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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.12.2023

Flüssige Lektüre mit leichten Nebenwirkungen

Kochen im falschen Jahrhundert
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„Die Gastgeberin hatte von einem offenen Haus fabuliert, von internationalen Gästen, die die internationalen Zeitungen lesen. Man wäre gebildet und liberal, alles das aber keineswegs aufgesetzt oder demonstrativ. ...

„Die Gastgeberin hatte von einem offenen Haus fabuliert, von internationalen Gästen, die die internationalen Zeitungen lesen. Man wäre gebildet und liberal, alles das aber keineswegs aufgesetzt oder demonstrativ. Die Speisen kämen ohne viel Aufwand auf den Tisch.“

Die Wohnung ist geschmackvoll eingerichtet, die Playlist (Jazz, was sonst?!) sorgfältig kuratiert, das Essen vordergründig unprätentiös, doch exzellent, die Gäste ausgewählt: Nun kann eigentlich nichts mehr schiefgehen bei dieser großstädtischen, stilvollen Dinnerparty im kleinen Kreis. Und doch ist die namenlose Gastgeberin (namenlos bleiben auch der Gastgeber und die Gäste, ein befreundetes Ehepaar und „der Schweizer“) trotz scheinbarer Gelassenheit ein Nervenbündel. Denn Mühelosigkeit ist wahrlich harte Arbeit …

In verschiedenen Szenarien lässt Teresa Präauer immer wieder denselben Abend passieren. Mal kommt der eine, mal die anderen zu spät. Mal drehen sich die Gespräche um dieses, mal um jenes Thema. Und mit jeder Variation wird der Druck größer, der Ton garstiger, die Anspannung höher. Linderung verschafft einzig die – überaus berührend und poetisch beschriebene – Erinnerung an die Kindheit, in die die Gastgeberin sich flüchtet. Und der Crémant.

Ich muss gestehen, dass der Roman mich ein wenig ratlos zurücklässt. Er liest sich (buchstäblich) sehr flüssig, will sagen: Man fließt durch die Lektüre wie der Alkohol durch die Kehlen der Figuren. In seinen besten Momenten – und davon gibt es zahlreiche – ist er wunderbar entlarvend, und doch bleibt ein vages Gefühl von „Da hätte irgendwie noch mehr kommen können“ zurück, ein bisschen wie der pelzige Geschmack auf der Zunge nach zu viel Schaumwein.

Alles in allem war es für mich ein überaus unterhaltsames, kurzweiliges Leseerlebnis, das allerdings meine (möglicherweise zu hohen) Erwartungen nicht vollkommen zu erfüllen vermochte. Doch das mag, möchte ich ausdrücklich betonen, auch an mir und weniger an dem Roman gelegen haben.

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Veröffentlicht am 27.06.2023

Die Architektur ist eine Frau

Das Haus am Meeresufer
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„An manchen Tagen rettete mich die Liebe, an anderen die Architektur.“

Paris in den Zwanzigerjahren. Als ihre Liebe zu der Chansonnière Damia zerbricht, ist es die Architektur, die der Interieurkünstlerin ...

„An manchen Tagen rettete mich die Liebe, an anderen die Architektur.“

Paris in den Zwanzigerjahren. Als ihre Liebe zu der Chansonnière Damia zerbricht, ist es die Architektur, die der Interieurkünstlerin Eileen Gray eine neue Lebensperspektive bietet. Die Architektur – und dann doch wieder die Liebe. Aus der anfangs behutsamen Freundschaft zu dem um etliche Jahre jüngeren Architekturkritiker Jean Badovici entwickelt sich erst eine tiefe Verbundenheit, die von gegenseitigem Respekt und wechselseitigem Lehren und Lernen geprägt ist, und schließlich, beinahe unvermeidlich: Liebe.
Während die Öffentlichkeit noch uneins ist, was sie von der ungewöhnlichen Formensprache Eileens halten soll – die einen rühmen sie als eigengeprägte und originelle Künstlerin, während die anderen sie als „Caligaris Tochter“ verhöhnen –, ist Jean von Eileens Talent beeindruckt und überzeugt. Er erkennt ihr Potenzial, ihre Originalität, ihr kompromisslos klares Design als das, was es ist: absolut einzigartig. Modern. Visionär.

„‚Zeig der Welt, was du kannst. Ich weiß schon jetzt, dass dein Haus außergewöhnlich werden wird, Eileen.‘
Es gehört uns beiden, Jean. Das Haus sind wir. Du und ich.‘“

Bestärkt durch Jeans unerschütterliches Vertrauen in ihr Können, wagt Eileen sich an ihr bislang größtes, letztlich bahnbrechendes Vorhaben: Sie baut ihm eine Villa an der französischen Riviera: E.1027, die „maison en bord de mer“, das Haus am Meeresufer. Doch wo außerordentliches Talent ist, sind Selbstsucht und Missgunst nicht fern. Erst recht, wenn die derart talentierte Person eine Frau ist, zudem eine, die in einem männlich dominierten, nach Aufmerksamkeit gierenden Metier „in leisen Farben denkt“. Wie soll, wie kann man in einer solchen Welt bestehen, wenn das Grelle und das Laute in die eigene Stille und Klarheit einbrechen, wenn die feine Grenze zwischen Bewunderung und Neid verwischt, ja verschwindet?

Joséphine Nicolas schafft es wie keine Zweite, Frauen, die in der kollektiven Wahrnehmung allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen, aus der Dunkelheit des Vergessens zu befreien und ihnen eine eigene, unverwechselbare Stimme zu verleihen. Nach ihrem fulminanten Romandebüt „Tage mit Gatsby“, in dem sie Zelda Fitzgerald aus dem erdrückenden Schatten ihres berühmten Ehemannes Scott hat treten lassen (wer es noch nicht gelesen hat, dem sei die Lektüre an dieser Stelle wärmstens empfohlen!), widmet sie sich in ihrem neuen Roman der Avantgardistin Eileen Gray. Versiert und detailliert recherchiert, literarisch überzeugend und sprachlich betörend zeichnet die Autorin ein eindringliches Bild einer bewunderten und beneideten, gefeierten und unverstandenen, etwas spröden und gleichzeitig herzzerreißend feinsinnigen Frau, die den ästhetischen Konventionen ihrer Zeit ihr Ausnahmetalent und ihre visionäre Kraft entgegensetzte: das kongeniale Porträt einer (fast) vergessenen Ikone. Für mich ein Jahreshighlight, das ich von ganzem Herzen weiterempfehle!

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Veröffentlicht am 09.05.2023

Eine authentische und einfühlsame Zeitreise

Nur einmal mit den Vögeln ziehn
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Nur einmal mit den Vögeln ziehn – wer hätte in seiner Jugend nicht einmal daran gedacht? Der Enge des Elternhauses, des Wohnorts entfliehen, seinen Weg gehen, seinen Platz in der Welt finden …

Jens träumt ...

Nur einmal mit den Vögeln ziehn – wer hätte in seiner Jugend nicht einmal daran gedacht? Der Enge des Elternhauses, des Wohnorts entfliehen, seinen Weg gehen, seinen Platz in der Welt finden …

Jens träumt davon, Fußballprofi zu werden, Sivs Leidenschaft gehört der Musik. Anna Maria betrachtet, seit ihr Opa ihr als Neunjährige eine Kamera schenkte, die Welt am liebsten durch ein Objektiv. Aki wünscht sich ein behagliches Zuhause mit einer fürsorglichen Mutter, wohingegen Ivo schon früh erkannt hat, dass ein gutbürgerliches Elternhaus noch lange keine glückliche Kindheit verspricht: fünf junge Menschen, die 1977, als die Handlung einsetzt, noch Kinder sind und deren Leben wir bis 1990 begleiten. Die wachsen und sich entwickeln, Träume verfolgen und Sehnsüchte begraben. Und die soeben beginnen, sich in ihrem Erwachsensein einzurichten, als die Welt, wie sie sie kannten, ein jähes Ende findet – am 10. November 1989 …

Unter dem Pseudonym Sylvia Frank beschwört das Autorenpaar Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert eine Vergangenheit herauf, die beinahe mit Händen zu greifen ist. Und das liegt nicht nur an den fünf außerordentlich lebendig gezeichneten Hauptfiguren des Romans (die ich während der Lektüre mehr und mehr ins Herz schloss), sondern auch an der gesellschaftlichen und geschichtlichen Realitätsnähe, die ebenso gekonnt wie feinfühlig den Hintergrund dieses Romans bildet. Dabei gelingt es ihnen auf bemerkenswerte Weise, alles Klischeehafte oder gar Plakative, sei es mit positiver, sei es mit negativer Konnotation, zu vermeiden: Weder wird in schönfärberischer Ostalgie geschwelgt, noch wird eine literarische Abrechnung mit historisch-politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten vollzogen. Stattdessen findet man sich als Leser*in in einer Vergangenheit wieder, die – nun ja: die war, wie sie nun einmal war.

Besondere Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 22.12.2022

Zwischen Utopie und Dystopie

Die Markierung
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„Stell dir eine Zukunft vor, in fünf Jahren, in zehn Jahren. […] Dann haben wir uns an ein Gesellschaftsbild gewöhnt, in dem Menschen wie Autos sind. Sie müssen einmal im Jahr zur Inspektion, damit man ...

„Stell dir eine Zukunft vor, in fünf Jahren, in zehn Jahren. […] Dann haben wir uns an ein Gesellschaftsbild gewöhnt, in dem Menschen wie Autos sind. Sie müssen einmal im Jahr zur Inspektion, damit man sie wieder gefahrlos in den Verkehr lassen kann. Wenn etwas kaputt geht, muss es repariert werden. So einfach ist das.“

Stell dir vor, du könntest den Charakter eines Menschen, seine moralische Integrität, kurz: ob er nach den gängigen gesellschaftlichen Maßstäben als „gut“ oder „böse“ zu gelten hat, einwandfrei auf den ersten Blick feststellen. Würde das den Umgang miteinander nicht vereinfachen, gar verbessern? Würde es deine gefühlte wie tatsächliche Sicherheit nicht maximieren? Würde es dich nicht vor unliebsamen Überraschungen, vor menschlichen Enttäuschungen und letztlich vor gewalttätigen Übergriffen, seien sie physisch oder psychisch, schützen? Wäre das nicht die ideale Lösung für ein friedfertiges, respektvolles Miteinander? Wäre das nicht der Schlüssel zu einer besseren Gesellschaft und damit, ja: zu einer besseren Welt? Vielleicht sogar der besten aller Welten?

Island in nicht allzu ferner Zukunft: Der so genannte Empathie-Test ermöglicht es frühzeitig, die charakterliche Festigkeit und moralische Vertrauenswürdigkeit einer Person festzustellen. „Frühzeitig“: Das heißt, bevor sich die potenziell negativen Eigenschaften manifestieren. Das heißt, im Kindesalter. Wer den Test besteht, erhält eine entsprechende „Markierung“, dessen soziales Fit-in ist über jeden Zweifel erhaben. Schon entstehen die ersten Wohnhäuser, Blocks, Siedlungen und Viertel, die nur nachweislich Markierten zugänglich sind. Wer durchfällt, wird in einem engmaschigen therapeutischen Netz aufgefangen, es soll ja grundsätzlich niemand zurückgelassen werden, nicht wahr. Ob in Schulen oder Unternehmen, allerorts greift die Aufforderung, sich markieren zu lassen, um sich.

Nun stehen Wahlen an, und das alles beherrschende Thema ist die Frage, ob die Markierungspflicht gesetzlich festgelegt werden sollte. Im Dienste der öffentlichen Sicherheit und damit zum Wohle der Bevölkerung. Wer sich widersetzt, kann nur etwas zu verbergen haben, … oder?

„Die Markierung“, der erste Roman der isländischen Lyrikerin Fríða Ísberg (aus dem Isländischen von Tina Flecken), hat mich von der ersten Zeile an in seinen Bann gezogen. Sprachlich ebenso gewandt wie leichtfüßig entwirft die Autorin eine Gesellschaft, die scheinbar das Patentrezept für alle sozialen Probleme gefunden hat, indem sie sich „rechtzeitig“ deren Wurzeln annimmt: der Menschen. Dabei verzichtet sie dankenswerterweise auf einen plakativen Richtig-oder-falsch-Kontrast, sondern wägt subtil das persönliche wie gemeinschaftliche Bedürfnis nach Sicherheit und Absicherung gegen den individuellen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung ab: eine literarische Kosten-Nutzen-Analyse des menschlichen Kollektivs, in der die Grenze zwischen Utopie und Dystopie erschreckend durchlässig ist. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 22.12.2022

Ein gelungenes Thrillerdebüt

Die Assistentin
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Nein, so hatte Florence sich ihre „Karriere“ nicht vorgestellt. Eigentlich wollte sie in New York als Autorin groß rauskommen, also so richtig groß. Und der Einstiegsjob als Lektoratsassistentin bei einem ...

Nein, so hatte Florence sich ihre „Karriere“ nicht vorgestellt. Eigentlich wollte sie in New York als Autorin groß rauskommen, also so richtig groß. Und der Einstiegsjob als Lektoratsassistentin bei einem renommierten Verlag schien zumindest nicht der schlechteste Einstieg zu sein: erst berühmte Autor*innen betreuen und anschließend – bald, ganz bald – mit ihrem Erstlingsroman selbst in die Riege der Literaturstars aufsteigen.
Stattdessen ist ihr Berufsalltag denkbar öde und unbefriedigend, die poetische Kreativität stockt und irgendwie scheinen alle um sie herum so viel weltläufiger, belesener, gebildeter als sie selbst zu sein.
Gerade als Florence meint, den Tiefpunkt erreicht zu haben, erhält sie ein unverhofftes Angebot: Sie soll als persönliche Assistentin die geheimnisumwitterte Autorin Maud Dixon unterstützen. Außer deren Lektorin hat kein Mensch sie je zu Gesicht bekommen, niemand weiß, wie sie aussieht, wo sie lebt und welche Person sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Für Florence ist klar: Das ist ihre große Chance!
Als Maud, deren Leben so anders ist als ihr eigenes – so stilvoll! So erstrebenswert! –, sie auch noch auffordert, sie auf eine Recherchereise nach Marokko zu begleiten, wähnt Florence sich im Paradies auf Erden. Doch dann erwacht Florence mit Erinnerungslücken an die vergangene Nacht allein im Krankenhaus, von Maud keine Spur. Zurück in ihrer Unterkunft, findet sie Mauds angefangenes Manuskript. Und das stellt alles, was sie zuvor mit Maud erlebt zu haben glaubt, in einem völlig anderen – und vor allem gefährlichen – Licht dar. Und in Florence reift ein ungeheuerlicher Plan, wie sie ihr eigenes Leben radikal zu ihrem Vorteil ändern kann …
Ich kann es nicht anders sagen: Mit „Die Assistentin“ (aus dem Amerikanischen von Regina Rawlinson) hat Alexandra Andrews ein fulminantes Thrillerdebüt vorgelegt. Mit Florence und Maud entwirft die Autorin zwei weibliche Hauptfiguren, die sich auf bemerkenswerte Weise der genretypischen klaren Klassifizierung in Protagonistin und Antagonistin entziehen. (Mal ehrlich: Je besser man die beiden kennenlernt, umso weniger würde man mit ihnen zu tun haben wollen.) Ebenso genreuntypisch und deswegen unbedingt erwähnenswert sind der ausnehmend fesselnde Schreibstil und die stellenweise beinahe philosophische Tiefe, mit der sich die Autorin der jeweiligen Identität, deren Formung und Entwicklung, der beiden unterschiedlichen (?) Frauen widmet.

Dazu faszinierende Schauplätze, überraschende Wendungen und eine verblüffende Auflösung – mehr kann man von einem gelungenen Psychothriller kaum erwarten. Große Leseempfehlung vor allem (aber nicht nur) für buchbegeisterte Thrillerfans.

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