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Veröffentlicht am 13.04.2022

Für immer lesen.

Ich lese!
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Lesen ist ein großartiges Hobby. Bei Sonne und Regen. Zuhause und im Park. Morgens und abends. Und das schon das ganze Leben. Schön, wenn so ein Hobby weitergegeben werden kann. Und noch schöner, wenn ...

Lesen ist ein großartiges Hobby. Bei Sonne und Regen. Zuhause und im Park. Morgens und abends. Und das schon das ganze Leben. Schön, wenn so ein Hobby weitergegeben werden kann. Und noch schöner, wenn es auf so wundervolle Weise illustriert wird, wie in Attilio Cassinellis „Ich lese“.

Auf strahlend weißen Seiten lesen knallbunte Tiere. Eine Katze bei Mondschein im Bett. Ein Hase auf Urlaub im Meer. Ein Eichhörnchen ganz ungestört im Baum. Aber auch zusammen, laut und vorlesen ist auf den insgesamt 56 Doppelseiten zu sehen und zu, ja, lesen.

Die kurzen Sätze sind hier zwar nur Beschreibungen der Bilder, die keine Geschichte erzählen, aber dafür gleich die vielen Bedeutungen und Arten des Lesens nennen und so den Wortschatz der sehr jungen Zielgruppe erweitern.

Das Buch ist offiziell ohne Altersempfehlung, quasi ab 0 Jahren, und vermutlich am besten für Kinder zwischen anderthalb und zweieinhalb Jahren geeignet, wenn es um das reine Vorlesen geht. Die Illustrationen dagegen regen auch ältere Kinder an, selbst zu malen oder sich kleine Geschichten zu überlegen, was genau die Tierchen dort lesen und machen.

Ein Kompliment geht auch an den Insel-Verlag: Das Buch hat eine sehr angenehme Haptik, die Seiten sind in der richtigen Stärke und die Druckqualität ist im Vergleich zu vielen anderen Kinderbüchern sehr hoch. Das macht „Ich lese“ zu einem Buch, das nicht nur Spaß macht, zu lesen und anzusehen, sondern auch zu einem tollen Geschenk für junge Familien, die eines besonders gerne tun: für immer lesen.

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Veröffentlicht am 11.04.2022

Zum Unwohl. Die Pfalz.

Gretas Erbe
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Eine Geschichte über die Pfalz, das sonnengeküsste Land in Deutschlands Südwesten, Heimat des wundervollsten Fußballvereins der Welt. Eine Geschichte über eine junge Frau, die Teil der noch jungen feministischen ...

Eine Geschichte über die Pfalz, das sonnengeküsste Land in Deutschlands Südwesten, Heimat des wundervollsten Fußballvereins der Welt. Eine Geschichte über eine junge Frau, die Teil der noch jungen feministischen Bewegung wird, gegen den Willen ihrer Ziehfamilie, gegen den Mief der frühen 1970er-Jahre. Und natürlich eine Geschichte über den Weinbau, das Leben als Winzer:in in einer der besten Weinregionen dieser Welt. Es hätte so schön sein können. Hätte.

„Gretas Erbe“, der Auftakt der „Die Winzerin“-Trilogie von Nora Engel ist ein unfassbar ärgerliches Buch. Es ist eine papiergewordene Telenovela, eine Schmonzette sondergleichen. Als hätten ein Saarländer und ein Mannheimer beschlossen, der Pfalz den literarischen Todesstoß zu geben. Und das Schlimmste: Es ist von den Autorinnen – Nora Engel ist das Pseudonym von Danela Pietrek und Tania Krätschmar – nicht einmal beabsichtigt.

Fast alle Figuren außer Greta sind tumb bis unsympathisch angelegt, um den großen Unterschied zur Hauptfigur zu schaffen. Ihr „Bruder“ Robert, die unvermeidliche Love Interest, ist eine Blaupause des Helden in Teenie-Romanzen und Groschenromanen. Lediglich ihre Lehrerin, die nur eine kleine, aber nicht unbedeutende Rolle spielt, sowie die von ihrer Ziehfamilie verhassten Winzernachbarn bestärken Greta in ihren Schritten, bleiben dabei aber völlig blass und unausgegoren.

Eine völlig vorhersehbare Geschichte wird auf 400 - immerhin relativ flüssig zu lesende - Seiten ausgerollt, es gibt keinerlei Überraschungen, nicht einmal am Ende, das lediglich Leute zu einem leisen „Huch!“ hinreißen lässt, die im Leben nicht mehr als vier Bücher gelesen haben und „Rote Rosen“ für eine authentische, geistreiche TV-Serie halten. Die Dialoge sind platt und unglaubwürdig, Greta werden Sätze in Kopf und Mund gelegt, die eine junge Frau zwischen 16 und 19 niemals sagen und denken würde, auch nicht in den frühen 1970er-Jahren.

Zwei, drei Zeilen in Mundart, ein bisschen Weinfest-Folklore, ein abgeschriebenes Weinbau-101-Glossar machen noch keinen Heimatroman über die Weinregion Pfalz, ein paar Zeitgeist-Referenzen über Alice Schwarzer, Schwangerschaftsabbrüche und Bildungsaufbruch noch keine Reise in den frühen deutschen Feminismus. Alles ist total bemüht, konstruiert, platt – und in erster Linie: verdammt schade.

Die Autorinnen verschenken hier völlig das Potenzial für eine spannende, interessante Geschichte über das Erwachsenwerden, über das Ende des Patriacharts, über die Modernisierung der Gesellschaft im ländlichen Raum. Dass diese Geschichte über zwei weitere Bücher gestreckt wird, weckt gleichzeitig Hoffnung und Unbehagen. Hoffnung, dass es irgendwie doch noch besser wird. Unbehagen, dass „Die Winzerin“ am Ende wirklich als platte Telenovela verfilmt wird und die Pfalz nicht als die freundliche, weinverrückte Region dargestellt wird, die sie ist, sondern als das dümmlich-rückständige Klischee, das viele von ihr haben. Zum Unwohl. Die Pfalz.

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Veröffentlicht am 07.04.2022

Entspannte Landfrische

Leo und Dora
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Wie wohltuend ein Buch sein kann, in dem gar nicht mal so viel passieren sein, während Krieg und Pandemie die Welt da draußen fest im Griff haben. Dabei ist „Leo und Dora“ zeitlich gar nicht mal so unpassend ...

Wie wohltuend ein Buch sein kann, in dem gar nicht mal so viel passieren sein, während Krieg und Pandemie die Welt da draußen fest im Griff haben. Dabei ist „Leo und Dora“ zeitlich gar nicht mal so unpassend eingeordnet.

Es ist das Jahr 1948. Der Zweite Weltkrieg ist rum, aber in Palästina ist es immer noch unruhig. Einer der Gründe, warum Leo auf dem Weg in die USA ist, auf Einladung seiner alten Freunde Alma und Hugo, in deren Sommerhaus in Connecticut er endlich sein neues Buch schreiben will. Oder soll.

Seit Jahren hat er nichts veröffentlich, der Krieg kam dazwischen, der Geschmack der Leser:innen änderte sich und überhaupt ist Leo innerlich ausgebrannt. Ähnlich wie Almas und Hugos Haus, als Leo endlich ankommt. Stattdessen wird er in ein kleines Provinzhotel einquartiert, zwischen Frauen und Kindern, deren Männer unter der Woche in New York arbeiten, an den Esstisch gesetzt, wo die schwäbische Köchin Frau Kniffel für Leo ungenießbare Speisen auftischt. Und das Miss Dora gehört – die für dem knorrig-knurrigen Leo nach und nach das Gefühl gibt, doch am richtigen Ort gelandet zu sein.

Agnes Krups Geschichte ist wenig überraschend, aber sie ist charmant und humorvoll, voller Anekdoten über die Literaturgeschichte und Eigenheiten der Bewohner an der Grenze zwischen New York und Connecticut, der Region, in der sie selbst lebt, wenn auch Jahrzehnte später. Ihre Figuren erinnern an die liebenswerte Schrulligkeit der Bewohner von Stars Hollow in Gilmore Girls und ähnlich undramatisch geht es in ihrem Buch auch vor.

Der Krieg ist vorbei, Menschen sind gestorben, ein Kind wurde mindestens ohne Einverständnis gezeugt, aber über allem liegt der Schleier der Vergangenheit, eine Mischung aus Verklärung und Akzeptanz. Einzig ein Dammbruch sorgt für eine kurze Aufregung, aber Schaden nehmen auch hier nur die Segelboote. Und die Pläne von Leo, so schnell wie möglich, zurück nach Tel Aviv zu kehren, aber dafür gibt es einzig und allein einen Grund: Dora.

Eine süße, unaufgeregte Liebesgeschichte zweier gar nicht mehr so junger Menschen in den Irrungen und Wirrungen ihrer Zeit ist vielleicht genau das richtige für diese Monate, bis vielleicht selbst einmal Koffer zur Landfrische gepackt werden, in der Eifel, in den Bergen oder doch in Sharon, Connecticut.

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Veröffentlicht am 28.03.2022

Zwiebelbook

Für diesen Sommer
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Wie viele Geschichten passen eigentlich in ein Leben? Oder zumindest in ein Buch von rund 450 Seiten? In Gisa Klönnes „Für diesen Sommer“ sind es viele: Vater-Tochter-Entfremdung, Geschwisterstreit, Weltkriegsdrama, ...

Wie viele Geschichten passen eigentlich in ein Leben? Oder zumindest in ein Buch von rund 450 Seiten? In Gisa Klönnes „Für diesen Sommer“ sind es viele: Vater-Tochter-Entfremdung, Geschwisterstreit, Weltkriegsdrama, Umweltbewegung, Kindstod, Depressionen, Suizid, ein bisschen natürlich auch die Liebe. Und zwischen den Zeilen sicher noch ein paar mehr.

Zissy steht vor der Tür ihres Elternhauses, das sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr betreten hat. Ihr Vater und ihre Schwester Monika legten keinen Wert darauf, nachdem sie wenige Stunden zu spät im Krankenhaus eingetroffen war, um sich noch verabschieden zu können, eigentlich eh schon längst nicht mehr da war, aus vielen Gründen, die sie aber eigentlich auch gar nicht so sehr interessieren. Aber jetzt wird sie gebraucht.

Ihr Vater kann den Alltag nicht mehr gut alleine absolvieren, hat die von Monika geplante Kur abgesagt, verweigert den Umbau des Hauses in ein altersgerechtes Domizil, sitzt lieber zuhause und zeichnet Ameisenbären. Zu viel für Monika, die mit Burnout in eine Klinik muss, nachdem ihr Mann Zissy um Hilfe gebeten hat. Eine Klinik, mit der Zissy und „Moka“ mehr verbindet, als sie ahnen.

Gisa Klönne schreibt mal aus der Sicht von Zissy, mal aus der Gedankenwelt des Vaters. Springt immer wieder zwischen dem Zweiten Weltkrieg und heute, der frühen Kindheit der Töchter bis zur Jugendbewegung der 80er-Jahre. Für die Leser:innen ein bisschen fordernd, aber der Geschichte der Familie durchaus angemessen, die Konzentration darf sich nicht einmal einen kurzen Moment ausruhen, ansonsten droht mindestens eine hochgradige Verwirrung und nervöses Zurückblättern.

„Für diesen Sommer“ ist ein langsames, ein leises, ein melancholisches, stellenweise etwas zu pathetisches, aber auch immer wieder hoffnungsvolles Buch. Ein Gespräch mit der Nachbarin, ein Ausflug zum See, ein kurzer Spaziergang ohne Rollstuhl lassen die Entfremdung schwinden, das Geschwisterverhältnis versöhnlicher werden.

Ein Buch, eine Familiengeschichte wie eine Zwiebel, unglaublich vielschichtig, kaum ein Auge trocken lassend, mit wunderlichen und liebevollen, aber auch tieftraurigen Episoden, das keine Generation auslässt – und so vielleicht Leser:innen dazu bewegt, sich nach jahrzehntelangem Stillstand zu bewegen, mit der eigenen Familie auszusprechen und zu versöhnen.

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Veröffentlicht am 14.03.2022

Safe spaces

Unser wirkliches Leben
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"Die Musik fühlte sich für mich wie ein alter Pulli an, der bequem saß, an den richtigen Stellen ausgeleiert war."

Ein schönes Bild. Das eine Lied, der eine Hoodie, beide ein safe space in den eigenen ...

"Die Musik fühlte sich für mich wie ein alter Pulli an, der bequem saß, an den richtigen Stellen ausgeleiert war."

Ein schönes Bild. Das eine Lied, der eine Hoodie, beide ein safe space in den eigenen vier Wänden, wenn das Leben, die Welt wieder einmal unbarmherzig auf einen hinein prasselt, wie ein Hagelschauer im März – den Frühling im Blick und doch noch einmal verwehrt.

Wie passend, dass „Unser wirkliches Leben“ weit entfernt vom Frühling im Londoner Herbst beginnt. Und auch emotional steht Anna vor einem Winter. Sie studiert Operngesang, irgendwie reingerutscht zwischen lauter Student:innen, die seit Jahren nichts anderes machen, im Gegensatz zu ihr, der unerfahrenen Erstsemesterin, die nur bei lokalen Aufführungen gesungen und sich auf gut Glück und ohne ernsthafte Hoffnung beworben hatte, bevor sie tatsächlich genommen wurde.

Um über die Runden zu kommen, lebt sie mit ihrer neuen besten Freundin Laurie zur günstigen Untermiete bei einem völlig verrückten, dominanten Ehepaar, das irre Regeln aufstellt, bevor sie die beiden zu Neujahr vor die Tür setzt. Und singt sie Jazz in einer Hotelbar, in der Laurie arbeitet und in der sie von Max angesprochen wird. Max, der Annas Winter beherrschen will.

Sie trifft sich mit ihm zum Abendessen, dann noch mal, irgendwann wird eine Affäre daraus, mit ihm, den noch verheirateten Bänker, der sich immer mal wieder meldet. Und immer wieder Annas Handeln kommentiert, mal subtil, mal mit der Brechstange. Der sie überredet, das Jazzsingen aufzugeben und ihr stattdessen das Geld gibt, das ihr so durch die Lappen geht. Ihr eine neue Wohnung besorgt. Und in ihr Zweifel sät, ob die Zukunft in der Opernwelt das richtige für Anna ist.

Imogen Crimp ist ein latent perfider Gesellschaftsroman gelungen, der nie ganz klar macht, welche Rollen in dieser Londoner Bank- und Opernwelt aufgeführt werden. Ist es eine toxische Beziehung, in der Max Anna immer mehr seinen Stempel aufdrückt, sie aus ihrem geschätzten Umfeld zieht, ihre Freunde für deren Lebensstil kritisiert und sich manchmal für Tage oder Wochen zurückzieht – zu seiner Frau aufs Land oder in andere Betten Englands? Oder ist das nur der von Laurie eingeflüsterte Eindruck, der sich in Anna mehr und mehr verhärtet und genau dann wieder aufweicht, wenn Max beim nächsten Treffen so ganz anders agiert und reagiert wie zuletzt.

Ist es die Stärke oder die Schwäche von „Unser wirkliches Leben“, dass dieses Spannungsfeld nie richtig aufgelöst wird? Diese Entscheidung, müssen die Leser:innen entscheiden. Am schönsten aber ist Crimps Debütroman, wenn Anna alleine ist. Auf der Bühne. An der Uni. Beim Opern-Workshop in Frankreich. Da fühlt sich auch dieses Buch wie der zitierte ausgeleierte Pulli an – gemütlich, freundlich, wie ein Zuhause. Ein echter safe space eben.

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