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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.07.2023

Wenig Tempo aber viel Herzblut

Sterne über Siena
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Inhalt:
Romeo und Julia in Siena, zwei verfeindete Familien mit tragischer Vergangenheit, eine Protagonistin mit Geschäftssinn, ein Protagonist mit einem Herz für Tiere, ein wenig Kulinarik sowie der Palio ...

Inhalt:
Romeo und Julia in Siena, zwei verfeindete Familien mit tragischer Vergangenheit, eine Protagonistin mit Geschäftssinn, ein Protagonist mit einem Herz für Tiere, ein wenig Kulinarik sowie der Palio di Siena, das gefährlichste Pferderennen der Welt. Das alles und viel mehr ist "Sterne über Siena", das in die malerische Toskana entführt.

Meine Meinung:
Erst gerade im April habe ich "Die Wolkenfischerin" von Claudia Winter gelesen und nun habe ich es im Juni noch geschafft, dieses Buch zu beenden. Obwohl mir "Die Wolkenfischerin" damals eigentlich gut gefallen hat, hatte ich an den Beschreibungen der Figuren, insbesondere der als sehr naiv dargestellten Protagonistin einiges zu kritisieren. Um so mehr hat es mich überrascht und vor allem auch gefreut, dass mir Claudia Winter ihr neuestes Buch zukommen lassen wollte, damit ich mir davon ein Bild machen konnte.
Tatsächlich haben mir in "Sterne über Siena" vor allem die Figuren sehr gut gefallen, wenn auch leider die die Kulinarik der Region ein wenig zu kurz kam. Um so detaillierter wurden die verfeindeten Familien Volani und Graziotti dargestellt und voller Interesse habe ich die Schilderungen des Palio di Siena gelesen. Vor allem Alessio, der Tierarzt ist und das Pferderennen aufs Schärfste verurteilt, hat mich mit seiner Haltung für sich einnehmen können. Solche Pferderennen zur Belustigung der Massen - Tradition hin oder her - gehören selbstverständlich verboten und ich fand es sehr gut, dass diese Sicht der Dinge eine Stimme bekommt.
Auch Emilia als Protagonistin mit Geschäftssinn, die sich gegen ihren vor Gram zerfressenen Vater, einen alten Patriarchen mit überholten Weltanschauungen behaupten muss, hat mir sehr gut gefallen.

Schreibstil und Aufbau:
Tatsächlich ist mir die Geschichte aber ein wenig zu sehr vor sich hin geplätschert und ich hätte mir insgesamt ein wenig mehr Tempo oder mehr Beschreibungen der Nebenfiguren und Schauplätze sowie Tiefgang gewünscht. Stattdessen lag Winters Augenmerk vor allem auf der Familienfehde und dem Palio. Von ihren Recherchen bin ich übrigens begeistert, sie hat sich intensiv mit dem Rennen befasst, war selber zu Recherchezwecken vor Ort und hat ihre Leser*innen bei Instagram auch auf diese Reise mitgenommen und ganz viel von ihren Erlebnissen erzählt.
Ganz am Ende der Geschichte gelingt Winter, was ich mir vorher schon ein wenig mehr gewünscht hätte. Es kommen grosse Emotionen und vor allem Spannung auf. Ich weiss nicht, wie es der Autorin gelungen ist, aber ich habe die letzten Seiten mit angehaltenem Atem und tränenüberströmt gelesen, so sehr war ich mitten in diesem absolut fesselnden Finale gefangen. Wow, diese Frau kann schreiben!

Meine Empfehlung:
Nur schon aufgrund des Schlusses lohnt sich dieses Buch sehr, auch wenn mir die Geschichte insgesamt ein wenig zu sehr vor sich hingeplätschert ist. Dafür gelingt es Claudia Winter, auf einen problematischen Pferdesport aufmerksam zu machen und charakterstarke, toll ausgearbeitete Figuren zu skizzieren. Die Recherchenarbeit ist grandios in die Geschichte eingewoben und die Faszination der Autorin für die Toskana und Siena ist auf jeder Seite spürbar und hat mich überzeugt.

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Veröffentlicht am 24.06.2023

Vampirgeschichte ohne Biss

Die nicht sterben
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Inhalt:
Die namenlose Protagonistin, eine junge Künstlerin, kehrt über die Sommermonate nach B. zurück und begegnet in der Villa ihrer Grosstante ihrer Familiengeschichte und der Geschichte ihrer Heimat ...

Inhalt:
Die namenlose Protagonistin, eine junge Künstlerin, kehrt über die Sommermonate nach B. zurück und begegnet in der Villa ihrer Grosstante ihrer Familiengeschichte und der Geschichte ihrer Heimat ganz neu. Kritisch setzt sie sich damit auseinander und kommt dabei immer wieder in Versuchung, einem heimlichen, ungezähmten Verlangen nachzugeben. Dieser Roman steckt voller Metaphern, Gesellschaftskritik und Geschichte. Wenn man sich darauf einlässt und mit detaillierten Schilderungen von Pfählungen umgehen kann, wird man mit einem beeindruckenden Hin und Her zwischen Traum und Wirklichkeit belohnt.

Meine Meinung:
Auf diese Geschichte muss man sich ein wenig einlassen, aber eine gute Freundin von mir kommt aus Rumänien, weshalb ich schnell auf "vertrautes" Terrain gestossen bin. Ihre Geschichten über ihre Heimat decken sich nämlich sehr mit Grigorceas Schilderungen. Korruption, resp. Erfindungsreichtum, wenn es um die Dehnbarkeit von Gesetzen geht, Armut, Ungleichbehandlungen sowie ein tief verankerter Konservativismus und Aberglaube beherrschen und beschäftigen die Menschen des Dorfes B. Als für eine Beerdigung ein Familiengrab geöffnet wird, dabei eine unschön zugerichtete Leiche zum Vorschein kommt und dieser Fund überregionales Aufsehen erregt, zeigt sich, wie tief Vorurteile und Machtmissbrauch in der Gesellschaft verankert wird. Die Protagonistin ist es letztendlich, welche am schonungslosesten mit dieser bitteren Realität konfrontiert wird und die der bis in die Neuzeit reichenden Ausstrahlung von Vlad (Dracula) dem Pfähler am nächsten kommt.
Genau dieser Dracula und die vermutete (und angekündigte) Vampirgeschichte ist leider nicht so spannend und gruselig, wie erwartet. So sehr die gesellschaftlichen Abgründe und Schilderungen der Pfählungen aufwühlen, so wenig hat mich der Fürst der Finsternis beeindrucken können, was leider sehr schade ist.

Meine Empfehlung:
Bildgewaltig, manchmal brutal und immer wieder sehr unterhaltsam? Auf jeden Fall. So richtig gruselig wird es aber nie und die zwar gekonnt zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmende Vampirthematik hat mir leider insgesamt zu wenig Hand und Fuss (respektive Biss ). Dennoch empfinde ich das Buch als sehr lesenswert und empfehle es gerne weiter.

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Veröffentlicht am 14.06.2023

Ein wenig langsam erzählt, toll aufgelöst

In Sachen Signora Brunetti
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Inhalt:
Commissario Brunetti ist entsetzt, als er mitten in der Nacht in einem leeren Bett erwacht und kurz darauf einen Anruf aus der Questura erhält. Seine Frau Paola ist festgenommen worden, nachdem ...

Inhalt:
Commissario Brunetti ist entsetzt, als er mitten in der Nacht in einem leeren Bett erwacht und kurz darauf einen Anruf aus der Questura erhält. Seine Frau Paola ist festgenommen worden, nachdem sie die Schaufensterscheibe eines Reisebüros mit einem Stein eingeworfen hat, um gegen die vermittelten Sexreisen zu protestieren. Vom moralischen Standpunkt her kann Brunetti sie verstehen. Dass er aber jetzt um seine Position fürchten muss und dass seine Frau nach einem scheinbar mit dem Vandalismus zusammenhängenden Leichenfund nun auch noch unter Mordverdacht gerät, passt ihm gar nicht, weshalb er alles daran setzt, den Fall schnellstmöglich aufzuklären.

Meine Meinung:
Es ist kein Geheimnis mehr, dass ich sehr gerne in den Brunetti-Krimis schmökere und die Ausflüge nach Venedig sehr geniesse. Beim Lesen dieses Krimis ist mir einmal mehr bewusst geworden, dass es mir wirklich gefällt, mit wie viel Respekt, Ehrlichkeit und Zuneigung die Ehe der Brunettis geführt wird. Auch hat mir Paola als immer lauter werdende Frau, deren Ansichten zur Religion und Gesellschaft sehr viel fortschrittlicher sind, als die ihres Mannes, in ihrer Rolle als wütende Rächerin sehr gut gefallen.
Weniger gut weggekommen ist Venedig. Die vielen schönen Beschreibungen der Orte und vor allem auch des Essens sind in diesem Buch definitiv zu kurz gekommen und auch plätschert die Geschichte für meinen Geschmack ein wenig gar sehr dahin. Die Auflösung hat es dann aber definitiv wieder in sich und ich finde es sehr beeindruckend, wie oft Donna Leon in ihren Krimis "Recht haben" gegen "Recht bekommen" ausspielt und dabei aufzeigt, wie fragil ein Justizsystem und damit auch eine Gesellschaft sein kann.

Meine Empfehlung:
Obwohl mir dieser Krimi ein wenig zu langsam war und ich den Venedig-Charme vermisst habe, hat mir vor allem Paola Brunetti als Figur sehr gut gefallen. Ausserdem steckt wieder sehr viel schriftstellerisches Können im Aufbau und der Auflösung und ich freue mich schon auf den nächsten Brunetti-Krimi.

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Veröffentlicht am 02.06.2023

Lesenswert, wenn auch gegen Ende ein wenig zäh

Mädchen, Frau, etc.
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Inhalt:
Zwölf Schicksale, zwölf Lebensgeschichten voller Rassismus, Ausgrenzung, Feminismus, der Suche nach sich selbst, der Rolle als Frau oder nichtbinären Person und auch voller Erfolg, Kampfgeist und ...

Inhalt:
Zwölf Schicksale, zwölf Lebensgeschichten voller Rassismus, Ausgrenzung, Feminismus, der Suche nach sich selbst, der Rolle als Frau oder nichtbinären Person und auch voller Erfolg, Kampfgeist und Mut. Ausserdem beinhaltet das Buch ganz viel sprachliche Finesse, Zusammenhalt, Kunst und Kultur, Freundschaft und Liebe.

Meine Meinung:
"Mädchen, Frau, etc." ist das letzte Buch, das ich im Mai 2023 beendet habe und es hat mich fast den ganzen Monat hindurch begleitet. Vor allem anfangs war ich begeistert von der Sprache, vom Aufbau und den bunten, wilden, freien Figuren. Ich war berührt von den tragischen, brutalen Schicksalen und Lebensgeschichten, von den Beschreibungen, die kein Blatt vor den Mund nehmen und queere Lebensrealitäten so selbstverständlich inkludieren. Ausserdem habe ich mich durch viele unterhaltsame und romantische Szenen auch immer wieder bestens unterhalten gefühlt. Dann aber wurde mir das Ganze ein wenig zu ausschweifend, die Biografien der einzelnen Figuren ähnelten sich gegen Ende gar sehr und hielten - allen Widrigkeiten zum Trotz - doch immer einige zu konstruiert wirkende positive Auflösungen und Wendungen bereit.

Schreibstil und Aufbau:
Ganz besonders fällt - zumindest anfangs - auf, dass der Text nahezu ohne Satzzeichen auskommt. Frage- und Ausrufezeichen finden sich zwar, Punkte jedoch kaum. Stattdessen sorgen strategisch gesetzte Absätze für Lesepausen oder auch einen um so schnelleren Lesefluss. Ich kann mir vorstellen, dass der Text auch Mühe bereiten kann, sofern man sehr stark auf ein einheitliches Schriftbild und Satzzeichen angewiesen ist, ansonsten liest er sich aber enorm flüssig.
Das Buch ist so gegliedert, dass jeweils die Lebensgeschichte dreier zusammengehörender Figuren nacheinander erzählt wird. So gliedert sich das Buch in insgesamt vier grosse Abschnitte (à drei Figuren), dem grossen Finale und einem kurzen Epilog, in dem alle Fäden zusammenlaufen. Mir persönlich hat dieser Aufbau sehr gut gefallen und ich hatte zum Glück auch keine Probleme damit, den Überblick zu behalten, obwohl wirklich sehr viele Figuren auftauchen.

Fazit:
Alles in allem hat mir das Buch, das handwerklich geschickt geschrieben ist und wirklich sehr bewegend und inklusiv mitten aus den unterschiedlichsten Leben und gesellschaftlichen Kreisen erzählt, einiger Kritikpunkte zum Trotz sehr gut gefallen.

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Veröffentlicht am 30.05.2023

Lesenswerte und erschütternde Kurzgeschichten

Mann im Mond
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Inhalt:
"Mann im Mond" das sind zwölf Kurzgeschichten aus der Welt von Kindern, die nicht immer verstehen, was um sie herum und mit ihnen geschieht, die in schwierigen Situationen hilflos, stark, klug, ...

Inhalt:
"Mann im Mond" das sind zwölf Kurzgeschichten aus der Welt von Kindern, die nicht immer verstehen, was um sie herum und mit ihnen geschieht, die in schwierigen Situationen hilflos, stark, klug, mutig, resolut und/oder wütend handeln und aufgrund von abwesenden oder überforderten Erwachsenen entscheiden (müssen), zwölf Geschichten mit düsterer Grundstimmung, mit verstörenden und zum Nachdenken anregenden Szenen, poetisch, skurril, unterhaltsam und brutal direkt erzählt.

Meine Meinung:
Lana Bastašićs Roman "Fang den Hasen" hat mich vor zwei Jahren begeistert und so war es natürlich klar, dass ich auch weitere Bücher der Autorin lesen möchte. Dass es sich bei "Mann im Mond" um den 2020 unter dem Titel "Mliječni zubi" (Milchzähne) veröffentlichten Erzählband handelte, habe ich aufgrund des anderen Titels zuerst gar nicht realisiert und verstehe immer noch nicht wirklich, weshalb der Originaltitel nicht einfach ins Deutsche übertragen worden ist. Klar, "Mann im Mond" ist auch der Titel einer der zwölf Erzählungen, aber ganz ehrlich: "Milchzähne" hätte als Titel sehr viel besser zum Buch gepasst. In den Kurzgeschichten geht es immer darum, sich zu behaupten, erwachsen zu werden oder schlicht zu überleben. Die Kindheit und negative Erfahrungen werden überwunden, durchlitten oder abgestossen, wie abgetragene Kleidung (oder halt eben, wie Milchzähne).
Die Geschichten und die sehr beklemmende Grundstimmung haben mir sehr gut gefallen und mir einige Male eine Gänsehaut beschert und mich zum Nachdenken angeregt. Da ich eine bosnische Ausgabe des Buches besitze, habe ich ab und zu im Original gestöbert, was auch sehr spannend war und dabei ist mir trotz mangelhaften Bosnischkenntnissen aufgefallen, wie grandios Rebekka Zeinzinger Worte für die poetischen, skurrilen Bilder und Formulierungen gefunden hat, um sie dem deutschsprachigen Publikum so authentisch wie möglich aufzubereiten.

Schreibstil und Stimmung:
Die jungen Protagonist*innen der Erzählungen sind oft auf sich alleine gestellt, sind von ihren Eltern oder anderen eigentlich für sie verantwortlichen Erwachsenen verlassen oder blossgestellt worden und müssen in teilweise extremen Situationen der Gewalt, Vernachlässigung oder Scham für sich einstehen. Es geht um einige ziemlich aussergewöhnliche aber auch um mitten aus dem Leben gegriffene Situationen. Eine Situation beginnt oft harmlos und kippt dann ins Bedrohliche um, plötzlich geht es um Entscheidungen über Leben und Tod, um Entscheidungen für den eigenen Körper und gegen das Leben oder Wohlergehen einer übergriffigen Person. Fast skizzenhaft werden die entsprechenden Szenen und das beinhaltete Dilemma geschildert und nachdem die Szene mir rasant aufeinanderfolgenden Sätzen und Steigerungen zum Höhepunkt getrieben worden ist, bleiben eine Anspannung, ein offenes Ende und manchmal eine Leiche zurück.
Immer mal wieder kommt dabei auch ein zynischer Humor zum Vorschein, der für viele weitere Zwischentöne sorgt.

Meine Empfehlung:
"Mann im Mond" wirkt manchmal mitten aus dem Leben gegriffen und manchmal wie eine Traumerzählung. Genau diese schmale Gratwanderung zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Humor und Absurdität, zwischen Dunkelheit und Lichtblick macht diese zwölf Geschichten zu einem fesselnden, bewegenden und manchmal verstörenden Leseerlebnis, das nachhallt. Von mir gibt es eine herzliche Leseempfehlung für alle, welche bereit sind, sich auf diese intensiven Texte einzulassen.

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