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Veröffentlicht am 16.12.2025

Ein wunderbarer, überraschend tiefgründiger Roman

Liaisons
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Lauren und Jean sind … sagen wir: grundsätzlich glücklich verheiratet. Das Appartement in Paris ist elegant und wohnlich zugleich, die Karrieren solide, das Leben hat es alles in allem gut mit ihnen gemeint. ...

Lauren und Jean sind … sagen wir: grundsätzlich glücklich verheiratet. Das Appartement in Paris ist elegant und wohnlich zugleich, die Karrieren solide, das Leben hat es alles in allem gut mit ihnen gemeint. Was Lauren indes nicht davon abhält, eine Affäre mit ihrem jüngeren Kollegen Maxime einzugehen. Maxime wiederum ist mit der rundum perfekten Nadia verheiratet, die schön ist und intelligent und sexy. Und die ihr Leben absolut im Griff hat, n’est-ce pas?! Und dann ist da noch Emma: Studentin und Freigeist, ungebunden und auf ebenso ungezwungene wie unvermeidliche Weise betörend.

Dieses Figurentableau begegnet uns in dem hinreißenden Roman „Liaisons“ von Céline Robert (übersetzt von Alexandra Baisch). Er beginnt leichtfüßig und subtil-klug ironisch, und er könnte durchaus so bleiben und wäre ein charmanter, verführerischer Roman über das Leben, Lieben und ein bisschen Leiden kapriziöser Großstädter:innen. Ein bisschen Coco Chanel, ein bisschen Annie Hall. Doch darin erschöpft sich – und man möchte ausrufen: „Gott sei Dank!“ – Céline Roberts Erzähltalent keineswegs. Denn was als luftiger, nonchalanter Liebesreigen beginnt, entwickelt sich zu einem vielschichtigen Roman, der die psychologischen Tiefen (und Untiefen) seiner Figuren auslotet. Der ihnen in ihre komplizierten Seelen blickt, ihre Verletzlichkeit und Unvollkommenheit offenlegt – ungeschminkt und liebevoll. Nachsichtig und pointiert.

Ein wundervoller Roman über dieses komplexe Geflecht, das man Liebe nennt. Oder menschliche Beziehungen – eben: „Liasons“. Wunderschön. Und sehr französisch.
Und mit einem der besten Romananfänge, den ich seit Langem lesen durfte:

„Jean sitzt auf dem grauen samtbezogenen Sofa vor dem Fenster. Es ist Abend geworden und das Wohnzimmer wird von kleinen Lampen erhellt, die den Perserteppich und die historischen Karten an den Wänden in gedämpftes Licht tauchen. In das Bücherregal mit den Hunderten chaotisch aufgetürmten Büchern sind Lautsprecher mit Holzgehäuse eingepasst, aus denen ‚Porgy and Bess‘ von George Gershwin ertönt. ‚Müssen wir wirklich in so einem Scheiß-Woody-Allen-Film leben?‘, fragt sich Lauren.“

Sehr, sehr große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 16.12.2025

Ein sensibler, kluger Roman

Wovon wir leben
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„… alles, was uns nicht umbringt, ist nicht der Rede wert.“ (58)

Was ist es, wovon wir tatsächlich leben – Luft und Liebe? Wasser und Nahrung? Ein warmes Bett und ein Dach über dem Kopf? Freunde und Familie? ...

„… alles, was uns nicht umbringt, ist nicht der Rede wert.“ (58)

Was ist es, wovon wir tatsächlich leben – Luft und Liebe? Wasser und Nahrung? Ein warmes Bett und ein Dach über dem Kopf? Freunde und Familie? Oder vielleicht müsste man die Frage anders stellen: Was macht das Leben, das wirkliche, echte Leben eigentlich aus? Diese Fragen und noch viele mehr begleiteten mich nach der Lektüre von Birgit Birnbachers klugem, sensiblem Roman „Wovon wir leben“.

Der Inhalt ist rasch erzählt: Julia verliert wegen eines aus Unachtsamkeit begangenen Fehlers ihren Job, um ihre Gesundheit steht es nicht zum Besten, und ihre Liebesbeziehung ist von Vornherein zum Scheitern verurteilt. In dieser desolaten Lage kehrt sie zurück in ihr Heimatdorf (ausgerechnet!), zurück ins Elternhaus, zum wortkargen Vater und zu grau getünchten Erinnerungen. Von der Mutter ist keine Unterstützung zu erwarten, sie hat sich kürzlich emanzipiert und ist auf und davon. Einzig Oskar, der Kurgast, der ebenso versehrt zu sein scheint wie Julia, vermag ihr ein wenig Trost zu spenden. Und vielleicht auch mehr?

Zugegeben: Es könnte der Plot einer jener pastelligen, zuckerverkrusteten Romane sein, in denen die Protagonistin sich aus den Unbilden herauskämpft, um mit strahlenden Augen und erhobenen Hauptes einem goldglänzenden Neuanfang entgegenzuschreiten – wenn die Geschichte nicht von einer so überragenden Autorin wie Birgit Birnbacher erzählt würde. Unaufgeregt und mit großer Klarheit zeigt sie ebenso subtil wie eindringlich, was das Leben als solches ausmacht. Es sind die vielstimmigen Zwischentöne, die die Melodie der Erzählung tragen. Es geht um Freiheit und Verantwortung, um Würde und Selbstbestimmung – kurz: Es geht um nicht weniger als das Leben und was es ausmacht.

„Wovon wir leben“ ist ein Roman, der gerade durch seine Stille lange nachklingt. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 23.10.2025

Ein rundum gelungenes Krimi-Debüt!

Spicy Files
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Ach, es ist ja so eine Sache mit Regionalkrimis …

Mich beschleicht bisweilen das Gefühl, dass manche Autorinnen dieses Genres sich mit Engagement und Verve an die Sache machen, ambitioniert einen soliden ...

Ach, es ist ja so eine Sache mit Regionalkrimis …

Mich beschleicht bisweilen das Gefühl, dass manche Autorinnen dieses Genres sich mit Engagement und Verve an die Sache machen, ambitioniert einen soliden Plot und interessante Figuren ausarbeiten, einen handwerklich fundierten Spannungsbogen aufbauen … um dann ihre Story an einem ebenso reizvollen wie beliebigen Ort anzusiedeln, über den sie überdies (mit Verlaub) allenfalls das wissen, was der Reiseführer / die Wörterbuch-App / das Klischee hergibt. Ein Schuss Lokalkolorit, und fertig:

Da spaziert der Ermittler morgens bei strahlendem Sonnenschein zum Bistro, begrüßt die Bedienung mit drei „bisous“, trinkt seinen Café au Lait und isst ein Croissant, sagt „Merci“ und „Au revoir“ – und könnte genauso gut abends im Pub bei Ale und Shepherd’s Pie den Dartspielern zusehen, während sich draußen über dem Meer ein Sturm zusammenbraut. Es könnte St Ives sein oder Saintes-Maries-de-la-Mer. Pittoresk? Auf jeden Fall! Aber leider auch sehr, sehr austauschbar …

Natürlich gilt das nicht für alle Autor
innen von sogenannten Regionalkrimis, das möchte ich hier ausdrücklich betonen. Es gibt sehr viele, die nicht nur eine profunde Ortskenntnis besitzen, sondern auch einen tiefen Einblick in die Mentalität der dort ansässigen Menschen haben, die sich mit der Geschichte des Landes ebenso gut auskennen wie mit seinen politischen Verhältnissen. Zu ihnen zählt ohne jeden Zweifel Dominique Elsaesser.

Mit „Spicy Files“ hat Elsaesser ein Krimi-Debüt vorgelegt, das man nur als in jeglicher Hinsicht gelungen bezeichnen kann: Ein liebenswerter, auf charmante Art etwas verpeilter Protagonist; ein spannender, alles andere als alltäglicher Fall, der sowohl in die Tiefen des Brüsseler Politikbetriebs als auch weit in die Vergangenheit Belgiens führt; ein Handlungsort, der weit mehr ist als die Zentrale der europäischen Bürokratie – und den Elsaesser, das merkt man in jeder Zeile, so gut kennt wie die sprichwörtliche Westentasche.

Und darum geht’s:
Dieser Fall ist kein Fall, sondern buchstäblich ein Un-fall – davon ist jedenfalls Marcels Chef überzeugt. Der Tote ist zu Hause von der Leiter gefallen, ein leider tödlicher Sturz, nun ja, das kommt vor. Doch Marcel, Inspektor bei der belgischen Police Fédérale, mag das nicht so recht glauben. Sein Instinkt sagt ihm unmissverständlich, dass da etwas oberfaul ist. Und so beginnt er kurzerhand, auf eigene Faust – oder wie man in Brüssel sagt: „en stoemelings“ – zu ermitteln. Schon bald stößt er auf handfeste Indizien, die seinen Anfangsverdacht bestätigen. Das vermeintliche Unfallopfer war alles andere als ein Unschuldslamm und hat so manche bedeutsame Persönlichkeit gegen sich aufgebracht. Liegt hier ein mögliches Tatmotiv? Die Angelegenheit zieht immer weitere Kreise, doch Marcel sind offiziell nach wie vor die Hände gebunden. Wie gut, dass ihm sein Freund Jules zur Seite steht … und die hinreißende Historikerin Malaika.

Mein Fazit: „Spicy Files“ ist ein kluger, vielschichtiger Krimi, der regionale, politische und geschichtliche Aspekte miteinander verbindet und dabei so unterhaltsam und leichtfüßig erzählt wird, dass ich förmlich durch die Seiten geflogen bin. Kurzum: ein gelungenes Krimi-Debüt!

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Veröffentlicht am 09.09.2025

Ein literarisches Denkmal

Ruhrgemüse, polnisch
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Es sind große Hoffnungen und genügsame Träume, die Zuzanna und Adam Koszyński Ende des 19. Jahrhunderts aus ihrer Heimat Westpreußen ins ferne Ruhrgebiet treiben. Hier, im Industrie-strotzenden Dortmund, ...

Es sind große Hoffnungen und genügsame Träume, die Zuzanna und Adam Koszyński Ende des 19. Jahrhunderts aus ihrer Heimat Westpreußen ins ferne Ruhrgebiet treiben. Hier, im Industrie-strotzenden Dortmund, wollen sie wie so viele ihrer Landsleute den Schritt in ein neues, ein besseres Leben wagen.

Adam findet rasch Arbeit in der Maschinenfabrik, Zuzanna kümmert sich um das Häuschen und die kleine Tochter Ania, die man flugs in Anja umbenennt – so klingt’s doch gleich deutscher! –, desgleichen wird verräterische Nachname Koszyński alsbald in Kosshofer geändert. Denn: „Mit -ski ist’s schon aus! Ja, mit -ski bist du der dumme, dreckige Pole, der noch in Erdhütten lebt.“ (S. 34)

Es könnte alles in allem ein vielversprechender Neuanfang werden, wenn – ja, wenn Adam nicht einen schweren Arbeitsunfall erlitte und das bescheidene Auskommen der kleinen Familie auf dem Spiel stünde. Wenn den „Ruhrpolen“, so begehrt und benötigt ihre Arbeitskraft auch sein mochte, nicht allenthalben mit Vorurteilen, Herablassung, Ressentiments begegnet würde. Und wenn da nicht diese innere, seelische, inkurable Zerrissenheit wäre, die ein Abschließen mit der einen Identität und ein Ankommen in der Neuen so furchtbar schwierig machte … Doch Adam und Zuzanna lassen sich nicht unterkriegen. Mit einer ebenso bewunderns- wie liebenswerten Mischung aus Beharrlichkeit und Stoizismus trotzen sie den Widrigkeiten und Unbilden, erfreuen sich an der stetig wachsenden Nachkommenschaft und ergreifen beherzt Gelegenheiten beim Schopfe. Sie bahnen sich unbeirrt ihren Weg – und ebnen ihn für ihre Kinder und Enkel.

Mit „Ruhrgemüse, polnisch“ spürt Birgitta M. Schulte den Wurzeln ihrer eigenen Familie nach und nimmt ihre Leserschaft mit in eine Zeit, die im Grunde genommen gar nicht so lange her ist – und doch in einer vollkommen anderen Welt zu spielen scheint. Über einen Zeitraum von knapp vierzig Jahren begleiten wir Zuzanna, Adam und ihre Nachkommen bei ihren alltäglichen Sorgen und Freuden, Herausforderungen und Chancen, die scheinbar so klein und privat, tatsächlich aber kultur- und epochenumspannend sind. Denn diese vier Jahrzehnte von 1893 bis 1931 sind eine Zeit größter Umwälzungen, sodass die Familiengeschichte der Koszyński/Kosshofers gleichzeitig ein Stück Industrie- und Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte widerspiegelt.

„Ruhrgemüse, polnisch“ ist ein besonderer Roman, den ich ganz besonders all jenen ans Herz legen möchte, die (wie ich) polnische Wurzeln haben und in der Erzählung ein kleines – oder auch größeres – bisschen ihre eigene Familie wiederfinden.

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Veröffentlicht am 06.02.2025

Subtiler Thrill

Die blaue Stunde
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Die Bestürzung könnte nicht größer sein: In einer Skulptur der weltberühmten, vor vielen Jahren verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman wird ein menschlicher Knochen entdeckt. Kann es sich um einen Irrtum ...

Die Bestürzung könnte nicht größer sein: In einer Skulptur der weltberühmten, vor vielen Jahren verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman wird ein menschlicher Knochen entdeckt. Kann es sich um einen Irrtum handeln? Um ein Versehen? James Becker, Kurator der Stiftung, die Vanessas Nachlass erworben hat, und erwiesener Chapman-Experte, will der Sache auf den Grund gehen. Seine Recherchen führen ihn auf die abgelegene Gezeiteninsel Eris Island, Vanessas Wohnort und Wirkungsstätte, die nunmehr allein von ihrer Vertrauten Grace Haswell bewohnt wird. Die eigenbrötlerische Frau weigert sich zunächst, James in seiner Forschung zu unterstützen. Doch James lässt sich nicht beirren. Und verstrickt sich mehr und mehr in einer mysteriösen Geschichte aus Liebe und Verrat, Enttäuschung und Eifersucht, Kreativität und Grausamkeit.

Mit „Die blaue Stunde“ (aus dem Englischen von Birgit Schmitz) gelingt es Paula Hawkins wieder einmal vortrefflich, ihre Leser*innen in den Bann zu schlagen. Die Ansiedlung der Handlung im Kunstmilieu einerseits und auf der isolierten Insel andererseits verleiht dem Roman eine besondere Spannung und atmosphärische Tiefe. Vielschichtige Figuren und eine leise, niemals nachlassende Suspense heben diesen Roman über die üblichen Thriller hinaus.

Ein Lesegenuss für alle, die den subtilen Thrill bevorzugen.

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