Die Kunst, ein Gott & eine Zigarette
Drei Viertel totDas Niveau sinkt und zieht die Originalität mit in den Untergang – alles wiederholt sich, man hört ständig nur die alte, wohlbekannte Leier und kennt das Ende bereits, bevor das Buch überhaupt aufgeschlagen ...
Das Niveau sinkt und zieht die Originalität mit in den Untergang – alles wiederholt sich, man hört ständig nur die alte, wohlbekannte Leier und kennt das Ende bereits, bevor das Buch überhaupt aufgeschlagen wurde. Diese Vorwürfe – vor allem gegenüber dem Fantasy-Genre – sind vermutlich niemandem neu und haben zweifelsohne schon den ein oder anderen abgeschreckt. All diesen elitären Angsthasen kann ich getrost „Drei Viertel tot“ von Max Gladstone empfehlen, ein durchweg origineller Fantasyroman, dem es auch an Niveau nicht mangelt.
Absolut erwähnenswert ist die Welt, in der das Ganze spielt. Sie ist äußerst komplex und mit nichts vergleichbar, was ich vorher gelesen hatte. Allein das Konzept der Kunstwirker ist mir völlig neu und ehrlicherweise haben mich die grundlegenden Funktionsweisen des Magiesystems auch zu Weilen sehr überfordert. Tatsächlich glaube ich nicht, dass ich das Geschehen überhaupt wirklich fassen konnte und würde es nicht ausschließen, einige Informationen falsch verstanden oder gar überlesen zu haben. Vieles war für mich und mein Hirn schlichtweg zu abstrakt und wir mussten uns teilweise echt anstrengen, nicht den Faden zu verlieren. Zudem wird im Worldbuilding großer Wert auf die Organisation und die Interaktionen gesellschaftlicher Strukturen gelegt. Es dreht sich viel um die Frage, wo Kirche und dementsprechend auch Religion ihren Platz in der Gesellschaft haben und wie viel Einfluss sie im Verhältnis zu anderen Einrichtungen und Vereinigungen haben sollten. Die Überlegung, welche Partei die meiste Macht hat und wohin der Rest fließt, ist allgegenwärtig und in vielerlei Hinsicht auch durchaus auf unsere Gesellschaft übertragbar. Diese Relevanz in Kombination mit der komplexen und neuartigen Welt machen das gesamte Buch wirklich einzigartig, was gerade im Fantasy-Genre eine absolut reife Leistung darstellt.
Von der Komplexität des Worldbuildings einmal abgesehen ist die Handlung selbst gut ausgearbeitet und mit einem Spannungsbogen versehen, der vollkommen verlässlich auf einen rasanten Höhepunkt zusteuert. Alles an dem Geschehen rund um Tara, ihre Kunst und die Götterwiederbelebung wirkt schlüssig und durchdacht, zudem hat jede Figur ihren Zweck und fügt sich gut ins Gesamtbild ein, was zu einem äußerst zielorientierten Voranschreiten der Ereignisse mit wenig Ablenkungen führt.
Zum Thema Charaktere: Ich mochte Tara sehr gerne und ihre mutige, willensstarke Art machte sie zu einer überaus talentierten und glaubhaften Protagonistin. Auch Abelard war mir schnell sympathisch und ich fand die Ausgestaltung seiner Figur sehr erfrischend – von kettenrauchenden Priestern liest man ja doch eher selten. Mir fiel jedoch auf, dass man zwar recht viel über die einzelnen Charaktere erfährt – genug, um sich ein gutes Bild von ihnen allen zu machen – sich aber meist in einem strikt „beruflichen“ beziehungsweise professionellen Rahmen bewegt. Auf private Informationen wird bis auf wenige Ausnahmen weitestgehend verzichtet, was vermutlich eine bewusste Entscheidung des Autors war, um nicht vom Wesentlichen abzulenken. Das ist selbstverständlich absolut plausibel und völlig legitim, nichtsdestotrotz fand ich es persönlich sehr schade. Ich mag es, beim Lesen eine Bindung zu den Charakteren aufzubauen und werde auch gerne emotional dabei. Ich will etwas spüren und ich will investiert sein. Ich will mit den Figuren mitfiebern, mit ihnen lachen und weinen. Aufgrund der großen Distanz sowohl zwischen Figuren und Leser als auch der Charaktere untereinander war das hier leider nicht möglich.
„Drei Viertel tot“ ist definitiv keine 0815 Fantasy und hat einiges zu bieten. Rein technisch gesehen und auf einer objektiven Ebene betrachtet habe ich absolut nichts zu meckern. Jedoch hätte ich mir mehr Emotionen – egal in welcher Hinsicht – gewünscht, das hätte das ganze Buch sicherlich etwas zugänglicher gemacht. Allerdings handelt es sich hierbei selbstverständlich nur um meine persönliche Präferenz. Wer auf Zwischenmenschliches weniger Wert legt und einfach einen guten Fantasyroman sucht, der wirklich originell ist und sich nicht so leicht in eine Schublade stecken lässt, ist hier garantiert gut bedient.