Man hat immer eine Wahl
DrahtseilaktManche Geschichten brauchen keine 500 Seiten, um ihre volle Wirkung zu entfalten – „Drahtseilakt“ von Stefan S. Kassner ist der beste Beweis dafür. In dieser kurzen, aber sehr gelungenen Novelle spricht ...
Manche Geschichten brauchen keine 500 Seiten, um ihre volle Wirkung zu entfalten – „Drahtseilakt“ von Stefan S. Kassner ist der beste Beweis dafür. In dieser kurzen, aber sehr gelungenen Novelle spricht der Autor Themen wie Identität, Religion und Selbstbestimmung an. Alles in einer emotionalen Geschichte, die mich von der ersten Seite an gepackt hat. Besonders beeindruckt hat mich, wie universell Jonas’ Kampf um seinen eigenen Weg wirkt – es geht nicht nur um LGBTQ+-Themen, sondern um die Frage, wie viel wir für unser wahres Ich riskieren würden.
Jonas wächst in der abgeschotteten Glaubensgemeinschaft „Children of God“ auf, in der jedes Leben vorherbestimmt ist. Sein Übergang ins Erwachsenenleben wird durch ein rituelles Drahtseilgehen über eine Schlucht besiegelt – auf der anderen Seite wartet bereits seine zugewiesene Ehefrau. Doch Jonas weiß, dass er sich etwas vormacht. Er liebt Phil, nicht sie. Doch sein Herz steht im direkten Konflikt mit den strengen Regeln der Gemeinschaft. Seine Entscheidung: Sich anpassen oder sich befreien – und dafür vielleicht alles verlieren?
Stefan Kassner schafft es auf wenigen Seiten, eine dichte Atmosphäre aufzubauen und Jonas’ inneres Ringen mit einer Klarheit darzustellen, die unter die Haut geht. Jeder Satz sitzt und jedes Wort scheint sorgfältig ausgewählt. Die Novelle liest sich wie ein stiller Schrei nach Freiheit – ein Schrei, den bestimmt jeder von uns schon gehört hat.
Ohne zu viel zu verraten – „Drahtseilakt“ ist keine Coming-out-Geschichte mit rosarotem Happy End. Vielmehr zeigt die Geschichte, dass jeder Schritt in Richtung Selbstbestimmung Opfer fordert. Und sie geht anders aus, als erwartet. Aber sie macht auch klar: Die Wahl liegt immer bei uns.
Fazit: Ein literarisches Kleinod, das tief berührt und lange nachwirkt. Sie ist ein Plädoyer für Selbstbestimmung, für Mut und für die Freiheit, zu lieben, wen immer wir auch lieben.
10/10 – kurz, aber mit maximaler Wirkung.