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Veröffentlicht am 17.06.2025

Vielfältige Perspektiven zum Thema Elternschaft

Rethinking Motherhood
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Im Sammelband "Rethinking Motherhood", herausgegeben von Anne Theiss, finden sich 19 verschiedene Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren zum Thema "Elternschaft neu denken". Ich nenne es hier ...

Im Sammelband "Rethinking Motherhood", herausgegeben von Anne Theiss, finden sich 19 verschiedene Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren zum Thema "Elternschaft neu denken". Ich nenne es hier bewusst Elternschaft und nicht nur Mutterschaft, denn tatsächlich kommen - entgegen der Erwartung, die der Titel wecken würde - in diesem Buch durchaus auch Väter und sogar ein homosexuelles Väterpaar, das einen kleinen Jungen adoptiert hat, zu Wort.

Es geht um so vielfältige Themen wie Elternschaft und Beruf, die Frage, welche Rolle erziehende Erwachsende, Mütter wie Väter, in einer modernen Gesellschaft einnehmen können, wie wir uns gegenseitig dabei unterstützen können und welche Rahmenbedingungen der Staat schaffen könnte, um Elternschaft weniger anstrengend und damit wieder attraktiver für junge Menschen zu machen - in einer Zeit der historisch niedrigen Geburtenraten.

Die Beiträge sind vielfältig, aber überwiegend sehr persönlich gestaltet: mal geht es um eine erwachsene Tochter und ihre Mutter, die sich schriftlich über das Thema unterhalten, mal erzählen Alleinerziehende, dann Künstlerinnen, die Mütter geworden sind und damit verbundene Diskriminierungen und Herausforderungen erlebt haben, und auch ein Paar, das mit Unfruchtbarkeit gekämpft hat und sich schließlich für eine Leihmutterschaft in den USA entschieden hat, kommt zu Wort. Damit zeigt das Buch insgesamt eine große und vielfältige Bandbreite an Stimmen zum Thema Elternschaft auf.

Zwei Einschränkungen gibt es allerdings: es sind zum einen ausschließlich progressive Stimmen - das konservative Meinungsspektrum wird ausschließlich kritisiert und als veraltet angesehen, aber auf deren Argumente gar nicht wirklich eingegangen. Dadurch kommt in vielen Beiträgen durch, dass es als nicht akzeptabel angesehen wird, wenn eine Frau daheim bei den Kindern bleiben möchte; macht das hingegen der Mann, ist es lobenswert und modern. Hier würde ich mir mehr Dialog zwischen den verschiedenen politischen Richtungen wünschen.

Die zweite Einschränkung ist, dass es, mit wenigen Ausnahmen, überwiegend Menschen aus der sehr privilegierten Bildungsschicht sind, die hier zu Wort kommen, während die Perspektiven von marginalisierten Menschen und solchen aus Arbeitermilieus, wie so oft in solchen Sammelbänden, unterrepräsentiert sind. Wenn man das aber weiß und gerne einen weiteren Sammelband von Künstlerinnen, Schauspielerinnen, Moderatorinnen, Schriftstellerinnen - den klassischen Berufen, die sehr gewandt im Umgang mit Worten sind und sich deshalb oft zu Wort melden - lesen möchte, ist es ein interessantes und lohnenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt.

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Veröffentlicht am 17.06.2025

Wie wir unsere gedankliche Realität verzerren und uns innerlich verrückt machen

Das Zeitalter des magischen Zerdenkens. Notizen zur modernen Irrationalität
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"Das Zeitalter des magischen Zerdenkens" ist das dritte Buch der amerikanischen Linguistin Amanda Montell. Schon in ihrem zweiten Buch, in dem es um Sekten und Kulte geht, hat sie sich intensiv mit den ...

"Das Zeitalter des magischen Zerdenkens" ist das dritte Buch der amerikanischen Linguistin Amanda Montell. Schon in ihrem zweiten Buch, in dem es um Sekten und Kulte geht, hat sie sich intensiv mit den psychologischen Mechanismen beschäftigt, die dazu führen, dass wir scheinbar irrationale Entscheidungen treffen.

Dieses Buch führt diese Ideen nun fort, beschäftigt sich aber thematisch mit einer wesentlich größeren Bandbreite. Es beginnt damit, dass in den letzten Jahren die Häufigkeit psychischer Probleme enorm angestiegen ist, insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, und wie das damit zu tun haben könnte, dass wir - angespornt durch Social-Media-Algorithmen - unser Leben und die Welt immer mehr zerdenken.

Auf dieser Idee aufbauend geht es um verschiedene Alltagsphänomene, beispielsweise die vielen "Stans" (ein Kunstwort aus "Stalker" und "Fan", das auf Eminems gleichnamiges Lied zurückgeht), die eine regelrechte Besessenheit für ihre Idole, etwa Taylor Swift, aufbauen und diese glühend verehren, sich aber ebenso schnell und drastisch von diesen abwenden oder Shit-Storms starten können, wenn die unrealistische Projektion, die sie um ihr Idol aufgebaut haben, zusammenbricht. Weiters geht es um Themen wie toxische Beziehungen, Idealisierung der eigenen Eltern, Glaube an Verschwörungstheorien und so einiges mehr. Interessant ist, wie die Autorin jeweils bekannte psychologische Theorien mit ihren eigenen Gedanken zum Thema und ihren persönlichen Erlebnissen verbindet.

Wer gerne solche persönlichen Geschichten mag, der findet hier ein unterhaltsames Buch vor, in dem die Autorin nahbar und persönlich etwa von ihrer distanzierten und idealisierten Beziehung zu ihrer extrem leistungsstarken, aber nur selten Gefühle zeigenden Mutter erzählt, genauso wie von ihrer problematischen ersten Beziehung, aus der sie sich erst nach sieben Jahren lösen konnte, von ihren eigenen Selbstwertproblemen in Bezug auf ihr Äußeres oder ihren Schwierigkeiten beim Einstieg in den Arbeitsmarkt nach dem Studium.

Die Autorin ist selbst Jahrgang 1992 und damit am Anfang ihrer 30er. Darum geht es im Buch natürlicherweise hauptsächlich um die Themen, Interessen und Probleme junger Menschen, und es ist somit auch am besten für Lesende in diesem Alter geeignet. Nebenbei lernt man noch so einiges Interessantes über psychologische Theorien, die erklären, warum Menschen scheinbar irrationale Entscheidungen treffen.

Für ihr Buch hat die Autorin sorgfältig recherchiert und sowohl im Fließtext als auch im Quellenverzeichnis sind viele Details zu den entsprechenden Studien und Experimenten zu finden, sodass man sich bei Interesse leicht noch weiter in die eine oder andere Theorie vertiefen kann. Ein durchaus unterhaltsames und dabei lehrreiches Buch zur Alltagspsychologie, das ich insbesondere jenen Menschen empfehlen kann, die es sehr mögen, nicht nur theoretisch über psychologische Phänomene zu lesen, sondern diese eingebettet in eine konkrete Lebensgeschichte und verbunden mit den persönlichen Gedanken einer jungen Frau zu erleben.

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Veröffentlicht am 16.06.2025

Was es bedeutet, fast sprachlos zu sein in einem fremden Land

»Mama, bitte lern Deutsch«
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Tahsim Durgun hat mit "Mama, bitte lern Deutsch" ein berührendes Memoir geschrieben, das zu Herzen geht. Er lässt uns in diesem persönlichen Buch an seiner eigenen Kindheit und Jugend teilnehmen. Der Autor ...

Tahsim Durgun hat mit "Mama, bitte lern Deutsch" ein berührendes Memoir geschrieben, das zu Herzen geht. Er lässt uns in diesem persönlichen Buch an seiner eigenen Kindheit und Jugend teilnehmen. Der Autor wächst mit drei Geschwistern und seinen Eltern in einer trostlosen Plattenbausiedlung in Deutschland auf.

Die Kinder sind in Deutschland geboren, es ist die einzige Heimat, die sie kennen - und doch müssen sie viele Erfahrungen damit machen, als fremd angesehen zu werden, und auch ihr Aufenthaltsstatus ist immer wieder bedroht, wenn die Behörde entscheidet, Yesiden würden gerade in der Türkei nicht mehr verfolgt werden und somit der ursprüngliche Asylgrund wegfallen.

Schon als kleine Kinder müssen sie immer wieder für die Eltern übersetzen oder dolmetschen, denn auch nach 20 Jahren in Deutschland sprechen die beiden, insbesondere die Mutter, kaum Deutsch.

Was für ein Kontrast das für den Autor ist: einerseits daheim seine (in der kurdischen Muttersprache) intelligente und sprachlich sehr gewandte Mutter zu erleben, die in ihrer Muttersprache niemals um Worte verlegen ist, selbstbewusst ist und sich gut ausdrücken und durchsetzen kann. Und dann andererseits im Vergleich dazu die schüchterne, gedemütigte, um Worte ringende Frau zu begleiten, in die die Mutter sich zum Beispiel auf Ämtern, aber auch auf Schulfesten im Kontakt mit Deutschen verwandelt. Für diese Mutter einstehen und auch bei schwierigen und überfordernden Themen im juristischen oder medizinischen Bereich übersetzen zu müssen, ist oft sehr überfordernd für die Kinder, ebenso wie die vielfältigen Diskriminierungs- und Abwertungserfahrungen, die sie erleben müssen.

Während all dem hat sich der Autor einen ganz wunderbaren Humor bewahrt und das Buch ist lebendig geschrieben und voll von Liebe zu seiner Mutter und seiner Familie. Das Buch ist so nahbar und persönlich erzählt, mit vielen kleinen Geschichten aus dem Leben der Familie, sodass man sich beim Lesen mit der Familie sehr verbunden fühlt und mit ihnen hofft und bangt.

Selbst hat der Autor einen beeindruckenden sozialen Aufstieg hingelegt, Abitur gemacht und Germanistik studiert. Seine Geschichte ist auch eine Geschichte der Selbstermächtigung, wie z.B. dieses eindrucksvolle Zitat zeigt: "Ich begann, Bücher zu lesen - und irgendwann auch Zeitungen. (...) ... weil ich mir die Sprache der Menschen aneignen wollte, die über uns verfügen konnten. Ich wollte dafür sorgen, dass ich, dass wir, irgendwann genug sein würden. Die Ungerechtigkeit, die uns widerfahren war, spornte mich an, meine Leistungen in der Schule zu verbessern." (S. 96 von 167 im E-Book)

Was den Titel des Buches und seine Mutter und deren nach Jahrzehnten noch mangelnde Deutschkenntnisse angeht, so zeigt der Autor differenziert auf, dass er sich gewünscht hätte, sie hätte engagierter und aktiver Deutsch gelernt und ihr das auch mal wütend vorgeworfen hat, aber dass er im Gespräch mit ihr und in der Reflexion über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Familie auch erkannt hat, welche Hürden ihr dabei im Weg gestanden sind: neben einem auslaugenden, körperlich anstrengenden Job ohne Urlaub und Feiertage, die Familie mit vier Kindern versorgend, mit geringem Bildungsstand und einer als eher abweisend empfundenen Gesellschaft im neuen Land ist das nicht leicht.

Damit regt das Buch auch zum Nachdenken an, was wir alle - auch die, die das Glück haben, in privilegierteren gesellschaftlichen Positionen aufwachsen zu dürfen - dazu beitragen können, aktiv Integration und ein gelingendes Miteinander zu fördern. Ein wertvolles Buch, dem ich breite Verbreitung wünsche!

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Veröffentlicht am 10.06.2025

Nabelschau einer selbstbezogenen Frau in zwei Szenarien

Im Leben nebenan
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"Im Leben nebenan", das Debüt von Anne Sauer, klang erst einmal wirklich vielversprechend: erzählt werden zwei parallele mögliche Leben einer jungen Frau. Abwechselnd lesen wir in kurzen Kapiteln von "Toni" ...

"Im Leben nebenan", das Debüt von Anne Sauer, klang erst einmal wirklich vielversprechend: erzählt werden zwei parallele mögliche Leben einer jungen Frau. Abwechselnd lesen wir in kurzen Kapiteln von "Toni" und von "Antonia". Die Rahmenhandlung und Perspektive, aus der beide Leben reflektiert werden, bildet dabei Toni, deren Ich zum Teil in einer Parallelwelt landet, in der sie sich anders entschieden hat und als Folge daraus ein ganz anderes Leben führt.

Toni hat schon jung eine sehr innige Beziehung mit Adam geführt. Doch Adam hatte keine so großen Ambitionen wie sie, ihm reichte ein Studium in der Nähe, er ist heimatverwurzelt und wollte Familie. Toni hingegen wollte "etwas aus sich machen", in die große Stadt und dort studieren. Dafür hat sie ihn verlassen und ihm das Herz gebrochen. Danach hat sie sich in diverse Kurzzeitbeziehungen gestürzt und schließlich Jakob kennen gelernt. Die beiden haben - als Selbstzahler, denn heiraten möchten sie in ihrer alternativen Szene offenbar nicht oder zumindest ringt sich keiner von beiden dazu durch, das Thema anzugehen - unzählige erfolglose Kinderwunschbehandlungen einschließlich Fehlgeburten hinter sich. Nun will Toni das nicht länger mit sich machen lassen und hat einseitig ihren Kinderwunsch aufgegeben.

Parallel dazu erfahren wir das Leben von Antonia, einem Parallel-Ich von Toni, in das sie geschleudert wird, während gleichzeitig in den anderen Kapiteln Tonis Leben weitergeht. Toni/Antonia wacht auf einmal in einem Leben auf, in dem sie Adam nie verlassen hat, immer an seiner Seite war, in dem sie verheiratet sind und eine kleine Tochter haben. Sogar eine Kaiserschnittnarbe hat sie und es gibt Fotos, Sprachnachrichten und Erinnerungen vieler anderer Menschen an dieses Leben... nur Antonia erinnert sich an nichts davon, nicht an Schwangerschaft, Geburt, Hochzeit etc., denn ihre Erinnerungen sind die an das Leben von Toni mit Jakob in der großen Stadt.

Anfangs will Antonia unbedingt aus dem als fremd erlebten Leben flüchten und kann sich überhaupt nicht auf das neue Leben einlassen. Obwohl ihre innere Toni-Identität so viele erfolglose Kinderwunschbehandlungen im anderen Leben hinter sich hatte, an die sie sich erinnert, lehnt sie ihre Mutterrolle nun so sehr ab, dass sie mehrmals überlegt, sich selbst, ihrem Kind oder beiden das Leben zu nehmen und dafür sogar konkrete Pläne macht, die für alle, die mit dem süßen kleinen Baby Hanna mitfühlen, sehr schmerzhaft zu lesen sein könnten. Erst langsam gewöhnt sie sich an ihr neues Leben und kann ihm durchaus auch etwas abgewinnen.

Insgesamt lässt mich die Lektüre dieses Buches etwas ratlos zurück. Hängen bleibt bei mir das Psychogramm einer sehr selbstbezogenen Frau - das trifft sowohl für Toni als auch für Antonia zu - die viele Entscheidungen sehr unbedacht und egoistisch trifft und dabei andere Menschen verletzt, und der auch jeglicher Sinn dafür fehlt, zu schätzen, was sie Gutes in ihrem Leben hat: das gilt für beide Szenarien. Damit ist mir Toni/Antonia sehr unsympathisch. Das macht sie als Figur aber nicht unrealistisch, denn solche Menschen gibt es und in sich ist die Figur durchaus konsistent dargestellt.

Das Szenario mit den zwei parallelen Leben hätte hingegen mehr Potential gehabt. Dadurch, dass Toni so in Antonias Leben geschleudert wird, aber mit den Erinnerungen und der Persönlichkeit Toni bleibt, war wenig Raum für grundsätzlich unterschiedliche Persönlichkeitsentwicklungen, die bei zwei real so unterschiedlich verlaufenden Leben sehr wahrscheinlich gewesen wären. Wir haben somit einerseits die Kapitel aus Tonis Perspektive und andererseits jene, in denen Toni/Antonia am liebsten ihr Toni-Leben zurückwill. Das hat für mich das alternative Szenario sehr blass gemacht - da kenne ich deutlich gelungenere Bücher zu alternativen Leben. Auch das Ende war zumindest mir nicht ganz klar und hat mich rätselnd zurückgelassen.

Insgesamt ist es ein solides Buch, das durchaus interessant und unterhaltsam geschrieben ist und zum Nachdenken anregt. Aus der Idee hätte sich aber mehr machen lassen. Ich empfehle das Buch jenen, die sich für diese Thematik interessieren und die gerade kein persönliches Thema mit Kinderwunsch oder Kinderwunschbehandlungen haben (ansonsten könnte einiges im Buch sehr triggernd sein).

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Veröffentlicht am 04.06.2025

Coming-of-Age vor dem Hintergrund des Schweigens der Nachkriegsjahre

Sputnik
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Christian Berkel hat mit "Sputnik" sein drittes Buch veröffentlicht, alle davon tragen mehr oder weniger autobiografische Züge und haben mit seiner Familiengeschichte zu tun. Für mich war es das erste ...

Christian Berkel hat mit "Sputnik" sein drittes Buch veröffentlicht, alle davon tragen mehr oder weniger autobiografische Züge und haben mit seiner Familiengeschichte zu tun. Für mich war es das erste Buch des Autors, ich beurteile es also unabhängig von den anderen beiden.

Humorvoll startet die Geschichte mit dem Spermium und der Eizelle, die sich zu dem Embryo vereinen, aus dem schließlich der Ich-Erzähler werden wird, hier "Sputnik" genannt, aufgrund der zeitlichen Nähe der Geburt des Jungen zum Start des russischen Satelliten.

In dem Buch geht es sehr viel ums Spüren und Wahrnehmen, ergänzt um philosophische Gedanken des Autors. Das zeigt sich schon ganz am Anfang, als die vermutete Erfahrung des Embryos im Mutterleib beschrieben wird: "Die dunkle Stimme ist weg. Besser so. ich mag es lieber, wenn wir unter uns sind. Liegt es an den überschäumenden Lustgefühlen, die mich überfallen, wenn ich die Stimme meiner Mutter höre? Anfangs hielt ich sie für meine eigene. Wessen Stimme sollte es sonst sein? Ich nahm an, das Leben sei in mir, bis ihch begriff, dass ich in einem Leben war. Da beschloss ich, erst recht zu schweigen." (S. 17)

Dann begleiten wir den Autor durch seine Kindheit mit einem strengen Vater, der HNO-Arzt ist, und einer Mutter, die als Tochter einer Jüdin in der NS-Zeit verfolgt und in einem französischen Lager war, die kunstsinnig und sensibel ist, aber auch schwer traumatisiert, die immer wieder wie tot wirkt und deren Blick ins Leere gleitet. Sehr viel Entfremdung ist da zu spüren, zwischen den Eltern, zwischen ihnen und der Nachkriegsgesellschaft und auch zwischen dem heranwachsenden Jungen und seiner Umgebung.

Die Mutter spricht mit dem Jungen französisch und so wächst er mit dieser Sprache, neben dem Deutschen auf, was ihm später einige Türen öffnen wird: zuerst an eine französischsprachige Schule in Deutschland und schließlich nach Frankreich selbst. Es geht um die Kindheit, Jugend und die jungen Erwachsenenjahre des Ich-Erzählers, darum, wie er immer mehr zu sich und seiner eigenen Identität findet, wie er schon früh Schauspieler werden möchte und engagiert und eigeninitiativ Kontakte in die Schauspielszene knüpft, aber auch sehr viel um sein sexuelles Erwachen und Begehren und erste sexuelle Erfahrungen. Das alles vor dem Hintergrund des Schweigens und Relativierens im Nachkriegsdeutschland.

Über weite Strecken habe ich das Buch sehr interessiert gelesen. Ganz besonders spannend wurde es für mich immer dann, wenn einzelne Szenen den gesellschaftlichen Hintergrund der damaligen Zeit lebendig werden haben lassen und ich ein Gefühl dafür bekommen habe, in was für einem Zwiespalt sich die deutsche Gesellschaft zwischen dieser dunklen Vergangenheit und dem Wunsch, in die Zukunft zu streben, befunden hat, und wie dieser Zwiespalt noch einmal stärker sich in einem jungen Mann zeigt, dessen Mutter selbst von den Tätern verfolgt wurde, der aber gleichzeitig etwa in Frankreich unter der Fremdzuschreibung als "boche" (abwertender Begriff für einen Deutschen) leidet.

Die sexuellen Begehren und Erlebnisse des Jugendlichen und jungen Mannes hingegen waren zwar durchaus authentisch für diese Lebensphase geschildert, haben mich aber beim Lesen nicht so mitgenommen, ebenso wie die Beschreibungen der ersten Kontakte mit dem Theatermilieu. Vielleicht ist mir aber auch beides in dieser Form zu fremd.

Insgesamt ist es ein durchaus solides, lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt.

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