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Veröffentlicht am 03.03.2018

Unterhaltsame, ziemlich abgedrehte Familiengeschichte

Die erstaunliche Familie Telemachus
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INHALT
In den 1970ger Jahren war die „Erstaunliche Familie Telemachus“ im Fernsehen bei Talk und Late Night Shows mit ihren aufsehenerregenden, übernatürlichen Auftritten sehr gefragt. Nachdem bei einer ...

INHALT
In den 1970ger Jahren war die „Erstaunliche Familie Telemachus“ im Fernsehen bei Talk und Late Night Shows mit ihren aufsehenerregenden, übernatürlichen Auftritten sehr gefragt. Nachdem bei einer ihrer Darbietungen in der Mike Douglas-Show einiges schief gelaufen war und sie von ihrem Erzfeind vor laufender Kamera als Trickbetrüger entlarvt wurden, ging es mit ihrem Ruhm und ihrem Glück schlagartig bergab. Ihr mediales Debakel war ein einschneidendes Erlebnis für alle, aber nach dem plötzlichen Tod von Maureen haben sich sie mehr schlecht als recht durchs Leben geschlagen.
Matty, Enkel des großen Familienpatriarchs Teddy Telemachus, ist eigentlich ein ganz normaler vierzehnjähriger Junge mitten in der Pubertät, bis er die Entdeckung macht, dass er plötzlich recht ungewöhnliche Fähigkeiten besitzt. Voller Neugier beginnt er, mehr über die ihm völlig verheimlichte Vergangenheit seiner einst berühmten Familie in Erfahrung zu bringen. Besitzt seine so gewöhnliche Familie etwa doch wesentlich mehr Talente als er bisher für möglich gehalten hat. Könnte er diese vielleicht sogar geerbt haben?
MEINE MEINUNG
„Die erstaunliche Familie Telemachus“ des amerikanischen Autors Daryl Gregory ist ein komplex angelegter, etwas skurriler und unglaublich unterhaltsamer Roman. Mit seinen paranormalen Elementen, irrwitzigen Verwicklungen und skurrilen Figuren wird er allerdings nicht jedermanns Geschmack treffen.
In dieser wundervoll witzig geschriebenen, teilweise ziemlich abgedrehten Familiensaga geht es um die sehr außergewöhnliche Familie Telemachus, die alles andere als eine Vorzeigefamilie ist, sondern eher eine Ansammlung von sehr exzentrischen Charakteren und gescheiterten Existenzen.
Geschickt beginnt der Autor seine recht komplizierte, detailreiche Geschichte mit Einblicken in das eher tragische und bizarre Leben der Familie. Der Einstieg in die Geschichte ist jedoch nicht einfach, denn Gregorys Erzählweise wirkt trotz der Untergliederung in Kapitel zunächst chaotisch und scheint eher eine Auflistung von unzusammenhängenden Geschehnissen zu sein. Erzählt wird die im Jahr 1995 angesiedelte Haupthandlung abwechselnd aus der Sichtweise der verschiedenen Familienmitglieder. Zudem erfolgen immer wieder Zeitsprünge mit Rückblenden auf wichtige Ereignisse aus der Vergangenheit. Die ständigen Perspektivwechsel, in denen immer neue Aspekte kurz beleuchtet werden, Fragen aufwerfen und aber dann längere Zeit nicht mehr aufgegriffen werden, unterbrechen zunächst immer wieder den Lesefluss. Die eingestreuten Andeutungen auf zukünftige dramatische und sehr unheilvolle Verwicklungen machen sehr neugierig auf den Fortgang der mysteriösen Geschichte. Das Auftauchen eines Agenten einer geheimen Regierungsorganisation und anderer vermeintlicher Widersacher sowie alte Kontakte zum Chicagoer Mob steigern ungemein die Spannung. Erst allmählich beginnt man die Zusammenhänge zwischen den vielen kleinen Puzzlestücken zu erkennen und lässt die geniale Konzeption dahinter erkennen. Zum Höhepunkt hin ergibt sich aus den vielen Details ein äußerst facettenreiches, aber stimmiges Gesamtbild. Gregory ist es gelungen, auf den verschiedenen Erzählebenen eine unglaublich abwechslungsreiche und grandios geplottete Gesamtstory zu schaffen. Sehr kunstvoll hat er ein feines Netz um seine Charaktere gesponnen und sie in die vielschichtige, wendungsreiche Handlung eingewoben.
Sehr gelungen sind dem Autor auch seine sehr unterschiedlichen Charaktere, die er äußerst facettenreich und lebendig ausgearbeitet hat. Im Laufe der Geschichte lernen wir die Familienmitglieder des Telemachus-Clans stückchenweise besser kennen. Die verschrobenen, teilweise wenig sympathischen aber mit all ihren Ecken und Kanten doch irgendwie interessanten Charaktere der Familie ziehen einen unweigerlich in ihren Bann. Teddy ist der etwas großspurige Patriarch der Familiensippe, ein genialer Trickbetrüger und früher sehr talentierter Falschspieler ohne jegliche übernatürliche Gabe. Seine viel zu früh verstorbene, über alles geliebte Frau Maureen, mit ihrem Talent zu Astralreisen, hat ihre paranormalen Fähigkeiten an ihre Kinder vererbt. Für sie stellen ihre paranormalen Fähigkeiten mehr Fluch als Segen dar und haben gelernt, auf ganz unterschiedliche Weise mit ihrem Schicksal fertig zu werden. Irene, die Tochter, ist ein menschlicher Lügendetektor; Frankie, der älteste Sohn, hat große Probleme seine telekinetischen Fähigkeiten zu steuern und der jüngste, in sich gekehrte Sohn Buddy ist hellseherisch begabt. Sehr schön ist es mitzuerleben, wie der fast schon verloren gegangene Familienzusammenhalt angesichts ungeahnter Bedrohungen wiederbelebt wird, und die Telemachos sich zusammenraufen und ihre unsichtbaren Kräfte reaktivieren.
Zum Ende hin nimmt der Roman nochmals enorm an Fahrt auf und gipfelt in einem fesselnden, geradezu filmreifen Showdown. Als gelungenen Ausklang präsentiert uns Gregory noch einige äußerst überraschende Wendungen. Das sehr stimmige und in sich abgeschlossene Ende seiner Familien-Geschichte lässt dennoch Raum für einige Spekulationen.
Sehr gelungen ist auch der angenehm zu lesende Schreibstil, der mit vielen humorvollen, recht schrägen aber äußerst amüsanten Momenten angereichert ist, so dass man immer wieder einfach schmunzeln muss und sich bestens unterhalten fühlt.
FAZIT
„Die erstaunliche Familie Telemachus“ ist eine äußerst unterhaltsame, ziemlich abgedrehte Familiensaga voll irrwitziger Verwicklungen und skurriler Figuren! Ein ungewöhnliches, aber unglaublich fesselndes und amüsantes Leseerlebnis, das sich zu lesen lohnt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Charaktere
  • Geschichte
  • Humor
  • Fantasie
Veröffentlicht am 12.02.2018

Ein äußerst fesselndes, einfallsreiches Jugendbuch

Der Schein
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INHALT
Die 16-jährige Alina aus Berlin ist nicht gerade begeistert, als sie von ihrem alleinerziehenden Vater erfährt, dass er beruflich nach Amerika muss, und sie für ein halbes Jahr auf das noble Internat ...

INHALT
Die 16-jährige Alina aus Berlin ist nicht gerade begeistert, als sie von ihrem alleinerziehenden Vater erfährt, dass er beruflich nach Amerika muss, und sie für ein halbes Jahr auf das noble Internat Hoge Zand auf der kleinen Ostseeinsel Griffiun gehen soll. Genervt sitzt sie nun auf der öden Insel fest - ohne ihre Freunde Lukas und Pinar, ohne Handynetz und dafür mit jeder Menge zickiger oder verschrobener Internatsschüler. Doch so schlimm wie befürchtet ist es gar nicht: immerhin gibt es die sympathische „Klette“ Cara und die vier „Lonelies“, die schon bald zu ihrer neuen Freundes-Clique werden. Als Alina eines Nachts ein dunkles Schiff am Horizont und seltsame Blitze am Himmel sieht, beschließt sie den mysteriösen Erscheinungen auf den Grund zu gehen. Schon bald überschlagen sich die Ereignisse und Alina macht eine abenteuerliche Entdeckung, die ihr Leben völlig auf den Kopf stellen wird …
MEINE MEINUNG
„Der Schein“ ist ein äußerst fesselnder, einfallsreicher Jugendroman aus der Feder der beiden deutschen Autorinnen Antje Wagner und Tania Witte, die das Buch unter dem offenen Pseudonym Ella Blix veröffentlicht haben. Es handelt sich bei dem Roman um eine gelungene Mischung aus Internatsgeschichte und einem Mystery-Thriller mit interessanten übernatürlichen Elementen, die mich sehr begeistert und bestens unterhalten hat. Zugleich ist es aber auch eine berührende Geschichte über Freundschaft, Solidarität, Verlust, Trauerbewältigung und der Suche nach der eigenen Identität.
Erzählt wird die vielschichtig angelegte Geschichte hautsächlich aus Alinas Sicht in der ersten Person. Zudem sind in die Handlung kursiv hervorgehobene Tagebucheinträge von Alina eingeschoben, die sie witziger Weise an ein fiktives DU richtet. Die spannenden Rückblenden auf Alinas Kindheit und Jugend geben schrittweise Einblick in ihr Seelenleben aber auch in die näheren Umstände des rätselhaften Verschwindens ihrer Mutter. Der Anfang ist wie eine typische Internatsgeschichte gestaltet mit Alinas Ankunft, dem Kennenlernen der Örtlichkeiten und der verschiedenen Charaktere sowie ersten Anpassungsprobleme mit dem neuen Umfeld. Doch in die Normalität des Internatslebens schleichen sich zunehmend rätselhafter werdende Ereignisse, so dass man schon bald zu Spekulieren beginnt, in welche Richtung sich die geheimnisvollen Geschehnisse bewegen werden. Durch das Auftauchen des ominösen „Dunklen Schiffs“ aus den uralten Legenden nimmt die mitreißende Handlung rasch einen völlig unerwarteten, sehr mysteriösen Verlauf und hat mich vollkommen in ihren Bann gezogen.
Sehr gut gefallen hat mir die vielschichtige, äußerst sympathische Hauptfigur Alina, die sehr einfühlsam und liebevoll ausgearbeitet ist, so dass sie mit ihren Eigenarten und Verletzlichkeiten sehr lebendig und lebensnah wirkt. Im Laufe der Geschichte muss sie so manches Mal ihr „Schubladen-Denken“ über Bord werfen, sich der Vergangenheit stellen und über ihren Schatten springen.
Aber auch viele der interessanten Nebenfiguren bereichern die Geschichte und sind rundum gelungen: Vor allem die vier sehr außergewöhnlichen und facettenreichen Charaktere der Lonelies und die so überaus patente Cara, aber auch die faszinierende Fremde Tinka, die mit ihrer exotischen Spezialausrüstung im Naturschutzgebiert campiert und eine besondere Beziehung zu Alina besitzt oder schließlich der seltsame Herr Mühstetter, der mit seinem Zylinder und Monokel etwas aus der Zeit gefallen zu sein scheint und für einige Gruseleffekte sorgte.
Mit vielen einfallsreichen Details gelingt es den Autorinnen mühelos, die ganz spezielle Atmosphäre im Internat zum Leben zu erwecken aber auch die toll beschriebenen Schauplätze der Insel wie beispielsweise das unheimliche Naturschutzgebiet mit seiner aggressiven Herde von Urwildrindern. Mit der zunehmend temporeich verlaufenden Handlung und immer neuen rätselhaften Entwicklungen wird schrittweise eine enorme Spannung aufgebaut, so dass ich der Auflösung richtig entgegen gefiebert habe. Die Geschichte endet mit einem äußerst fesselnden Finale voller Überraschungen und Dramatik, das in sich schlüssig war und mich mit keinen offenen Fragen zurückgelassen hat. Insgesamt haben die Autorinnen ein sehr passendes und zufriedenstellendes Ende für ihre tolle, gut durchdachte Story gefunden.
Neben ihrem sehr lebendigen, jugendsprachlich geprägten Schreibstil konnten die Autorinnen mich auch mit wundervoll bildreichen, poetischen Formulierungen überzeugen. Sehr gelungen sind auch die vielen amüsanten, humorvollen Passagen, die dem Roman eine besondere Würze verleihen und für beste Unterhaltung sorgen.
FAZIT
Ein äußerst fesselndes und einfallsreiches Jugendbuch, mit tollen Charakteren, witzig und locker-flockig geschrieben und insgesamt sehr unterhaltsam!
Sehr lesenswert!

Veröffentlicht am 09.02.2018

Lesenswerter Roman über ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte

Der Reisende
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INHALT
Während der Novemberpogrome 1938 muss der wohlhabende jüdische Kaufmann Otto Silbermann aus seiner Berliner Wohnung fliehen und überhastet seine Frau und sein Geschäft zurücklassen. Aus Angst vor ...

INHALT
Während der Novemberpogrome 1938 muss der wohlhabende jüdische Kaufmann Otto Silbermann aus seiner Berliner Wohnung fliehen und überhastet seine Frau und sein Geschäft zurücklassen. Aus Angst vor einer Verhaftung durch die Nazi-Schergen begibt er sich auf eine ziellose Reise mit der Reichsbahn quer durch Deutschland. Nachdem sein Fluchtversuch ins Ausland misslungen ist, irrt Silbermann gehetzt und ohne vernünftigen Plan von Stadt zu Stadt. Schließlich hat er kaum noch Hoffnung, eine sichere Zuflucht zu finden, und verliert immer mehr seinen Verstand.
MEINE MEINUNG
Mit dem Roman „Der Reisende“ hat Ulrich Alexander Boschwitz ein wichtiges literarisches Zeitdokument hinterlassen, das nun erstmalig auf dem deutschen Markt erscheint. Der bereits 1935, nach Verkündung der Nürnberger Rassengesetze aus Deutschland emigrierte Boschwitz hat seinen Roman 1939 in nur wenigen Wochen verfasst, um die schrecklichen Ereignisse der Novemberpogrome und den Beginn der Judenverfolgung in Deutschland zu verarbeiten. Dass Boschwitz viele eigene Erlebnisse und die seiner Familie mit in seinen Roman hat einfließen lassen, trägt zur besonderen Authentizität und Intensität des Romans bei.
In seiner Geschichte um den gutsituierten, jüdischen Kaufmann Otto Silbermann portraitiert der Autor exemplarisch das Schicksal der jüdischen Deutschen, die als ehemals angesehene Bürger plötzlich Willkür, Demütigungen und Gewalt ausgesetzt waren, und denen nur noch die meist vergebliche Flucht ins Ungewisse blieb.
Sehr einfühlsam und eindringlich gelingt es dem Autor, dem Leser die anfänglich noch ungläubige, pragmatische Betrachtungsweise der Hauptfigur nahe zu bringen, die sich aber während seiner Flucht zunehmend in Aktionismus und panische Verzweiflung angesichts seiner Situation wandelt. Die Geschichte mit ihrer bedrückenden Atmosphäre und der Schilderung von Silbermanns planloser, gehetzter Irrfahrt durch das Land hat mich immer mehr in ihren Bann gezogen.
Auf seinen immer schneller wechselnden Etappen begegnet die Hauptfigur einer Menge Menschen, so dass man durch die geführten Gespräche sehr aufschlussreiche und beklemmende Einblicke in die Haltung und Gedankenwelt der damaligen Gesellschaft in Deutschland erhält. Die Bandbreite an Nebencharakteren reicht von überzeugten Nazis, dumpfen Mitläufern, unwissenden, passiven wie auch wohlwollenden Deutschen bis hin zu zahllosen flüchtenden Leidensgenossen. Man kategorisiert die Mitbürger nur noch in zwei Klassen: Arier oder Juden. Schockierend ist zum einen die Gleichgültigkeit und Unwissenheit vieler Mitmenschen, zum anderen aber auch die plötzliche Feindseligkeit, ja sogar Skrupellosigkeit vieler arischer Freunde, Geschäftspartner und Verwandter. Hervorragend hat der Autor vor allem den charakterlichen Wandel und seelischen Ausnahmezustand Silbermanns angesichts der Ausweglosigkeit seiner Flucht und der permanenten Gefahr, von den Nazis aufgegriffen zu werden, herausgearbeitet. Sein anfängliches Schwanken zwischen Selbstaufgabe und Kampfeswillen weicht immer mehr einem völlig irrationalen Verhalten und einer fortschreitenden Fahrigkeit, Zerrissenheit und Mutlosigkeit – all dies wird vom Autor sehr realistisch eingefangen und äußerst anschaulich umgesetzt. Man erlebt im Laufe der Handlung einen getriebenen Menschen, der schließlich seine Selbstachtung, sogar seinen Verstand verliert und sich willenlos in sein Unheil fügt.
Ein auch in der heutigen Zeit lesenswerter, wichtiger Roman gegen das Vergessen und ein Appell für mehr Toleranz und Menschlichkeit!
FAZIT
Ein sehr bewegender Roman über ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, der mit seinen beeindruckend authentischen Schilderungen, die Geschehnisse jener Zeit dokumentiert.

Veröffentlicht am 12.01.2018

Unglaublich intensiver, bewegender Roman

Die Welt ist eine Scheibe
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"Die Welt ist eine Scheibe. Beweis: Manche fallen runter, ein ständiges Stürzen und Aufschlagen. Die meisten merken es bloß nicht."

Die 16jährige Wiebke hat sich auf ihren Lieblingsbaum verschanzt und ...

"Die Welt ist eine Scheibe. Beweis: Manche fallen runter, ein ständiges Stürzen und Aufschlagen. Die meisten merken es bloß nicht."

Die 16jährige Wiebke hat sich auf ihren Lieblingsbaum verschanzt und will für alle unsichtbar und unauffindbar sein. Sie beobachtet interessiert das von ihr gelegte Feuer, den sich ausbreitenden Brand, der die elterliche Scheune samt Heu- und Strohvorräten vernichtet, und die Ankunft der Feuerwehr aus dem Dorf und die sich anschließende Löschaktion.
Dort oben zieht sie Bilanz über ihr bisheriges spießiges einengendes Leben auf dem Lande, die Ereignisse in jüngster Vergangenheit und rechnet mit ihrer Familie ab.
Ihrem Vater, der fremdgeht und sie alle mit der harten Arbeit auf dem Hof im Stich gelassen zu haben scheint, ihrer angepassten Mutter, ihrem Bruder, der versucht seine Homosexualität zu vertuschen. Immer wieder kreisen ihre Gedanken um den Auslöser ihrer Verzweiflungstat – einen tragischen Unfall, der das Leben ihrer Familie und die der zugezogenen Stadtfamilie Strasser auf unheilvolle Weise verbunden und zugleich zerstört hat.
Die Charakterisierung der Protagonistin Wiebke als typischer pubertierender Teenager ist sehr vielschichtig und lebensnah. Sehr glaubwürdig ist ihre Persönlichkeit in ihrer Zerrissenheit und ihrem Gefühlschaos, ihrer Wut und Verzweiflung getroffen. Als Leser konnte ich mich gut in sie hineinversetzen. Wiebke fühlt sich ausgeschlossen und unverstanden in dieser einengenden Welt des Landlebens, gegen das sie rebelliert. Sie will aus dieser Enge ausbrechen und träumt von der großen Welt jenseits „ihrer Scheibe“.
Die Autorin hat ihren Roman sehr abwechslungsreich und spannend gestaltet. Erst nach und nach enthüllen sich dem Leser in verschiedenen Rückblicken die zurückliegenden Ereignisse. So setzt man die einzelnen Bruchstücke ihrer Geschichte zusammen und kann allmählich ihren Einfluss auf Wiebkes Innenleben und die emotionalen Beweggründe für ihr Handeln erahnen.
Herausragend und außergewöhnlich ist die lebendige, sehr bildhafte und einfühlsame Sprache der Autorin. Die vielen wunderschönen sprachlichen Bilder sorgen für einen wahren Lesegenuss.

FAZIT
Ein kurzer, aber unglaublich intensiver und bewegender Roman über schicksalhafte Verstrickungen, der Suche nach Auswegen und dem Erwachsenwerden.
Sprachlich herausragend, virtuos komponiert und sehr eindrucksvoll!

Veröffentlicht am 12.01.2018

Ergreifender, einfühlsam erzählter Kinderroman gegen das Vergessen

Flügel aus Papier
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INHALT
Warschau, 1942: Der achtjährige jüdische Rafal lebt mit seinem Großvater im sogenannten „Bezirk“. Sie führen ein entbehrungsreiches Leben voller Leid, Elend, Hunger und Sorge. Um dem schrecklichen ...

INHALT
Warschau, 1942: Der achtjährige jüdische Rafal lebt mit seinem Großvater im sogenannten „Bezirk“. Sie führen ein entbehrungsreiches Leben voller Leid, Elend, Hunger und Sorge. Um dem schrecklichen Alltag zu entgehen, flüchtet er sich in die sichere Welt der Bücher aus der Bibliothek des Ghettos. Zum Glück gelingt es dem Großvater, Rafals Flucht aus dem Ghetto zu organisieren. Im Warschauer Zoo findet er zunächst „seine Arche“ und in zwei anderen untergetauchten Kindern neue Freunde. Doch müssen sie sich bald erneut vor den Nazis in Sicherheit bringen …

MEINE MEINUNG
Dem polnischen Autor Marcin Szczygielski ist es gelungen, mit dem Thema Warschauer Ghetto und Holocaust ein dunkles Kapitel der Geschichte auch für jüngere Leser anschaulich, eindringlich und zugleich sehr einfühlsam zu schildern.
Im Mittelpunkt der bewegenden Geschichte steht der sympathische jüdische Junge Rafal, den man schnell in sein Herz schließt. Aus seiner kindlich-naiver Perspektive werden der für ihn so selbstverständliche Alltag, die trostlosen Zustände und die angsterfüllte Atmosphäre sehr offen und unbekümmert geschildert, so dass man rasch Anteil an Rafals Schicksal nimmt. Sehr rührend ist auch sein Verhältnis zum Großvater beschrieben, der versucht, die grausame Wirklichkeit vor ihm geheim zu halten. Die anfangs unterschwellige Spannung steigt mit Rafals abenteuerlicher Flucht immer mehr, so dass man das Buch kaum noch aus der Hand legen kann.
Sehr glaubwürdig ist Rafals charakterliche Weiterentwicklung beschrieben, wie er die Zusammenhänge immer besser begreift, Freunde gewinnt und über sich hinaus wächst. Hierbei bleibt er aber immer noch ein Kind, das manchmal unvorsichtig handelt und sich in seine Bücherwelt hineinträumen kann. Der Autor macht in seinem Roman sehr deutlich, dass vor allem Freundschaft, Menschlichkeit, Liebe und die Kraft der Hoffnung in solchen schicksalhaften Zeiten am wichtigsten sind. Das geschickt eingeflochtene „Zeitreise“-Element aus Rafals Lieblingsbuch die „Zeitmaschine“ von H.G. Wells verleiht der Geschichte eine unerwartet fantastische Komponente.
Der flüssige, aber nicht anspruchslose Schreibstil ist perfekt an jüngere Leser angepasst und überzeugt mit einigen schönen Formulierungen. Gelungen sind die bildhaften Beschreibungen von Schauplätzen und Stimmungen, die einen in die bedrückende historische Vergangenheit zurückversetzen. Auch die vielen gut recherchierten historischen Details wurden gekonnt in die fesselnde Handlung eingebunden.
Der Ausgang des bewegenden Romans ist überraschend, wirkt aber insgesamt glaubwürdig und nachvollziehbar. Im „Nachwort oder Was die erste Leserin dieses Buches von mir wissen wollte“ findet man noch einige interessante Informationen zum historischen Hintergrund und den erfundenen Teilen der Geschichte. Zusammen mit dem Epilog erhält der Roman so einen nachdenklich stimmenden und zugleich versöhnlichen Ausklang.

FAZIT
Ein ergreifender, einfühlsam erzählter Roman über den Holocaust und das Warschauer Ghetto, den man nicht so schnell vergisst!
Ein empfehlenswerter Roman auch für jüngere Leser ab 10 Jahren!