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Veröffentlicht am 13.08.2019

Holocaustopfer, oder doch Naziverbrecher?

Hannah und ihre Brüder
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„Hannah und ihre Brüder“ ist der erste, in sich geschlossene Band, rund um die Anwältin Catherine Lockhart und den Privatdetektiv Liam Taggart, die sich schon von Kindesbeinen an kennen. Dabei halten sich ...

„Hannah und ihre Brüder“ ist der erste, in sich geschlossene Band, rund um die Anwältin Catherine Lockhart und den Privatdetektiv Liam Taggart, die sich schon von Kindesbeinen an kennen. Dabei halten sich diese beiden „Serienprotagonisten“ zumindest im Falle von „Hannah und ihre Brüder“ stark im Hintergrund; im Vordergrund steht ganz eindeutig der betagte Ben Solomon, der im hohen Alter in Elliot Rosenzweig, einem schwerreichen und hochangesehenen Bürger, ausgerechnet jenen Otto Piontek zu erkennen sicher ist, der bei seiner Familie aufgewachsen ist und ihm wie ein Bruder war – bis der Zweite Weltkrieg ausbrach und Otto von seinen deutschen Eltern von Bens Familie fortgeholt wurde und einen Posten bei den Nazis zugeschustert bekam. Obschon Otto diesen zunächst nur widerwillig antrat; und zwar nur, um seinen jüdischen Freunden und ganz besonders seiner „Ersatzfamilie“ Hilfe zuteil werden lassen zu können; läuft er bald mehr und mehr zur Nazi-Ideologie über; und der jüdische Ben muss ebenso wie all die Anderen, die Otto zuvor sehr nahegestanden haben, nicht nur diesen Verrat verkraften, sondern auch irgendwie das Grauen des Holocaust überstehen zu versuchen…

In „Hannah und ihre Brüder“ bekommen weithin Catherine und Liam seine Lebensgeschichte von Ben erzählt, der stur darauf beharrt, dass Elliot Rosenzweig als der Naziverbrecher Otto Piontek enttarnt werden muss, während in einem erzählten Nebenstrang jener Elliot Rosenzweig darauf beharrt, das Opfer einer Verwechslung geworden zu sein, wobei er zugleich (angeblich aus Rücksicht auf den seiner Meinung nach verwirrten Ben) ein Gerichtsverfahren unter allen Umständen vermeiden will – das ist hingegen das, was Ben auf jeden Fall erreichen will: Die Welt soll wissen, wer Elliot Rosenzweig wirklich ist. Dabei ist die Konstellation Solomon/Rosenzweig ähnlich David/Goliath: Ben war ein kleiner Arbeiter, während Rosenzweig ein Milliardenimperium besitzt und über Kontakte verfügt, die ihm, zusammen mit seinem Vermögen, quasi alles möglich machen… doch Ben lässt sich weder einschüchtern noch bestechen noch… und das obschon die Beweislage hauchdünn ist. Bens Kampf scheint aussichtslos zu sein, aber nichtsdestotrotz bleibt er optimistisch und überzeugt davon, Elliot Rosenzweig stürzen zu können, der selbst behauptet, einst Opfer der Nazis gewesen und in Auschwitz inhaftiert gewesen zu sein, was die Vorwürfe noch heikler macht.
Es bleibt sehr lange offen, ob Elliot Rosenzweig Otto Piontek wirklich nur, auch von der Stimme her, ähnelt oder ob sich hier ein Nazi-Verbrecher seit Kriegsende als ein Opfer der Nazis ausgibt; wie gesagt: die Beweise sind rar, ohnehin eher Indizien, und bis kurz vor Schluss bleibt einem als Leser also nur übrig, Ben entweder zu glauben, an ihm zu zweifeln oder auch zu denken, die Kriegstraumata hätten ihn nun endgültig übermannt…
„Hannah und ihre Brüder“ konzentriert sich aber eben sehr darauf, dass Ben seine Lebensgeschichte erzählt bzw. seine Erlebnisse während des Nationalsozialismus wiedergibt und das ist so ungemein packend, dass man ihm einfach wie gebannt zuhören möchte und es für einen als Leser schon fast unwichtig wird, ob Ben Rosenzweig nun verwechselt hat oder nicht; ja, für Ben bleibt das das zentrale Thema, aber für mich als Leserin geriet diese Frage bald ein wenig ins Hintertreffen, obschon ich die richtige Antwort darauf selbstverständlich auch kennenlernen wollte.
Ben war eine sehr beeindruckende Figur, die eben viel Raum einnahm und ich war ehrlich gesagt etwas verblüfft, dass mit diesem Roman eine Lockhart/Taggart-Serie starten sollte, denn jene beiden Figuren fielen eben gar nicht groß weiter auf; es war nicht so, dass ich dachte, ich würde mir weitere Romane mit Catherine Lockhart und Liam Taggart wünschen. Aber es war definitiv so, dass ich mir weitere Romane in dieser Lesart, diesem Erzählstil, wünschte, wo alte Menschen aus ihrer spannenden Biografie erzählen und eben im Hintergrund vielleicht ein wenig recherchiert, ermittelt… wird, ohne den Fokus vom berichtenden Menschen, um dessen Vergangenheit es letztlich geht, zu nehmen.
Zumindest der zweite Band der Reihe, „Karolinas Töchter“, ist ebenfalls bereits erschienen und jenen Roman werde ich mir sicherlich auch noch durchlesen, um herauszufinden, ob die Reihe den in „Hannah und ihre Brüder“ gezeigten Stil weiterhin beibehält. „Hannah und ihre Brüder“ fand ich nun jedenfalls eine tolle Geschichte!



[Ein Rezensionsexemplar war mir, via #NetGalleyDE, unentgeltlich zur Verfügung gestellt worden.]

Veröffentlicht am 12.08.2019

Spannende Thematik zu diffus umgesetzt

Du gehörst mir
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Eine Leseprobe vom Romananfang hatte mich im Vorfeld schwer beeindruckt und obschon mich die Täterperspektive zwar faszinierte, aber auch relativ verängstigte, wollte ich diesen Roman dann doch sehr gerne ...

Eine Leseprobe vom Romananfang hatte mich im Vorfeld schwer beeindruckt und obschon mich die Täterperspektive zwar faszinierte, aber auch relativ verängstigte, wollte ich diesen Roman dann doch sehr gerne lesen, auch um zu erfahren, ob sich der eher nüchterne, knochentrockene Ton der erzählenden Hauptfigur weiterhin so durch die gesamte Geschichte halten würde oder ob er noch deutlich emotionaler werden würde.
Tja, nun habe ich den Roman gelesen; die Thematik finde ich immer noch ungewöhnlich, die Perspektive krass gewählt: Die hinter dieser Erzählung steckenden Idee finde ich absolut spannend, aber die Umsetzung hat mich letztlich doch eher enttäuscht.
Dereinst hatte ich die englischsprachige Novelle „Harmony, USA“ von Lewis Bryan gelesen, welche auch von einem (sogar Mehrfach)Mörder selbst erzählt ist, auch wenn die dortigen Taten und ihre Hintergründe sich total vom Verbrechen in „Du gehörst mir“ unterscheiden, aber das war ein eBook, was mich sehr in seinen Bann gezogen und begeistert hat; im Falle von Middendorps Werk hatte ich eben aber auf ein vergleichbar positives Leseerlebnis gehofft.

Mir blieb Tille allerdings viel zu diffus; ja, der trockene Erzählstil wurde beibehalten, man spürte auch nie Gewissensbisse, Reue oder überhaupt nur ein Bewusstsein für die begangene Tat; für mich hätte er genauso gut sagen können, dass es gestern geregnet hat. Auch innert der eigenen Familie war eine große Distanz spürbar; lediglich die Tochter wurde immer als „Papa-Kind“ genannt, so dass ich letztlich das ungute Gefühl hatte, dass Tilles tatsächliches Opfer für ihn zudem nur eine Projektion seiner Tochter gewesen sein könnte… (und eben nicht den Eindruck gewann, dass er von seiner Tat heimgesucht werde, je mehr sich seine Tochter ans Alter seines Opfers annäherte)
Das Ganze ist zudem achronologisch erzählt, und zwar fließend: Es gibt also keine klaren Abgrenzungen, die verschiedenen Zeitstränge fließen häufig ineinander über und hier habe ich teils wirklich nicht gewusst, ob Tille nun von seinen Kindern spricht, etwas aus seiner Kindheit erinnert, ob „jetzt“ vor dem Mord oder danach ist… Es war definitiv alles sehr verschwommen, was die Handlung nicht weniger diffus erscheinen ließ. Manchmal wirkten einzelne Absätze in meinen Augen auch völlig zusammenhanglos, was ihr direktes Drumherum betraf, so dass ich mich an vier oder fünf Stellen wirklich fragte, ob der Erzähler nun quasi einfach nur irgendetwas brabbelte oder ob die Übersetzung da so holperig war, dass aus dem Original irgendetwas nicht richtig übertragen worden war.
Wenn es an anderen Stellen heißt, „Du gehörst mir“ sei ein verstörender Roman: definitiv. Aber ich empfand ihn da wohl als anders verstörend, als es in jenen Fällen vermutlich gemeint war.

Ich hatte auch nie das Gefühl, dass Tille sich irgendwie unter Druck fühlte; wurde in seinem Umfeld über Täter spekuliert, blieb er eher zurückhaltend und schon nahezu teilnahmslos. Seine Frau war sehr engagiert bzw. neugierig; jene verfolgte den Fall ganz genau, aber das wurde mir von Tille halt auch einfach mal so hingenommen – obschon ich aufgrund der Schilderungen Tilles später selbst den Eindruck gewann, dass seine Frau ihn durchaus eventuell gar längst selbst verdächtigte… insgesamt war mir die tatsächliche Handlung nun noch relativ weit von der Buchbeschreibung entfernt; tatsächlich endet der Roman auch bereits kurz nach Tilles Inhaftierung, also von der Wucht der „überwältigenden Wahrheit“ erfährt man kaum mehr etwas. Alles in Allem steckt man im Kopf eines Vergewaltigers und Mörders, der seiner Tat scheinbar eher gleichgültig gegenübersteht; für mich hatte das so ein bisschen von „na, wenn sie mich kriegen, okay – wenn nicht: sei’s halt drum“… die Tat wurde auch eher sporadisch erwähnt (was ich angesichts des Protagonisten und des von ihm begangenen Verbrechens, das ja eigentlich der zentrale Punkt der Erzählung ist zugegeben erstaunlich fand: Dieser Roman hat in diesem Zusammenhang auffallend wenig Triggerpotential) und die einzigen Verschiebungsmechanismen, die für mich da erkennbar waren, war, dass er die Tatumstände zunächst „beschönigte“. Die Verdrängung kam bei mir als solche gar nicht wirklich an, auch nicht die störenden Erinnerungen: Auf mich wirkte Tille wie ein sehr introvertierter Typ, der viel grübelte, aber sein eigenes Tun weder reflektierte noch sich sonderlich um sich selbst scherte. Eher so der Typ „brummiger Eigenbrötler von nebenan“, von dem man überzeugt ist, dass er zwar ein wenig seltsam ist, aber keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.
Ein Einblick in eine Täterseele wurde angekündigt, der entpuppte sich meiner Ansicht nach aber wiederum als absolut spekulativ. Da es ja hier nun um einen ganz spezifischen Mensch ging, war mir das schließlich einfach zu wenig deutlich und zu sehr den Analysen des Lesers überlassen.

Wer gerne selbst Romanfiguren analysiert, zumindest für den ist „Du gehörst mir“ ein wahrer literarischer Glückstreffer!


[Vorab: Ein Rezensionsexemplar war mir, via Vorablesen, unentgeltlich zur Verfügung gestellt worden.]

Veröffentlicht am 09.08.2019

Holterdipolter: Genre über Genre

Kalte Wasser
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Das Erste, was ich noch vor der Veröffentlichung von „Kalte Wasser“ zu lesen bekam, war der Beginn eben dieses Romans, der mir auf Anhieb sehr reizvoll erschien, wobei ich stark gemutmaßt habe, dass die ...

Das Erste, was ich noch vor der Veröffentlichung von „Kalte Wasser“ zu lesen bekam, war der Beginn eben dieses Romans, der mir auf Anhieb sehr reizvoll erschien, wobei ich stark gemutmaßt habe, dass die Mysteryschiene in einer Sackgasse enden würde – ich bin von Anfang an eher davon ausgegangen, dass Lauren unter postnatalen Depressionen leidet, die sie halluzinieren lassen. Tatsächlich wird bei Lauren auch schnell eine psychische Belastungsstörung diagnostiziert und hernach zeigte sich für mich das grundsätzliche Problem dieses Mysterythrillers: Er will tatsächlich alle Genres; Mystery, Thriller und Krimi; abdecken; dazu kommt noch ein großer Schuss semi- bis unglücklicher Liebesroman (denn Laurens Mann Patrick ist eher distanziert und hat auch so seine Geheimnisse; im Allgemeinen kam da auch nicht das Gefühl eines liebevollen und glücklichen, frischgebackenen Elternpaares auf) zu dem, was ohnehin schon ein Familiendrama war.
Dann gibt es noch diesen Strang rund um die ambitionierte Polizistin Jo(anna) Harper, deren eigentlich nicht vorhandenes Privatleben ständig explizit behandelt wird; da gibt es ein angeblich wichtiges Detail aus der Vergangenheit, weswegen sie sich Lauren angeblich so nahefühlt: Diese Argumentation schien mir allerdings reichlich an den Haaren herbeigezogen; so sehr ähnelten sich die persönlichen Erfahrungen dann doch nicht. Auch ihre persönlichen Beziehungen wurden derart herausgestellt, dass man hätte vermuten können, „Kalte Wasser“ ist der Auftakt zu einer Krimireihe rund um diese Ermittlerin.
Mir fehlte da ganz klar die direkte Konzentration; klar, wenn ein Buch ganz strikt und konsequent linear lediglich einen Erzählstrang verfolgt, wirkt das sehr eintönig, aber dieser Roman glich statt einer Einbahnstraße auf dem platten Land dann direkt dem Frankfurter Kreuz.
Ich mag Mysteryromane, ich mag Thriller, ich mag Krimis, ich lese auch gerne mal was Dramatisches, aber in diesem Fall war es mir einfach zu viel und von Autorenseite zu unentschlossen: Hatte grad alles klar darauf hingedeutet, dass dieser Roman ein Psychothriller-Ende finden würde, zumal dann auch noch eine mutmaßliche Stalkerin eingeführt wurde, wurde auf der nächsten Seite wieder krass gen Mystery abgedriftet – und ich wusste gar nicht mehr, mit wem ich nun überhaupt mitfiebern wollte; mir blieben alle Figuren völlig fremd, und sympathisch fand ich eigentlich keinen, inklusive Joanna Harper, die zwar eben sehr engagiert war, aber eben auch überengagiert und sich zunächst vor Allem auch völlig unnütz einbrachte, denn die Ermittlungen waren nicht nur abgeschlossen, sondern der Fall war offiziell nie eröffnet worden, als sie –den Anweisungen ihres Chefs zum Trotz- im Krankenhaus doch noch weitere Nachforschungen anstellte. Im klassischen Krimi hätte ich das allerdings wiederum recht sympathisch gefunden… aber hier gab es, wie sie selbst auch immer betonte, überhaupt keinen echten Grund für ihren persönlichen Einsatz.

Den reinen Mystery-Teil von „Kalte Wasser“ fand ich allerdings sehr spannend; der große Rest war dann allerdings eben wie ein riesiger Stolperstein, der mir den Lesespaß ein wenig getrübt hat. Alles in Allem kommt der Roman so für mich nicht über 3,8* Sterne hinaus, was aufgerundet dann wohlgemeinte vier Sterne ergibt. Allerdings erwarte ich nun irgendwie doch zumindest auch einen Folgeband rund um DI Harper, die da wiederum in irgendein Mysterium verwickelt wird (oder sich verwickeln lässt). Denn so bin ich grade in jenem Bereich nicht mit dem Ende zufrieden – und auch der Mysteryteil hätte sich detaillierter entschlüsseln lassen können; da kann man sich als Leser letztlich lediglich selbst noch etwas mehr Hintergrundgeschichte zusammenreimen.
Als reiner Mysteryroman; ohne diese ganzen ständig falsch gelegten Fährten, ohne das Privatbrimborium der Polizistin; würde mir „Kalte Wasser“ richtig gut gefallen haben, aber dazu hätte eben sehr viel der Handlung wegdezimiert werden müssen und der Mysterypart sehr viel weiter aufgedeckt und erklärt werden – wer sich für dieses Buch entscheidet, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er eben vornehmlich einen Mysterythriller zu lesen bekommt, der dabei ständig in andere Genres abdriftet. Zumindest wer so einen immensen Mix mag, wird mit dieser Lektüre ausnehmend gut bedient sein!

[Ein Rezensionsexemplar war mir, via #NetGalleyDE, unentgeltlich zur Verfügung gestellt worden.]

Veröffentlicht am 08.08.2019

Der bisher hellste Lebensabschnitt, in finsteren Wäldern...

Sal
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Man muss nur öffentlich verfügbare Leseproben dieses Romans lesen, welche den Anfang des Romans abbilden, um angesichts der Kurzbeschreibung schon ein wenig irritiert zu sein: Sehr beiläufig, aber doch ...

Man muss nur öffentlich verfügbare Leseproben dieses Romans lesen, welche den Anfang des Romans abbilden, um angesichts der Kurzbeschreibung schon ein wenig irritiert zu sein: Sehr beiläufig, aber doch sehr direkt, erzählt Sal da nämlich, dass besagter Freund der Mutter, vor dem Sal ihre kleine Schwester Peppa schützen will, „das Einzige ist, was sie bislang getötet hat“. Die Flucht vor diesem Mann, der Sal bereits jahrelang sexuell missbraucht hat, ist also in erster Linie eine Flucht vor der Polizei – und dem Jugendamt, welches Sal selbst gerne schon früher hinzugezogen hätte, aber sie war doch indoktriniert worden, dass in jenem Fall die Schwestern ganz sicher voneinander getrennt werden würden.
Auch abseits der Problematik des sexuellen Missbrauchs, der in diesem Roman zwar erwähnt, aber nicht detailliert thematisiert wird, entstammen Sal und Peppa aus einer arg dysfunktionalen Familie: Beide Mädchen, von verschiedenen Vätern abstammend, lieben ihre Mutter sehr, die nach außen hin auf „heile Welt“ zu machen versucht, dabei aber starke Alkoholikerin ist, und mit ihren Kindern in einer Gegend lebt, die sich gemeinhin wohl als „sozialer Brennpunkt“ bezeichnen lassen kann, und ihre Familie eher schlecht als recht z.B. als Stripperin durchbringt. Auch ihr (später dann ermordeter) Freund ist ein saufender Kleinganove, was Sal immerhin zupass kommt, da sie ihm im Rausch die von ihm geklauten Kreditkarten wiederum stibitzen kann, um sich die nötigen Sachen für ihre von langer Hand geplanten Flucht in die schottische Wildnis besorgen zu können.
Seit einem Jahr hat sich Sal sämtliche Survivalvideos auf YouTube angesehen, sich sämtliche Instruktionen genauestens eingeprägt; immer wieder erklärt sie später ganz genau, was sie nun warum tut – und für mich zeigte genau dieses Verhalten ganz besonders das Dilemma auf, in dem die Schwestern steckten, und wie schwertraumatisiert dieses Kind sein musste (und aus demselben Grund schockierte mich auch der letztliche Ausgang des Ganzen für Sal ein wenig). Wie verzweifelt, und im wahrsten Sinn des Wortes: bedrängt, muss sich eine 13Jährige fühlen, die meint, keine andere Wahl zu haben als sich mit ihrer Schwester tief in den Wäldern zu verstecken, um sich dort ein „Leben“ aufzubauen? Ich fand es völlig erschreckend, dass Sal alles über Monate hinweg scheinbar eiskalt und bis ins kleinste Detail durchgeplant hatte.
Im bisherigen Leben war Sal die „Erwachsene“ und eigentlich kaum einmal Kind gewesen: Nach der Geburt Peppas war es hauptsächlich Sal, die sich um ihre Schwester kümmerte, die weite Teile der im Haushalt anfallenden Arbeiten erledigte, da die Mutter ja ständig volltrunken war; im Alter von 10 begannen der sexuelle Missbrauch, während dem angekündigt wurde, sobald Peppa 10 sei, sei auch sie „fällig“… als dann plötzlich die leicht verrückt wirkende Eigenbrötlerin Ingrid, die ganz bewusst und freiwillig mitten im Wald lebt, wird auch relativ schnell deutlich, wie sehr die Mädchen eine „echte“, erwachsene Mutterfigur benötigen, denn Ingrid wird sehr schnell zu einer Vertrauten, die den Kindern auch hilfreich zur Seite steht und sich um sie kümmert, grad wenn sie doch mit unerwarteten Widrigkeiten konfrontiert werden…
Ich hatte sehr bald das Gefühl, dass erst dieses Leben draußen, die Gespräche mit Ingrid, Sal, und auch Peppa, so richtig geerdet hat und dass dies im Prinzip das erste „normale“ Geschehen ihres Lebens sei, obschon es ja definitiv nicht gängig ist, dass Geschwisterkinder, ob nun ohne oder auch mit den Eltern, in ein selbstgebautes Camp im Nirgendwo ziehen.
Sobald die Figur der Ingrid eingeführt wurde, tauten Sal und Peppa zudem auf und wurden allgemein offener, kindlicher. Bis dahin hatte es mich noch ein wenig irritiert, dass Sal mit ihren 13 Jahren derart abgeklärt war und beide Schwestern auch da eher reichlich lapidar reagierten, wo ich deutlichere Gefühlsausbrüche, oder überhaupt einfach nur einen etwas weniger nüchternen, staubtrockenen Auftritt erwartet hatte – aber andererseits waren die Zwei ja ohnehin daran gewöhnt, dass es im Leben quasi hauptsächlich um „irgendwie überleben“ ging und dass sie für sich selbst verantwortlich waren. Dennoch fand ich es verwunderlich, dass es nie zu einem Temperamentausbruch welcher Intensität auch immer kam.

Insgesamt wirkte die Geschichte auf mich aber trotzdem leicht befremdlich, eher emotionslos und glasklar erzählt. Mich hat „Sal“ auf seltsame Weise aber auch sehr fasziniert und ich habe weiterundweitergelesen, vor Allem auch, weil ich wissen wollte, wie die Geschichte für die Schwestern weiterhin verliefe und eben auch ausginge. „Sal“ war letztlich ein sehr gutes, aber nicht überwältigendes Buch, und ich räume ein, dass mich in Sachen „als Kind in miese Umstände hineingeboren und (draußen in der Wildnis) damit klarkommen“ der zuletzt ebenfalls auch auf Deutsch erschienene Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens weitaus mehr beeindruckt hat; eindringliche Titel sind es aber beide allemal!



[Ein Rezensionsexemplar war mir, via Vorablesen, unentgeltlich zur Verfügung gestellt worden.]

Veröffentlicht am 03.08.2019

Stimmungsvoll, auf eine schwere Weise

Dunkelsommer
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Im Falle von „Dunkelsommer“ ist der Titel Programm: Die Handlung trägt sich zwar (vornehmlich) im Sommer zu, das jedoch in einer eher abgelegenen, dicht bewaldeten Gegend Schwedens, wo die Natur schon ...

Im Falle von „Dunkelsommer“ ist der Titel Programm: Die Handlung trägt sich zwar (vornehmlich) im Sommer zu, das jedoch in einer eher abgelegenen, dicht bewaldeten Gegend Schwedens, wo die Natur schon entsprechend viel Licht schluckt – das eben selbst zu einer Jahreszeit, während der es in Schweden nahezu rund um die Uhr taghell ist. Ohnehin ist „Dunkelsommer“ auch vom Text her ein sehr düster-atmosphärischer Roman, der zum Einen den trunksüchtigen, lethargischen Lelle, der seit dem Verschwinden seiner Teenie-Tochter vor einigen Jahren Nacht für Nacht die weitere Umgebung etappenweise durchforstet, in der Hoffnung, Spuren seiner Tochter zu finden und der zum Anderen die Jugendliche Meja in den Mittelpunkt stellt, die zusammen mit ihrer Mutter eine relativ dysfunktionale Familie bildet und deren Mutter nun, quasi Hals über Kopf, gemeinsam mit ihr in diese dichte Waldregion gezogen ist, zum neuen „Lebensgefährten“ der Mutter, ursprünglich eine Onlinebekanntschaft, wobei der neue Partner auch recht schmierig und eigenbrötlerisch wirkt… letztlich wirken hier alle Figuren sehr auf sich allein gestellt und in kein gefestigtes Umfeld eingebettet, so dass es schon fast erschreckend auffällig ist, als Meja sich spontan in einen von drei Brüdern verknallt, die sie zufällig kennenlernt und deren Familiengefüge völlig solide erscheint. Auf den ersten Blick. Für den Leser scheint hier aber schon bald etwas leicht Archaisches durch – von Anfang an kann man sich zudem denken, nicht zuletzt des Klappentexts wegen, dass sich Lelles und Mejas Wege letztlich kreuzen werden. Zu unterschiedlich sind diese beiden Stränge, zu wenig haben sie zunächst miteinander zu tun als dass es sonst Sinn ergeben könnte, warum ausgerechnet diese beiden Figuren im selben Buch behandelt werden: Man ist sich auch ohne die Buchbeschreibung gelesen zu haben sehr früh sicher, dass es hier eine Schnittstelle geben muss; zudem klingt Meja sehr nach Lina, der verschwundenen Tochter Lelles, und man befürchtet frühzeitig, dass Meja drauf und dran ist, zum nächsten Opfer zu werden. Nur von welchem Täter? In diesem Roman scheinen alle ein wenig dubios zu sein; der neue „Stiefvater“ wirkt sofort besonders verdächtig, aber irgendwie bleibt zunächst alles kaum greifbar. Es ist mehr Intuition als Miträtseln gefragt – ich hatte zwar relativ früh eine ganz bestimmte Ahnung, die in die letztlich richtige Richtung ging, aber diese erschien mir auf Anhieb doch zu extrem.

Dass „Dunkelsommer“ als bester schwedischer Spannungsroman ausgezeichnet worden ist, kann ich durchaus verstehen. Dies ist in meinen Augen ein definitiv empfehlenswerter Roman für alle Leser, die düster-atmosphärische Thriller, die sich eher wie ein (Sozial)Drama abspielen, mit einem Hauch Verlorenheit und einer Prise Melancholie sehr schätzen.


[Ein Rezensionsexemplar war mir, via Vorablesen, unentgeltlich zur Verfügung gestellt worden.]