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Veröffentlicht am 16.08.2018

Konnte mich leider nicht durchgehend fesseln

Vox
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"Ich bin eine Frau weniger Worte geworden."

Inhalt

Neurolinguistin Dr. Jean McClellan lebt mit ihrer Familie in einer von Männern bestimmten Welt. Die Bewegung der Reinen hat sich, Dank des Fundamentalisten ...

"Ich bin eine Frau weniger Worte geworden."

Inhalt

Neurolinguistin Dr. Jean McClellan lebt mit ihrer Familie in einer von Männern bestimmten Welt. Die Bewegung der Reinen hat sich, Dank des Fundamentalisten Reverend Carl Corbin, im ganzen Land durchgesetzt; eine Trennung zwischen Regierung und Religion gibt es nicht mehr.
Amerika hat sich in eine Zeit zurückentwickelt, in der Frauen nur noch so viel Wert besitzen, wie der Weg zwischen Ehebett und Herd lang ist. Sie wurden jeglicher Rechte beraubt und von der Regierung mit sogenannten Wortzählern ausgestattet, die Stromstöße abgeben, sobald die Frauen mehr als 100 Wörter am Tag sprechen.
Die Lage scheint hoffnungslos; doch als eines Tages der Bruder des Präsidenten erkrankt, bietet sich Jean plötzlich die Möglichkeit, nicht nur ihr eigenes, sondern das Schicksal aller Frauen im Land zu verändern - bliebe nur die Frage, wem sie dabei trauen kann.

"Die Frau hat keinen Anlass, zur Wahl zu gehen, aber sie hat ihren eigenen Bereich, einen mit erstaunlicher Verantwortung und Wichtigkeit. Sie ist die gottgewollte Bewahrerin des Heims...
Sie sollte voll und ganz erkennen, dass ihre Stellung als Ehefrau, Mutter und Engel des Heims die heiligste, verantwortungsvollste und königlichste ist, die Sterblichen zuteilwerden kann; und sie sollte alle Ambitionen nach Höherem abweisen, da es für Sterbliche nichts Höheres gibt."

Meinung

Dass Christina Dalcher in theoretischer Linguistik promoviert hat, war für mich vom ersten Moment an spürbar. Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem sich jemand so klar ausdrückt.
Die Autorin "schwafelt" nicht herum, ihr Schreibstil ist akzentuiert und pointiert, manchmal etwas unterkühlt aber immer der Situation angemessen. Sprache ist ihre Stärke und sie bedient sich all ihrer Facetten: ist sachlich, leise, wortreich, flapsig, ernsthaft, laut, ausweichend, sarkastisch, liebevoll, direkt und schreckt auch nicht vor Kraftausdrücken oder Vulgarismus zurück.
Sie schreibt aus der Sicht einer intelligenten aber stinkwütenden 4-fachen Mutter und Ehefrau in einer frauenhassenden Welt und das macht sie auf ihre Art einfach großartig.

"Steven war im Wohnzimmer, als ich die Zwillinge ins Bett gebracht hatte, aß Eis und sah sich aufgezeichnete Reden von Reverend Carl an, der offenbar jetzt der Held meines Sohnes ist. Die beiden ergaben ein Paar, beide so standhaft in ihren Vorstellungen über die Rückkehr in eine frühere Zeit, ein Zeitalter, in dem Männer noch Männer waren und Frauen noch Frauen und in dem - Gloria, Gloria, scheiß-Halleluja - alles so viel leichter war, weil wir wussten, wo wir hingehörten."

Christina Dalcher hat eine von der Realität inspirierte erschreckende Welt erschaffen, die uns ermahnt hinzusehen, zu hinterfragen und nicht jedem dahergelaufenen Bock blind zu folgen. Sogesehen ist "Vox" bei Weitem kein schlechtes Buch und es gab mehr als einen Moment, wo mir kalte Schauer über den Rücken gelaufen sind.
Allerdings flacht der Handlungsverlauf mit der Zeit immer mehr ab. Die Autorin geht keine Risiken ein, bleibt bei dem was sie kennt bzw. weiß und schränkt den Handlungsspielraum ihrer Protagonistin ein. Von dem was sich außerhalb von Jeans, hauptsächlich auf Heim und Job begrenzten, Welt abspielt, bekommt man als Leser nur kleine Schnipsel präsentiert, die es mir schwer gemacht haben, das "Wie und Warum" nachvollziehen zu können. Wie kann es z.B. sein, dass sich diese religiöse Interessengruppe derart durchgesetzt hat und die Regierung soweit geht, Wortzähler zu verteilen und Homosexuelle in Arbeitslager zu verschleppen?
Vieles was in "Vox" angesprochen wird, hat in der Vergangenheit so oder so ähnlich stattgefunden, aber eine Welt zu erschaffen, in der die Schrecken der Gegenwart auf die Schrecken der Vergangenheit treffen, ohne auf die Hintergründe einzugehen, nimmt dem Ganzen für mich die Aussagekraft.

"Plötzlich sind mir der Stromschlag oder die Schmerzen gleichgültig. Wenn ich dabei weiter schreien kann, die Wut aufrechterhalte, das Gefühl mit Schnaps und Wörtern ertränke, wird dann der Strom weiterfließen? Mich umlegen?
Vermutlich nicht. Sie töten uns aus demselben Grund nicht, aus dem sie keine Abtreibungen bewilligen. Wir sind zu einem notwendigen Übel geworden, Objekte, die man vögeln, aber nicht hören soll."

Im Vergleich zu anderen feministischen Romanen, die in einer dystopischen Welt spielen, wie z.B. "Report der Magd" von Margaret Atwood oder "Die Gabe" von Naomi Alderman, hat "Vox" es leider nicht geschafft, mich durchgehend zu fesseln. Das erste Drittel war vielversprechend, aber im weiteren Verlauf wurde es insgesamt dann doch sehr holprig. Ich hatte das Gefühl, dass Christina Dalcher ab irgendeinem Punkt selbst nicht mehr so genau wusste, was für eine Geschichte sie eigentlich erzählen will und sich unsicher war, ob sie auf bekanntem Terrain bleiben oder sich in die Unsicherheiten eines kreativen Freigeistes begeben soll. Herausgekommen ist letztendlich eine bunte Mischung aus Beidem die keinen wirklichen Sinn ergibt und mich mit zu vielen Fragezeichen zurückgelassen hat; und auch die Auflösung am Schluss fand ich mindestens fragwürdig.
Trotz allem ist "Vox" aber ein Buch was ich weiterempfehlen würde, weil es den Blick auf eine mögliche Zukunft richtet, deren Entstehung darauf basiert, dass man es wiederholt zugelassen hat, dass die falschen Menschen die falschen Entscheidungen treffen.

"Monster werden niemals geboren. Sie werden gemacht, Stück für Stück und Glied für Glied, künstliche Kreationen Geisteskranker, die wie der fehlgeleitete Frankenstein immer glauben, sie wüssten es besser."

*an dieser Stelle ein ganz großes Dankeschön an den Fischer Verlag, der mir das Buch als unverkäufliches, unkorrigiertes Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat

Veröffentlicht am 01.08.2018

Butterweiche Urban Fantasy Geschichte jenseits ausgetretener Pfade

Bernsteinstaub
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"Er wusste, dass es bereits begonnen hatte: Mit einem Jungen, der mit einer ungewöhnlichen und furchteinflößenden Gabe auf die Welt gekommen war. Mit einem wundersamen Ort unter den Grundmauern des Amphitheaters, ...

"Er wusste, dass es bereits begonnen hatte: Mit einem Jungen, der mit einer ungewöhnlichen und furchteinflößenden Gabe auf die Welt gekommen war. Mit einem wundersamen Ort unter den Grundmauern des Amphitheaters, den es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Er wusste, dass es beginnen würde: Mit jenem seltsamen Tag, an dem in London die Uhr von Big Ben verkehrt heraum laufen würde. Und er wusste, dass es jetzt, in diesem Augenblick begann: MIt einem Mädchen, das drauf und dran war, alles, was es kannte, hinter sich zu lassen, um einem älteren Ehepaar in einen Abwasserkanal zu folgen." [S. 6]

Inhalt

"Die meisten Leute wären wegen eines bisschen Staubs sicher nicht gleich durchgedreht. Dass meine Mutter mich deswegen über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg musterte, als wäre ich ein Gespenst, beunruhigte mich daher schon ein wenig." [S. 12]

Wenn dir deine Großtante in ihrem changierenden Taftkleid, den Schnabelschuhen und dem riesigen bernsteinbeschmückten Turban eines schönen Tages plötzlich eröffnet, eine sogenannte "Sans-Temps" - eine Zeitlose - zu sein, die nicht nur dazu in der Lage ist, Zeit zu sehen, sondern sie sogar manipulieren zu können, nimmst du am besten erstmal ganz schnell Reißaus oder bittest um den Nachtisch.
Die 16-jährige Ophelia Pedulette entscheidet sich für den Nachtisch, denn entweder ist sie genauso plemplem wie ihre Verwandtschaft, oder an der Geschichte ist doch was dran. Warum sonst sieht sie in letzter Zeit überall diesen merkwürdigen Staub, bei dessen Anblick sie dieses Ziehen in der Gegend ihres Bauchnabels spürt. Und dass der Baum, damals bei dem Unfall vor einigen Jahren, nicht blos umgestürzt sondern geflogen ist, kann sie sich doch auch nicht einfach blos eingebildet haben. Oder?
Um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, lässt sich Ophelia darauf ein, mit ihren schrulligen Verwandten und dem in sich gekehrten Leander nach Rom zum Bernsteinpalast zu reisen, wo in Kürze das sogenannte Bernsteintunier stattfinden soll. Ein guter Ort um heimlich still und leise ein paar Nachforschungen anzustellen denkt sich Ophelia. Doch was sie schließlich herausfindet und mit welchen Gefahren sie sich plötzlich konfrontiert sieht, hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können.

"Zeit ist Staub." [S. 37]

Meine Meinung

Wer lockerleichte Fantasy Geschichten außerhalb ausgetretener Pfade sucht, der kann mit den Büchern von Mechthild Gläser absolut nichts verkehrt machen. Sobald ein neues Buch von ihr erscheint, hat es ein paar Tage später einen Platz in meinem Bücherregal sicher.
Mechthild Gläsers Bücher zu lesen fällt leicht und nach wenigen Seiten ist man, ohne sich groß anstrengen zu müssen, in den fantasievollen Welten abgetaucht.
So auch bei Bernsteinstaub; das nicht nur wegen der wunderschönen Gestaltung des Covers und den passenden Zeichnungen im Inneren aus der breiten Masse heraussticht.
Ich muss zugeben, dass ich mir um das Thema Zeit bislang nie wirklich viel Gedanken gemacht habe. Dieses Phänomen zum Beispiel, dass die Zeit in schönen Momenten an einem vorbeirast und sich in weniger schönen Momenten bis in die Unendlichkeit auszudehnen scheint, kenne ich natürlich auch, aber sowas verbucht man ab einem gewissen Alter halt als eine der vielen Unerklärbarkeiten des Lebens und gut. Es ist einfach etwas, worüber ich aufgehört habe nachzudenken. Umso beeindruckender finde ich, wie die Autorin es geschafft hat, eine mitreißende, zum Teil sehr berührende Geschichte von knapp 460 Seiten zu dem Thema aufs Papier zu zaubern; so konsequent bei dem Thema zu bleiben und auf kreative, herzerwärmende Art versucht, etwas Licht in die Unerklärbarkeiten zu bringen.

"Leander schwieg eine Weile, nicht, weil er nicht wusste, wie er anfangen sollte, sondern weil er daran zweifelte, ob er es überhaupt tun sollte. Die Menschen verstanden es nicht, das wusste er doch. Er hatte es schon einige Male versucht und manche waren freundlich und bemüht oder gar voller Mitleid für ihn gewesen (was er am meisten gehasst hatte). Aber wirklich nachvollziehen, was es bedeutete, wie er zu sein, das konnte niemand." [S. 248]

Die Geschichte ist abwechselnd aus der Sicht von Ophelia und Leander geschrieben (wie gut diese beiden Namen einfach zusammenpassen, sollte ich jemals Kinder bekommen, sind ihnen diese Namen so sicher wie das Amen in der Kirche), wobei ich Leanders Sicht etwas überflüssig, zum Teil sogar als störend empfunden habe; was hauptsächlich daran lag, dass zwischen personaler (Leander) und Ich- Erzählsituation (Ophelia) gewechselt wird. Da die Ich-Perspektive aber überwiegt, hat das meinen Lesefluss nur bedingt gestört.
Etwas schade fand ich, dass die Nebenfiguren seitens der Autorin ein klein wenig stiefmütterlich behandelt wurden, aber das ist wohl dem Handlungsverlauf geschuldet, der Ophelia von einer Aufgabe zur nächsten treibt. Allerdings hätte ich es doch ganz schön gefunden, wenn den Nebenfiguren zum Ende hin noch ein paar Zeilen gegönnt worden wären, nachdem sich der Staub erstmal gelegt hatte; so wirkte das Ende auf mich dann doch etwas zu abrupt.

"Wir mussten der Sache ins Auge sehen: Die Zeit lief rückwärts. Scheiße, wollte ich sagen und konnte es nicht. Nicht einmal blinzeln funktionierte in dem Moment, in dem ich es versuchte. Unterdessen krochen um mich herum Autos und Busse rückwärts durch den Stau, Einkaufstaschen wurden zu Geschäften zurückgeschleppt und ein Kaugummi sprang einem Mädchen vom Gehweg in den Mund hinauf, wo sie ihn von einer Wange in die andere schob. Uh, wie ekelig!" [S. 219]

Ophelia habe ich vom ersten Moment an ins Herz geschlossen. Endlich mal wieder eine 16-jährige Protagonistin, die sich auch tatsächlich wie eine 16-jährige verhält und nicht mit tiefgreifenden Lebensweisheiten jongliert, wo man sich als Leser nach dem Zuklappen des Buches fragt, ob man die entscheidende Abzweigung Richtung Ying und Yang im Leben selbst einfach verpasst hat.
Bei Ophelia ist das nicht so. Sie ist angenehm facettenreich und ihre Persönlichkeit schillert in allen Farben des Regenbogens. Leander wiederrum ist das genaue Gegenteil, was aber immer mehr Sinn macht, je mehr man über ihn erfährt und auch hier zeigt Mechthild Gläser ihre Individualität indem sie zeigt, dass der männliche Protagonist sich anderen gegenüber nicht wie der letzte Holzfäller verhalten muss, blos weil er im Leben zu wenig Zucker geschleckt hat.

"Möge die Zeit mir gehorchen, wie ich ihr." [S. 407]

Im Laufe der Geschichte wird Ophelia mit vielen Geheimnissen konfrontiert und deckt ebenso viele auf. Dass Mitraten und Mitfiebern hat Spass gemacht, auch wenn im Endeffekt nichts wirklich Überraschendes passiert, aber genau das macht einen lockerleichten Roman in meinen Augen aus: sich mittreiben lassen, ohne groß zu Grübeln oder wegen eines unfassbaren Endes total zerstört zu sein.
Trotzdem ist die Mühe, die sich die Autorin mit dem Buch gemacht hat, auf jeder Seite spürbar. Es gibt so viele Bücher, in denen man als Leser irgendwelchen Fragwürdigkeiten ausgesetzt wird, ohne eine Erklärung präsentiert zu bekommen und so etwas sorgt bei mir regelmäßig für Lesefrust statt für Lesefreude. Mechthild Gläser tut das nicht und das ist nur einer der Gründe, warum ihren Büchern auch in Zukunft ein Platz in meinem Bücherregal sicher sein wird.

Fazit

Eine butterweiche Urban Fantasy Geschichte die mir viele schöne Lesemomente beschert hat.

*an dieser Stelle einen ganz lieben Dank an lovelybooks.de, die mir das Buch im Rahmen einer Leserunde zur Verfügung gestellt haben