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Veröffentlicht am 03.04.2018

Irrtümer der Wirklichkeit

Der General findet keine Ruhe
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Muss man die argentinische Geschichte kennen, um diesen Roman zu verstehen? Ja und nein.

Ja – denn der General, der keine Ruhe findet, ist Juan Perón, Witwer der hierzulande womöglich bekannteren Evita ...

Muss man die argentinische Geschichte kennen, um diesen Roman zu verstehen? Ja und nein.

Ja – denn der General, der keine Ruhe findet, ist Juan Perón, Witwer der hierzulande womöglich bekannteren Evita Perón, und zweimaliger Präsident Argentiniens. Er wurde durch die politische turbulenten 1930er Jahre, das „berüchtigte Jahrzehnt“ (década infame) der Militärputsche, an die Macht gespült und ´gewann 1946 die Wahlen. Seine Politik war eine rechtsgerichtete Form der „Demokratur“ auf Basis der Arbeiterbewegung. Schon 1955 wurde Perón weggeputscht und überwintert achtzehn Jahre im spanischen Exil. Hier, in Madrid, beginnt auch der Roman.

Nein – denn die Geschichte Peróns ist auch die universelle Geschichte eines von seiner historischen Bedeutung durchdrungenen Entmachteten. Oder die eines Mannes, der in großer Gegenwart um eine große Zukunft betrogen wurde, die er beide zurückhaben haben möchte. Perón ist hier mit dem „großen Gatsby“ vergleichbar: „Sie können die Vergangenheit nicht wiederholen.“ – „Nicht wiederholen?“, rief er ungläubig aus. „Wieso, natürlich kann ich!“ Perón hier wie Gatsby scheitern zu sehen, benötigt die argentinische Geschichte nicht. Das Spiel mit der Vergangenheit, der historischen, ja biographischen Wahrheit, die Bedeutung der Geschichte und der Geschichtsschreibung - diese literarischen Themen weisen über den historisch-faktischen Horizont.
Inhalt

Juan Peron kehrt 1973 nach achtzehnjährigem Exil zurück in die Heimat. Er soll und will wieder regieren, anknüpfen an seine große Zeit, als wäre nichts geschehen. Der Roman begleitet den General bei seinen Reisevorbereitungen und seinen Wanderungen in den Erinnerungen. Die Erzählstränge kreuzen sich hier: Perón macht sich auf zur Rückkehr – „Dieses Flugzeug fliegt in Gegenrichtung zur Zeit.“ (S. 19) –, und mit seiner Ankunft in Argentinien endet der Roman. Gleichzeitig führen die Erinnerungen zunächst ganz an Anfang und Vorgeschichte Peróns und tragen seinen Lebensweg und die Handlung des Romans durch die Jahre seiner Jugend, Kadettenzeit und Militärlaufbahn. Der Perón der Vergangenheit wird vorgestellt als einer, der die Zukunft plant, der Perón der Romangegenwart plant seine Vergangenheit, indem er sie umschreibt. (S. 302)

Der Roman zeichnet vor allem Peróns Selbstbild und seine egozentrische Erinnerungskonstruktion nach, ergänzt aber die Ereignisse durch Erzählstränge über Gefolgsleute und den Journalisten Zamora, der die wahre und wirkliche Geschichte hinter Perón aufzudecken beauftragt ist. Die von Zamora ausgegrabene Persönlichkeit Peróns weicht immer stärker von der selbstbeweihräuchernden Geschichtsverbiegung ab, mit der Perón seine Erinnerungen zur Heiligenlegende seiner selbst werden lässt. „Perón und Jesus Christus - ein einziges Herz“. (S. 240)

Dass Perón in seiner Version der Vergangenheit lebt, wird auch im Motiv der im „Heiligtum“ aufgebahrten Evita verdeutlicht: Der Sarg der populären Betörerin der Massen dämmert unter dem Dach des Exils und wird von Perón wie ein Schrein besucht. Es treffen sich hier zwei Geister: jener der verstorbenen Evita und jener Geist Peróns, der sich von dem realen Menschen längst abgelöst hat. Hier blitzt auch kurz – selten genug – der magische Realismus der südamerikanischen Literatur auf. (S. 362 ff., 422) Peróns „Angst vor der Geschichte“ (S. 142) treibt ihn dazu, mit dem Versuch einer zweiten Präsidentschaft das Rad der Zeit zurückzudrehen, die „Irrtümer der Wirklichkeit“ (S. 78) wie etwa den Putsch 1955 gegen ihn ungeschehen zu machen. „Die Geschichte wird mit derjenigen Wahrheit vorlieb nehmen müssen, die ich erzähle“. (S. 71) Sehr geschickt erzählt Martinez, wie Perón für sich die eigene Geschichte aufbessert, indem er mit seinem sinisteren Privatsekretär das Manuskript seiner Memoiren durchgeht und buchstäblich korrigiert. Immer wieder kreist der Roman um die Konstruktion und Dekonstruktion von Geschichte, von Mythos, Erinnerung, Wahrnehmung; bisweilen auch zynisch: „Die Geschichte ist eine Hure. Sie geht immer mit dem, der am meisten zahlt.“ (S. 261) Oder wiederholt im Motiv der Fliegen, die sich zu Unzeiten überall ballen: 4.000 Augen der Fliegen sehen 4.000 Wirklichkeiten. (S. 300)

Das Romanfinale – Peróns Rückkehr – gerät zum Fiasko: Die Menschenmassen, die seine Ankunft in Ezeiza zu Hunderttausenden erwarten, werden aufgestachelt, niedergeschossen, auseinander getrieben, denn zu unterschiedlich sind die Hoffnungen und Visionen, die seine Anhänger mit Perón und seiner Person verknüpft haben: Sie sind Gegner, sogar Feinde im Namen desselben Mannes. Peróns großer Irrtum ist, geglaubt zu haben, zurückzukehren und einfach weitermachen zu können. Der letzte Satz der Handlung aus dem Mund des Journalisten Zamora fasst alles zusammen: „Wir werden nie wieder so sein, wie wir waren.“ (S. 498)

Cover

Auf dem Cover prangt die Schwarzweißfotografie einer Ankleideszene mit Evita im Zentrum, der Giséle Freund eine Brosche ans weiße Kleid heftet, während vom rauchenden Peron gerade einmal die Generalsmanschetten und der Anschnitt des Gesichtes zu sehen sind. In Rosarot schwingt sich geschnörkelt der Titel in Schreibschrift darüber. Als hätte man eine Schmonzette in der Hand. Vollkommen unpassend.

Fazit

Martinez macht es seinem Leser nicht leicht, seinen sperrigen Roman zu mögen, auch wenn zu keiner Zeit außer Frage steht, dass er gut ist. „Der General findet keine Ruhe“ ist wie London im Herbst: eine tolle Stadt, in der man sich wegen des Wetters aber nicht so gern aufhält.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Träume wie Seifenblasen - plop!

Das geträumte Land
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„Für sie war Amerika synonym für Glück.“ (S. 349) Für Jende und Neni Jonga geht es um den amerikanischen Traum: Sie wollen sich eine Zukunft in Amerika aufbauen, wollen die Ärmlichkeit Kameruns hinter ...

„Für sie war Amerika synonym für Glück.“ (S. 349) Für Jende und Neni Jonga geht es um den amerikanischen Traum: Sie wollen sich eine Zukunft in Amerika aufbauen, wollen die Ärmlichkeit Kameruns hinter sich lassen. Jende verdingt sich als Tellerwäscher und Taxifahrer und versucht es mit einem Asylantrag, Neni hat ein Studentenvisum und träumt davon, Apothekerin zu werden. Beide nehmen Mühsal, Arbeit, Unsicherheit und Armut auf sich, um den amerikanischen Traum auch für ihre Kinder wirklich werden zu lassen.

Auf der anderen Seite stehen Cindy und Clark Edwards: Sie ist von Beruf reiche Gattin, er verzockt als Investmentbanker bei Lehman Brothers den amerikanischen Traum an der Wallstreet. Indem Jende Clarks Chauffeur wird, werden die beiden Welten einander gegenübergestellt: Die Einwanderer mit Visionen hier, die weiße Obersicht mit Illusionen dort. Dass die Spiegelglasfassade von Lehman Brothers nur zu bald zerbrechen wird und die Bankenblase an der Wallstreet bald mit einem großen Plop platzen würde, weiß der Leser und erwartet die literarische Gegenüberstellung und den Weg, den ein Roman aus dem Plot weisen kann. Das bleibt leideraus; stattdessen begleiten wir Jende zu oft zur Arbeit, Neni zu ihren Freundinnen und die Edwards ins Ferienhaus, um vor allem immer wider über Alltägliches und gebackene Bananen informiert zu werden.

Die Handlung schlägt mit Finanzkrise um: Clark Edwards verliert seinen Job, Jende ebenfalls, Cindy Edwards verliert das Vertrauen in ihren Mann, Neni ebenfalls. Der amerikanische Traum ist bedroht: Jende und Neni mangelt es an Geld und außerdem droht Jendes endgültige Abschiebung zurück nach Kamerun. Wie kommen die beiden da wieder heraus? Wie können sie ihren Traum doch noch Wirklichkeit werden lassen - er als gemachter Mann in New York, sie als Apothekerin?

Gar nicht. Die Träume zerplatzen einfach wie die Finanzblase der Wallstreet nach einander. Überdies ordnet sich Neni ihrem Mann unter, obwohl er ihr intellektuell und charakterlich unterlegen ist, womit auch der Traum einer modernen, emanzipierten Ehe zerbirst. Fassungslos nimmt der Leser zur Kenntnis, dass plötzlich die Heimat wichtiger sei als der Plan einer besseren Zukunft, dass Jende Neni schlägt und damit durchkommt und dass die ganze Familie auf dem Rollfeld in Limbe, Kamerun, aufsetzt.

Was Mbue in ihrem Debutroman anfänglich aufbaut - das Beziehungsgeflecht zwischen den Jongas und den Edwards und den Paaren untereinander, wird nahezu ungenutzt durch ein anliegenfreies Ende desavouiert. Die Chance, die hohle Bankenfassade der Wallstreet-Haie, die verlogene Oberklassen-Familienidylle, das pseudoliberale Weltbild einer vom Traum auf eine bessere Zukunft getriebenen Einwanderergeschichte gegenüberzustellen und aus dieser Spannung einen bedeutenden Mehrwert zu gewinnen, wird weitestgehend verschenkt.

Mbues Blick für Details macht immer wieder Freude: Wie verhält man sich in einer Bar, wenn man keinen kennt? Wie trägt man eine Krawatte? Was isst man bei Jongas daheim? Darin liegen die Stärken der Autorin, deren Roman ansonsten länglich wirkt und am Ende enttäuscht. Schleierhaft, warum die Kritiker sich allgemein so lobend äußern. Der Originaltitel ist „Behold the Dreamers“ - Schaut Euch die Träumer an. Vielleicht ist das sogar ironisch gemeint? Die Träume platzen, die Finanzblasen platzen, die Hoffnung auf einen guten Roman platzt.

Plop!

Veröffentlicht am 03.04.2018

Die olympischen Götter von der Leine gelassen

Die Chaos-Götter 1: Die Götter sind los
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Wer die Götter des griechischen Pantheon vorher nicht gekannt hat, lernt die Olympier in diesem turbulenten Jugendbuch von ihrer menschlichsten Seite kennen: Denn sie stehen einem sympathischen Jungen ...

Wer die Götter des griechischen Pantheon vorher nicht gekannt hat, lernt die Olympier in diesem turbulenten Jugendbuch von ihrer menschlichsten Seite kennen: Denn sie stehen einem sympathischen Jungen zur Seite, der eigentlich nur seiner kranken Mum helfen will, aber schließlich nichts weniger als die Welt retten muss.

Elliot Hooper ist ein Zwölfjähriger mit außerordentlichen Problemen: Seine Mum ist dement, sein Vater unbekannt, der Familienhof verschuldet, sein Lehrer Mr Boil so ungerecht, wie nur die schlimmsten Lehrer sein können, und dann fällt auch noch das Sternbild Virgo vom Himmel und verwickelt Elliot in das rasanteste Abenteuer. Gemeinsam mit Virgo befreit er versehentlich Thanatos, den Widersacher der olympischen Götter, der sogleich seinen Weltenzerstörungsplan wieder aufnimmt und sich an Zeus rächen will. Elliot, Virgo und Zeus‘ engste Familie eilen nun durch die Handlung, um Thanatos und seinem irren Bruder Hypnos immer einen geflügelten Schritt voraus zu sein. Dabei enthüllt sich andeutungsweise, dass Elliot von einem tiefen Geheimnis umgeben ist, das ihn zur Schlüsselfigur im Kampf der Götter gegen die Dämonen bestimmt hat. Keine Frage - Elliot und seine göttliche Rasselbande schaffen es in diesem ersten Teil, Thanatos‘ Pläne zu durchkreuzen, und man darf gespannt sein, wie die Geschichte in folgenden Bänden weitergeht.

Maz Evans gelingt es, die antiken Götter mit wahrhaft homerischem Gelächter auszustatten und mit vielen kleinen und großen Einfällen eine fantastische und fantasievolle Geschichte zu erzählen. Die naive Neugier, mit der Virgo die Welt der Sterblichen erkundet, wartet mit den entzückendsten Entdeckungen auf; Hermes als tuntiger Modegott sorgt für anhaltende gute Laune; Zeus als sorgloser Lebemann sowie seine immerfort zankenden Töchter Aphrodite und Athene haben ständig tolldreiste Einfälle; und Hephaistos ist der wahre McGywer unter den Olympiern. Aber auch die Menschen haben ihre herausragenden Köpfe: Die Queen von England rockt den Buckingham Palace, als Hypnos seine Tricks versucht, während die verschlagene Nachbarin Mrs Porshley-Plum sich als weitere, ernstzunehmende Widersacherin beweist.

Dass zum Ende hin die Handlung holterdiepolter ein wenig durcheinander gerät und der Klamauk womöglich zu schrill durch die Seiten zwischen den als Blickfänger gestalteten Buchdeckeln gellt, verzeiht man der bunten Erzähllust der Autorin gern. Auch angesichts solcher Sätze wie dieser:
„Es blieb ein ewiges Rätsel, ob Hypnos blinzeln konnte oder nicht, weil niemand die Augen lange genug aufhalten konnte, um ihm auf die Schliche zu kommen.“ (S. 197)

„Ein Unsterblicher, der seine kardia verliert, kann sterben! Er kann getötet - oder noch schlimmer - Buchhalter werden!“ (S. 57)

„Die Götter sind los“ sind ein witziges, geistreiches Abenteuer nicht nur für junge Leser oder Leser, die vom Lateinunterricht gezeichnet sind, sondern für alle, die einen sympathischen Helden und seine göttliche Rasselbande beim Retten der Welt begleiten wollen.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Die Leinwand der Geschichte - gekonnt bemalt

Das letzte Bild der Sara de Vos
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„Das letzte Bild der Sara de Vos“ ist ein sowohl kunstvoller Roman als auch ein Roman über Kunst auf drei Zeitebenen: 1636/37, 1957/58 und 2000. Sara de Vos war eine der wenigen holländischen Malerinnen ...

„Das letzte Bild der Sara de Vos“ ist ein sowohl kunstvoller Roman als auch ein Roman über Kunst auf drei Zeitebenen: 1636/37, 1957/58 und 2000. Sara de Vos war eine der wenigen holländischen Malerinnen des Goldenen Zeitalters, Mitglied der Lukas-Gilde Amsterdams und ist ansonsten frei erfunden. Ihr vermeintlich einziges überliefertes Werk „Am Saum des Waldes“ steht im Zentrum aller Zeitebenen: als es entsteht, als es gefälscht wird und als es schließlich erneut mit dem Original ausgestellt werden soll. Die beiden späteren Zeitebenen sind durch die handelnden Personen verbunden: Es sind dieselben Ellie Shipley und Marty de Groot, die einander nach vierzig Jahren wieder begegnen.
Dem Autor Dominic Smith würde es gewiss gefallen, wenn man seinen Roman mit der Entstehung eines Gemäldes vergleichen würde: zunächst das Aufspannen der Leinwand, die Skizze, dann die Grundierung, die Schattierungen, Auftragen dunklerer Töne, dann der helleren Flächen, schließlich der Details und Miniaturen, wobei Farbenspiel und Texturenlandschaften entstehen. Ähnlich ist der Roman aufgebaut, indem die Zeitebenen einander abwechseln und die Geschichte vom Allgemeinen zum Besonderen findet. Man erfährt, wie Ellie das Gemälde fälscht, wie Marty dahinterkommt, die Fälscherin vorführt und schließlich verführt und wie ein romantisches Band zwischen beiden bis zur Jahrtausendwende besteht, obschon sie einander verletzt haben.
Aber wie selbst die großen holländischen Meister kann Smith nicht alles gleich gut: Während die jüngeren Erzählebenen gut gelungen sind, während Ellie und Marty plastisch, glaubwürdig und tiefenscharf geraten sind, bleibt Sara de Vos als Frau des 17. Jahrhunderts das Abziehbild einer modernen Frau in Amsterdamer Bürgerstracht von 1637. Während etwa die ironische Schilderung der von Ellie und Marty besuchten Auktion gleichzeitig die Figuren stärkt und den Kunstauktionsbetrieb aufs Korn nimmt (S. 185-196), verkümmern Saras Versuche, ihre Ehe zu retten, ihre Bilder zu verkaufen oder sich dem menschenleeren Heemstede zu nähern, irgendwie im Behaupteten. Einzig die Trauer um die verlorene Tochter und die Gedanken über das im Zentrum stehende Bild „Am Saum des Waldes“ leuchten voller starker Bedeutung und sprachlichem Können: Wie die sterbende Tochter steht das Mädchen im Bild „am Saum des Waldes“, zwischen Leben und Tod, zwischen Wahrheit und Behauptung, zwischen Kunst und Wirklichkeit. Mit diesem Kunstwerk, dem vermeintlich letzten Bild der Sara de Vos, und dessen Ebenen hat Smith ein tragfähiges Konstrukt erschaffen, das auch in der Frage Original/Fälschung oder Loyalität/Betrug für die beiden späteren Zeitebenen als Grenzmetapher taugt und Bedeutungsebenen erschließt. Immer wenn es um den Prozess des Malens geht, ist der Roman stark; ebenfalls in der zwischenmenschlichen Spannung zwischen Ellie und Marty sowie der Ellie von 1958 und jener von 2000 ist der Roman gelungen. Ist es der Übersetzung geschuldet, dass man sich für Saras Zeit eine andere Sprache und einen weniger modernen Ton gewünscht hätte?
Ein paar Worte zum Lektorat: Schon im Englischen hätte auffallen müssen, dass man Ellie nicht vorwerfen kann, keine Musik des 20. Jahrunderts zu hören, wenn sie doch Platten von Igor Strawinsky (1882-1971) und Sergej Rachmaninow (1873-1943) nei sich liegen hat (S. 234). Im Deutschen stören die häufigen Wortwiederholungen (z.B. S. 149), die redundanten Kapiteleingänge sowie der Gebrauch falscher indirekter Rede (etwa S. 232).
Das Buch ist sehr schön gestaltet; mit einem Lesebändchen gewinnt man sowieso stets mein Wohlwollen, erst recht aber mit dem klar weißen Papier, das eine feine Textur wie Leinwand hat, die zudem den Umschlag dominiert, der aussieht und sich anfasst wie ein Stück Leinwand.
Alles in allem also ein schönes, wenn auch kein brillantes Buch über Kunst und Liebe zur Kunst, über Original und Fälschung sowie Romantik vor dem Hintergrund des holländischen Goldenen Zeitalters.
Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Überall herrscht Krieg, die ganze Zeit, in jedem von uns

Die Zeit der Ruhelosen
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"Die Zeit der Ruhelosen“ lässt Karine Tuil mit dem Einsturz der Twin Towers in New York beginnen, einem markanten Moment der Zeitenwende, auf den der Krieg in Afghanistan folgt, im zweiten kapitel und ...

"Die Zeit der Ruhelosen“ lässt Karine Tuil mit dem Einsturz der Twin Towers in New York beginnen, einem markanten Moment der Zeitenwende, auf den der Krieg in Afghanistan folgt, im zweiten kapitel und geschrieben in der 2. Person. Ein starker, programmatischer Beginn, denn er markiert die Dimensionen der Zeitläufte, die Tuil ihrem Roman gewährt, und den erzählerischen Kontext, der auf die drei Protagonisten des Romans einwirkt. Dies sind der millionenschwere Unternehmer Francois Vély, der traumatisierte Afghanistanheimkehrer Romain Roller und der aus den elenden Banlieues von Paris stammende Jungpolitiker Osman Diboula, dessen Eltern von der Elfenbeinküste nach Frankreich eingewandert waren.

In drei sich am Ende kreuzenden Erzählsträngen verfolgen wir, wie die so unterschiedlichen Lebensläufe der drei Männer zerbersten: Francois Vély gerät durch einen Presseskandal ins gesellschaftliche und unternehmerische Abseits, bei dem ihm alle Handlungsmomente entgleiten. Ihm werden Rassismus, Sexismus und Ausbeutertum vorgeworfen und schließlich in einem Rückfall in mehrheitsfähigen Antisemitismus seine jüdischen Wurzeln (Vély <-> Levy) gegen ihn gewendet. Derweil zerbricht die Beziehung zu seiner Ehefrau Marion Decker, die wiederum eine Affäre mit dem Afghanistan-Heimkehrer Romain Roller beginnt. Dieser ist innerlich am Tod seiner Kameraden und Untergebenen zerbrochen und findet sich als Soldat im Zivilleben nicht mehr zurecht. Seine totale Entfremdung von dem, was ihm zuvor Familie und Zuhause gewesen ist, lässt ihn in stärkste Gefühle für die neue und vergangenheitslose Affäre ausbrechen. Er verdingt sich als Söldner bei einem privaten Sicherheitsunternehmen im Irak. Osman Diboula erlebt als engagierter Sozialarbeiter einen rasanten Aufstieg in die inneren Zirkel der politischen Macht Frankreichs: Er entflieht dem Elendsviertel und wird Berater des Präsidenten, fällt jedoch in Ungnade, weil er den Zorn des Einwanderersohns über die omnipräsenten rassistischen Ressentiments nicht unterdrücken kann. Vélys Skandal gibt ihm die Möglichkeit, erneut politisch Fuß zu fassen, indem er den antisemitistischen Mechanismus des öffentlichen Skandals anprangert. Die Romanhandlung kulminiert in einer Reise in den Irak, bei der in aller drei Leben erneut ein Wendepunkt eintritt.

Das verbindende Thema der drei Erzählstränge ist die Identität (S. 283): Wie kann man diese finden und bewahren angesichts der ruhelosen Zeit, die auf den Einzelnen mit Schicksalsschlägen einhämmert? „Überall herrscht Krieg, die ganze Zeit, in jedem von uns.“ (S. 333) Tuil führt vor, wie in kurzer Zeit in drei Leben fundamentale Identitätskrisen die Persönlichkeiten verändern, und lässt den Roman mit dem Fazit enden, dass dadurch ein Teil des Menschen für immer verloren gehe, nämlich „das, was von der Kindheit übrig geblieben war. Die Unbeschwertheit.“ (S. 499).

Aber stimmt das überhaupt?

Tuil versteht es, den Leser mit ihren ausholenden Handlungssträngen und den markanten Figuren zu packen und ihre Straße hinunterzuzerren. "Hinunterziehen" ist sowieso das Stichwort, denn die drei Männer (und der Leserf) erleben eine deprimierende Katastrophe nach der anderen. Und zwar in großen wie in kleinen Maßstäben. Es sind aber gerade die großen, die stutzig machen: Benötigt man tatsächlich 9/11, Afghanistan, Korruption, Rassismus, Antisemitismus und politische Bigotterie auf Präsidialebene, braucht es transatlantische Fusionsverhandlungen, KZ-Überlebende, den Irakkrieg, islamistische Entführungen, von Bomben zerfetzte französische Soldaten, den ganzen, vollständigen gesellschaftlichen Diskurs in Frankreich aus den letzten zehn Jahren? Tuil zitiert auf S. 484: „Proust spricht von dem nützlichen Unglück, das man in Literatur verwandeln kann.“ Man hat den Eindruck, dass die Autorin aus diesem Grund ein bisschen zu viel Unglück erfunden hat, um etwas zu erzählen, was größere Literaten mit kleineren Kalibern erledigen: nämlich darzustellen, dass man seiner Herkunft und seiner Identität nicht entfliehen kann.

Im Ganzen ist der Roman meines Erachtens zu groß geraten. Auf den ersten einhundert Seiten ist Tuil zudem erzählerisch unter ihrem später bewiesenen Niveau geblieben, indem sie eine Behauptung nach der anderen aneinanderreiht, um die Personen zu charakterisieren, statt sie handeln und sprechen zu lassen. Dieser Roman wird die Zeit nicht überdauern, seine Bedeutung ist ganz an die Aktualität der Gegenwart (in Frankreich) gekoppelt. Darum sollte man ihn jetzt lesen, dann immerhin lohnt es sich.