Flaneure
Fotoausstellung „Bremen Extra“ von Rainer Baltschun – 25.11.2018
Rainer Baltschun lädt Sie ein mit seinen Bildern Ihre Stadt neu zu erleben.
Sie werden sich, wenn Sie Ihr Zuhause verlassen und den öffentlichen ...
Fotoausstellung „Bremen Extra“ von Rainer Baltschun – 25.11.2018
Rainer Baltschun lädt Sie ein mit seinen Bildern Ihre Stadt neu zu erleben.
Sie werden sich, wenn Sie Ihr Zuhause verlassen und den öffentlichen Raum betreten – in der Regel – zielorientiert von Hier nach Dort bewegen. Sie haben eine Besorgung zu machen, einen Einkauf zu tätigen, einen Behördengang zu erledigen. Kurz: es ist ein Zweck zu erfüllen. So leben wir: unser Tun ist zweckgerichtet, sogar scheinbar sinngerichtet.
Hierzu gibt es einen Gegenentwurf. Das ist der Flaneur:
Der Flaneur entzieht sich, als Flaneur, aller Verpflichtung per se: Weder wähnt er sich getrieben, wovon auch immer, noch sieht er sich gezogen von irgendeiner Setzung. Allenfalls fühlt er sich angezogen von etwas, was ihm zufällig begegnet, oder hingezogen zu etwas, was ihm beiläufig in den Sinn kommt. Er scheut sich an ein Ziel zu gelangen. Sein Weg ohne Ziel wird leicht ein Labyrinth zeichnen.
Nach Walter Benjamin ist es der Flaneur, dessen Dasein die trostlose Lebensform des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt. Der Flaneur steht noch auf der Schwelle der Großstadt sowohl wie der Bürgerklasse. Keine von beiden hat ihn überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause.
Im Flaneur, so könnte man sagen, kehrt der Müßiggänger wieder, wie ihn sich Sokrates als Gesprächspartner auf dem athenischen Markte auflas. Nur gibt es keinen Sokrates mehr. Allerdings hat auch die Sklavenarbeit aufgehört, die ihm seinen Müßiggang garantierte.
Der Weg ist das Ziel des Flaneurs, er sucht das Stadterlebnis – das unterscheidet ihn vom Wanderer, der das Naturerlebnis sucht. Findet der Wanderer Naturlandschaften, so der Flaneur Stadtlandschaften.
Nicht die grossen Sehenswürdigkeiten der Stadt mit ihrem Verweis auf historische Herkunft, kultureller Prägung und politischer Bedeutsamkeit erregen seine Aufmerksamkeit, sondern die kleinen Sehenswürdigkeiten des Alltags, die Materialisierung üblicher Lebenstätigkeit.
In seinem Schlendern und Bummeln findet er immer wieder Anlass zur Neugier, immer wieder findet er Zeit zum Schauen und Staunen. Dieses Schauen und Staunen hat Rainer Baltschun in seinen Bildern für uns festgehalten.
Was gibt es da alles auf den Spaziergängen des Flaneurs zu sehen:
In Bremen – natürlich in Bremen – Fahrräder – Hilfsmittel einer zweckgerichteten Bewegungsform, abgestellt und zusammengestellt zu metallenen Skulpturen an den Orten, von denen es nun wirklich nur noch zu Fuss weiter geht, gleichzeitig ihre Besitzer zur erneuten Beschleunigung erwartend.
Für Fahrräder wird in Bremen auch schon einmal ein Parkplatz reserviert. Da steht an einer Trattoria: „Nur für Räder unserer Gäste.“ Man ist ja in Bremen.
Die Häuserwand, die privates von öffentlichen Leben absondert, wird zum Ort von Meinungen, Absichten und Beschwörungen.
Da findet man verrätselte Anweisungen zu einem ethischen Leben:
„Du mußt dein Ändern leben.“
Oder augenzwinkernde Werbung für ein belebendes Getränk:
„freiheit. gleichheit. Wachheit.“
Ein sich selbst vergewissendes:
„Ich. Ich. Ich.“
Und als vollendete Sinnlosigkeit eines Denkens und Handelns in Hetze und Drangsal findet man die Aufforderung:
„Immer. Öfter. Ständig.“
Neben ethischen Hinweisen gibt es kleine ästhetische Übungen zur Überwindung der grauen Funktionalität des Alltags:
eine riesige Sonnenblume auf eine Häuserwand gemalt, davor blühende Sonnenblumen im Vorgarten,
auf einer Häuserwand ein illusionistisches Fenster zum Himmel, dem ein geflügelter Junge entsteigt, sein Blick folgt Schmetterlingen, gleich wird er ihrem Flug folgen,
das skizzenhafte Bild eines Anzugträgers mit der Unterschrift „Leben ist Kunst genug“.
Und vieles, vieles mehr.
Die Bilder von Rainer Baltschun sind eine Verführung zum Schauen, Staunen und Flanieren. Folgen Sie dieser Einladung!
Lassen sie mich angesichts erheblicher politischer Konflikte unserer Zeit eine kleine politische Bemerkung anfügen: der Flaneur, ebenso wie der Dandy - diese weitere entzückende schillernde Blüte des städtischen Lebens - das sind friedfertige Menschen, sie betreiben keine Aussonderung oder Abtrennung, sondern leben im distanzierten Miteinander. Hiervon kann lernen, wer will.