Falsche Erwartungen
In den WaldDer Wald ist ein Ort der Zuflucht. Er ist wild und unbezwingbar, gefährlich und wunderschön. Er ist ursprünglich und erinnert uns an das, was wir mal waren und was wir sind. In ihm können wir, fernab der ...
Der Wald ist ein Ort der Zuflucht. Er ist wild und unbezwingbar, gefährlich und wunderschön. Er ist ursprünglich und erinnert uns an das, was wir mal waren und was wir sind. In ihm können wir, fernab der Zivilisation, Ruhe und vielleicht auch uns selbst finden. Nicht verwunderlich also, dass der Wald für so viele ein Sehnsuchtsort ist und dass die Flucht in ihn auch in der Literatur wiederkehrendes Motiv ist.
Auch Silvia, Protagonistin in Maddalena Vaglio Tanets Debütroman, geht eines Morgens statt zur Arbeit einfach in den Wald. Kurz zuvor hat sie aus der Zeitung erfahren, dass eine ihrer Schülerinnen sich umgebracht hat - sie ist aus dem Fenster ihrer Wohnung in den Wildbach gestürzt. Und Silvia fragt sich, ob sie nicht mehr hätte tun können, mehr hätte tun müssen für dieses junge Mädchen, das zuhause wenig Liebe, dafür umso mehr körperliche Züchtigungen erfahren hat. Die Scham über ihr Zu-wenig-Handeln treibt sie in den Wald, in den Schutz einer alten Hütte, in der sie Tage und Wochen verbringt, nicht mehr sie, eigentlich überhaupt nicht mehr sein will und sich höchstens noch wünscht, eins zu werden mit dem Wald um sie herum. Im Dorf unterdessen bleibt ihr Verschwinden natürlich nicht unbemerkt, und Silvias Verwandte und Bekannte machen sich auf die Suche nach ihr. Doch wie jemanden finden, der gar nicht gefunden werden will?
Ich hatte meine Schwierigkeiten mit dem Roman, die Lektüre hatte Höhen und Tiefen. Gerade zu Beginn erfordert es eine gewisse Konzentration, den Überblick über die vielen Nebenfiguren nicht zu verlieren und die vielen Nebenschauplätze in einen logischen Zusammenhang miteinander zu bringen. Eine geradlinige Handlung darf man hier nicht erwarten, es gibt Zeitsprünge und jede Menge Perspektivwechsel, auf die man sich einlassen können muss. Der Fokus des Romans liegt einerseits sehr stark auf den Ereignissen vor dem Unglück, andererseits auf der Suchaktion der Angehörigen.
Da bin ich wohl mit etwas falschen Erwartungen herangegangen, denn Klappentext und Leseprobe hatten mich eigentlich einen nature-writing-typischeren Roman erwarten lassen, in dem es vor allem um Silvias Eins-Werden mit dem Wald geht, um die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Natur und Kultur, und am Rande um eine spannende Suche und die Frage, wo (und wer) Silvia eigentlich ist. Das liefert der Roman dann aber leider nur in Ansätzen, oft auf eher undurchsichtige Art und Weise beschrieben.
Das soll nun alles keinesfalls heißen, dass der Roman per se schlecht ist - es gibt dennoch einige sehr gute Stellen, und wäre ich mit weniger oder anderen Erwartungen herangegangen, hätte er mir vielleicht auch gut gefallen. Vielleicht bin ich das also selbst Schuld? Etwas Frieden schließen ließ mich das Nachwort, in dem die Autorin anmerkt, dass der Roman auf wahren Begebenheiten beruht. Insgesamt jedoch bleibe ich eher enttäuscht zurück, mir hat hier einfach zu viel gefehlt. "In den Wald" ist ein Roman über Trauer und Verlust, Schuld und existenzielle Krisen - und leider weniger über den Wald.