungsmission, die sie ins tiefste Schneegestöber in Wales führt. Dabei spielen auch die privaten Abgründe und Schicksalsschläge eine Rolle: River Cartwrights ungeliebter Vater, der ungeplant und uneingeladen auf einer Beerdigung auftaucht, sorgt wie schon im Vorgängerband für allerlei gewaltsame Konflikte, doch vor alles ist es Louisa Gray, die zu einem Alleingang in die Kälte aufbricht, als der Sohn ihre toten Geliebten und Ex-Kollegen verschwindet.

Der Teenager, so stellt sich nach und nach heraus, ist auf zufällig auf brisante Informationen gestoßen - und hat sich mit einem plumpen Erpressungsversuch in Lebensgefahr gebracht. Louisas Rettungsmission läuft aus dem Ruder, als sie feststellen muss, dass sie es mit zu allem entschlossenen Gegnern zu tun hat. Werden die übrigen Mitglieder des disfunktionalen Teams rechtzeitig als Verstärkung hinzukommen, oder werden sie sich vorher gegenseitig zerfleischen? Und für welche zusätzlichen Komplikationen sorgt die Dauerfehde zwischen Lamb und der nunmehr zur MI5-Chefin aufgestiegenen Diana Taverner?

Herron wäre nicht Herron, wenn nicht auch dieser Roman mit ein paar Anspielungen gewürzt wäre, die durchaus Erinnerungen an tatsächliche Skandale im Königreich wachrufen. Dabei verbindet er einmal mehr einen gekonnten Spannungsaufbau mit bildhafter Sprache a la Raymond Chandler und einem recht boshaften Humor. Hier trifft intelligente Spannung wie einst bei John le Carré auf schrage Figuren, die auch in Douglas Adams Weltraumabenteuern nicht wesenfremd gewirkt hätten. Das ist einfach nur großartig, und es bleibt zu hoffen, dass Herron nicht zu lange zögert, bis er seine Slow Horses wieder ins Rennen schickt.

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Veröffentlicht am 23.08.2023

Ein Mädchen sucht seinen Vater

Paradise Garden
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Mit "Paradise Garden" hat Elena Fischer ein Buch geschrieben, das buchstäblich eine Wucht ist - und Billie, die 14-jährige Protagonistin, erinnert mich an einen weiblichen Huckleberry Finn des 21. Jahrhunderts, ...

Mit "Paradise Garden" hat Elena Fischer ein Buch geschrieben, das buchstäblich eine Wucht ist - und Billie, die 14-jährige Protagonistin, erinnert mich an einen weiblichen Huckleberry Finn des 21. Jahrhunderts, unterwegs nicht auf einem Floß auf dem Missisippi, sondern im Auto ihrer plötzlich verstorbenen Mutter unterwegs an die Nordsee, auf der Suche nach dem unbekannten Vater. Es ist eine ganz besondere und anrührende Coming of Age-Geschichte dieses Mädchens, das Zartheit und Schnoddrigkeit verbindet, das unsentimental ein Leben im Prekariat und den Zusammenhalt mit anderen Abgeängten in einem Wohnblock kurz vor der Autobahn. Das Klauen hat sie ausgerechnet von der borgeouisen Freundin gelernt, Billies Mutter wäre entsetzt gewesen, aber auf ihrem Weg erweist sich das Gelernte dann doch als ganz praktisch.

Auch Mutter-Tochter Konflikte und zerstörte Träume sind Themen dieses Buches, das aus der Perspektive Billies geschrieben wird. Dabei trifft die Autorin den richtigen Ton, wenn Billie lakonisch und ohne auf die Tränendrüse zu drücken von einem Leben berichtet, dass bis zum Tod der Mutter auch durchaus als schön empfunden wird. Es ist ein bißchen Billie und Marika gegen den Rest der Welt. Die alleinerziehende Marika, die aus Ungarn stammt und von einer Laufbahn als Tänzerin träumte, bringt sich und ihre Tochter mit zwei Jobs durch - als Putzfrau und als Kellnerin in einer Bar. Das Geld reicht trotzdem kaum, aber manchmal leisten sie sich trotzig Extravaganzen wie den größten Eisbecher im Eiscafé. Der Traum von einer gemeinsamen Urlaubsreise am Meer dagegen soll unerfüllbar bleiben.

Als Billie ihr Zimmer räumen muss, weil die Oma aus Ungarn für eine medizinische Behandlung in Deutschland zu Besuch kommt, ist das nur der Beginn ihrer Probleme. Denn die Oma ist ganz anders als ihre Mutter - und das Verhältnis von Spannungen geprägt. Der Tod der Mutter ist nicht nur ein traumatisches Erlebnis, er ist auch der Auslöser für Billies Road Trip ins Ungewisse, der zu überraschenden Erkenntnissen auch über die Mutter führen wird.

Das Buch lebt von seiner Hauptfigur und ihrem ehrlichen und unverstellten Blick, ihrem pragmatischen Umgang mit Widrigkeiten. Es gibt traurige, lustige, rührende Momente in diesem Buch, an dessen Ende nicht nur Billie wichtige Einsichten gewinnt.

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Veröffentlicht am 23.08.2023

Boston Noir

Sekunden der Gnade
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Dunkel, sehr dunkel ist Dennis Lehanes Roman "Sekunden der Gnade" - und das hat nicht nur mit dem hässlichen Problem Rassismus zu tun, der in diesem Boston Noir eine Rolle spielt. Ein wenig verarbeitete ...

Dunkel, sehr dunkel ist Dennis Lehanes Roman "Sekunden der Gnade" - und das hat nicht nur mit dem hässlichen Problem Rassismus zu tun, der in diesem Boston Noir eine Rolle spielt. Ein wenig verarbeitete Lehane dem Vorwort zufolge auch eigene Schreckenserfahrungen seiner Kindheit, als er unversehens Hass und Gewaltbereitschaft in den Protesten gegen die Aufhebung der Rassensegregation an Schulen in Boston erlebte.

Der Streit um die Pläne, schwarze Kinder künftig in Bussen an Schulen in weiße Wohnviertel zu bringen und umgekehrt, ist auch in dem Roman der Hintergrund des Konfliktes, der immer gewalttätiger zu werden droht. Auch Mary Pat Fennessy ist wütend, dass ihre Tochter Jules künftig auf eine Schule im schwarzen Nachbarviertel gehen soll, ist bereit zu protestieren. Und dem Organisator der Proteste erteilt man ohnehin keine Absage. Offiziell geht es vielleicht um die Verteidigung irischer Identität, aber eigentlich um organisierte Kriminalität.

Wenn Mary Pat und ihre Tochter am Frühstückstisch über die Menschen im Nachbarviertel reden, ist das aus heutiger Perspektive harter Tobak. N-Wort, rassistische Schmähungen, nein, da wird erst mal gar keine Sympathie geweckt. Dabei sieht Mary Pat, in Armut aufgewachsen und ihr Leben lang eine Kämpferin, ganz klar: Abgesehen von der Hautfarbe sind die Unterschiede gar nicht so groß. Die Busse fahren zwischen sozial benachteiligten Stadtteilen, die Wohnviertel der Mittelklasse oder gar der Reichen sind von dem Projekt ausgenommen. So sind es die Benachteiligten, Abgehängten, die eine Art Stellvertreterkonflikt austragen.

Es könnte ein politischer Roman um Rassismus und soziale Ausgrenzung werden, doch dann kommt ein neuer Twist dazu: Jules kommt von einem Abend mit Freunden nicht nach Hause. Irgendwann wird Mary Pat unruhig, fängt an, überall nach ihrer Tochter zu suchen. Sie stößt auf Lügen und Halbwahrheiten, muss mühsam auf die Spur der Geheimnisse kommen, die ihre Tochter vor ihr hatte, wie ihr nun klar wird. Dabei ist Mary Pat nicht zimperlich. Sie kann einstecken, aber sie kann auch austeilen und stürzt sich nun voller Vehemenz auf jeden, der ihr die Antwort schuldig bleiben will.

Doch je mehr Mary Pat herausfindet, desto größer wird ihre Angst, dass die Suche kein gutes Ende nimmt. Noch uruhiger wird sie, als die Polizei ebenfalls auf der Suche nach Jules ist. Es geht um den Tod eines jungen Schwarzen in einer U-Bahn-Station. War Jules Zeugin, war sie beteiligt, hängt ihr Verschwinden mit dem Fall zusammen?

Früh wird beim Lesen klar; Das ist kein Friede, Freude, happy end Roman, kann es nicht sein. Während Mary Pat sich auf einen einsamen Rachefeldzug macht, um ihrer Tochter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wird sie zunehmend zur tragischen Heldin, die sich in einen Strudel von Gewalt verstrickt. Brachiale Gewaltszenen gibt es in diesem Buch ebenso wie Momente, in denen der Riss, der plötzlich durch die Gesellschaft und durch für geradezu freundschaftlich geglaubte Beziehungen geht, eindrucksvoll und eindringlich aufgezeigt wird. Da ist das Romanende nur konsequent. Dieser Roman ist harter Tobak, lohnt sich aber.

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Veröffentlicht am 18.08.2023

Yoga mit Body Positivity

Every Body Yoga
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Schon beim Blick auf das Titel von Every Body Yoga von Jessamyn Stanley wird klar, dass es nicht nbedingt um anfängertaugliche Asanas für jedermann geht. Denn die Frau, die sich da in Dreiecksposition ...

Schon beim Blick auf das Titel von Every Body Yoga von Jessamyn Stanley wird klar, dass es nicht nbedingt um anfängertaugliche Asanas für jedermann geht. Denn die Frau, die sich da in Dreiecksposition durchstreckt entspricht so gar nicht den Frauen, die die Titelbilder von yogazeitschriften schmücken oder als Fitness-Influencerinnen auf ihren Youtube Kanälen den Sonnengruß üben. Sprich: Hier steht keine ätherische Blondine in Pastell, sondern eine schwarze Frau, die politisch korrekt als plus size curvy beschrieben wird, selbst aber kein Blatt vor den Mund nimmt und sagt: ich bin fett.

Schon mit ihrem schnoddrigen Stil, ihrer gnadenlosen Ehrlichkeit und klaren Ansprache ist die Autorin sympathisch. Und es ist großartig, dass sie den elephant in the room, oder eher im Yogastudio anspricht: Es ist nun mal nicht jede*r eine ätherische Blondine. Oder hat einen präpubertären Körper mit kaum vorhandenen Hüften. Nichte jede, die sich zum herabschauenden Hund beugt, blickt auf einen brettflachen Bauch. Und auch das Yogatraining verwandelt nicht unbedingt in eine Frau mit Tänzerinnenfigur, siehe Jessamyn. Tut trotzdem gut und sollte Spaß machen - aber bitte ohne kritische Seitenblicke und hämische Bemerkungen über die Dicken im Fitnessstudio!

Jessamyn Stanley hat ihr Buch für diejenigen geschrieben, die nicht weiß oder jung oder mit perfekter Figur gesegnet sind. Ihr Appell für mehr Body-Positivity ist auch eine Beschreibung des eigenen Lernwegs vom dicken kleinen Mädchen, das so gerne eine Cheerleaderin mit Ballerina-Figur gewesen wäre. Der Weg zur selbstbewussten Power-Frau war harte Arbeit, das wird beim Lesen deutlich.

Um Yoga geht es natürlich auch, wobei die Autorin sowohl verschiedene Yogaarten vorstellt als auch mit Abbildungen der Abläufe verschiedene Yoga-Flows etwa für Gelassenheit, für innere Stärke oder fürs Gleichgewicht vorstellt. Wer noch nie Yoga gemacht hat, dürfte auch angesichts der wenig elfenhaften Modelle Mut fassen, es einmal auszuprobieren. Und wer Yoga bereits kennt und selbst auch keine Size Zero Typ ist, kann nur sagen: danke, Jessamyn!