Psychogramm der Gewalt
August Drach verbringt seine Kindheit in einem Dorf, umgeben von einem gewalttätigen Vater und einer distanzierten Mutter. Dies ändert sich, als der Vater plötzlich verschwindet - nun wird August von der ...
August Drach verbringt seine Kindheit in einem Dorf, umgeben von einem gewalttätigen Vater und einer distanzierten Mutter. Dies ändert sich, als der Vater plötzlich verschwindet - nun wird August von der Liebe der Mutter nur so überschüttet, so sehr, dass er dauerhaft krank wird. Schließlich kann er sich aus ihren Fängen entreißen und beginnt ein Leben in der Stadt. Langsam und anhand einer scheiternden Beziehung erkennt er seine eigenen Unzulänglichkeiten - oder auch nicht. Irgendwann jedoch kehrt er zurück in das Dorf um sich seiner Vergangenheit zu stellen.
Ich kann kaum ausdrücken, wie großartig ich Valerie Fritsch's "Zitronen" finde. Die nüchterne Sprache schafft eine ganz eigene Atmosphäre, sie stockt einem den Atem und reißt zugleich enorm mit. Der Hals schnürt sich zu wenn man von der Gewalt des Vaters liest, die er seinem Sohn antut. Dem gegenüber steht die Liebe des Familienoberhaupts zu seinen Hunden, die er liebevoll umhegt - August erkennt diesen Zwiespalt emotionslos aber doch voller Sehnsucht. Herzzerreißend lesen sich die stillen Momente, in der August sich nach Berührungen ereifert. Die Tyrannei scheint vorbei zu sein, als sein Vater spurlos verschwindet, wird aber prompt abgelöst von dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom seiner Mutter. Als sie mit dem neuen Lebensgefährten Otto in den Süden auf Urlaub fahren, darf August den schönsten Sommer seines Lebens verbringen, er genießt seine unverhoffte Gesundheit, das Meer und auch die Zugewandtheit Ottos. Nur die Mutter muss Höllenqualen durchstehen, kann sie doch ihren geliebten Jungen nicht mehr umsorgen. Im Schleier verbleibt dann der letzte Rest von Augusts Kindheit. Als Erwachsener schlägt er sich mit Lügen und Betrügen durch, bis er selbst eine Liebe findet, die er erdrückt mit der Gewalt der unvermögenden Liebe. Seine Emotionen wechseln vom Überbordenden über kindlichen Trotz bis hin zur scheinbaren Emotionslosigkeit, es wird klar, dass er sich nie Gelerntes als Erwachsener nur schwer aneignen kann.
Dieses Psychogramm Augusts ist Fritsch so hervorragend gelungen, dass man sich ab und an in der Figur selbst findet, Verständnis hat, wo keines sein sollte und seine Art doch mit Wiederwillen ablehnt. Der Roman ist erzählerisch dicht, er erfordert Aufmerksamkeit, eckt immer wieder an, zieht einen in seinen Strudel. Die Luft ist knapp, der Schleier über der Geschichte kompakt. Unfassbar ist die Kunst, die die Autorin mit ihrer nüchternen Sprachgewalt an den Tag legt. Zitronen ist ein Buch, das nachhaltig in Erinnerung bleibt und trotz aller Grausamkeit durch die hohe Erzählkunst einfach umwerfend ist! Meines Erachtens ein Meisterwerk!