Zwei Schwestern in Sarajevo
Der Sohn und das Schneeflöckchen"Der Sohn und das Schneeflöckchen" ist der Debütroman der deutsch-bosnischen Schauspielerin und Autorin Vernesa Berbo. Als ich diesen großartigen Roman gelesen habe, konnte ich kaum glauben, dass das ihr ...
"Der Sohn und das Schneeflöckchen" ist der Debütroman der deutsch-bosnischen Schauspielerin und Autorin Vernesa Berbo. Als ich diesen großartigen Roman gelesen habe, konnte ich kaum glauben, dass das ihr allererstes Buch sein soll: so spannend geschrieben, so authentische Figuren, denen man sich nahe fühlt und mit denen man mitfiebert, vor einem zutiefst bestürzenden und tragischen Hintergrundsetting, das vom ersten Augenblick an lebendig wird.
Ich habe nun beim Lesen mehrere Tage innerlich mit der Autorin und ihren Figuren im besetzten Sarajevo der 1990er Jahre verbracht und bin zutiefst berührt. Das Thema ist kein neues für mich, ich habe selbst kurz nach dem Krieg diese Gegend mehrmals bereist, mit vielen Menschen darüber gesprochen und spreche die Sprache(n). Und doch schreibt Vernesa Berbo in einer Art darüber, die mich noch einmal auf eine neue Art und Weise zutiefst im Herzen erreicht hat.
Während es in den 1990er Jahren in vielen Ländern Europas unglaublichen Wohlstand, Demokratie, Freiheit und Frieden gab, Deutschland sich wiedervereinigte und die Tschechoslowakei sich friedlich in zwei neue Länder aufspaltete, tobte am Balkan ein erbarmungsloser Bürgerkrieg, von dem Bosnien-Herzegowina und insbesondere Sarajevo besonders schwer betroffen war. Die Stadt liegt in einem Tal, umgeben von Bergen, und war ein Musterbeispiel für das multiethnische und multireligiöse Jugoslawien, in dem Serben, Kroaten, Bosnier, Roma, Juden und weitere Nationalitäten und Religionsangehörige friedlich zusammenlebten, miteinander befreundet waren, zusammen arbeiteten, nebeneinander lebten und sogar einander heirateten. Wer was war, das spielte lange keine Rolle, so dachten viele Menschen... bis es auf einmal anders war.
Sarajevo wurde mehrere Jahre lang belagert, in den Bergen lauerten unzählige Scharfschützen, die auf die Menschen zielten, sobald sie auf der Suche nach Nahrung oder Wasser ihre zerstörten Häuser verließen. Menschen wurden verschleppt, vergewaltigt, umgebracht. Und lange gab es für die Eingekesselten kaum eine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen und zu fliehen.
Wir erleben die Zeit vor dem Krieg, die Belagerung aus Sarajevos und die Perspektive dreißig Jahre später durch die Augen zweier Schwestern: die ältere Dijana, immer schon tough gewesen und von ihrem Vater "Sohn" genannt, und ihre geliebte Familie und Heimat verteidigen, wird sich als Freiwillige den Soldaten anschließen, in die Wälder gehen und für Sarajevo kämpfen. Suada hingegen, genannt "Dada", wirkt zarter und zerbrechlicher, wird deshalb "Schneeflöckchen" genannt. Die Schwestern lieben sich inniglich und doch wird der Krieg vieles mit sich bringen, das das Potential in sich trägt, sie voneinander zu entfernen.
Das Buch hat über 400 Seiten, durch die ich nur so geflogen bin. Ich konnte es kaum aus der Hand legen, so gut geschrieben und spannend war die Lektüre und so sehr habe ich mit den Schwestern, den anderen Menschen im belagerten Sarajevo und ihrem Schicksal mitgefiebert. Trotz der tragischen Hintergrundkulisse ist es nicht nur ein trauriges Buch, sondern auch voll Humor, Warmherzigkeit und berührender Momente zwischenmenschlicher Begegnungen. Es ist ein großartiges Buch zu einem äußerst wichtigen Thema, das zu Unrecht viel zu wenig Platz im Bewusstsein vieler Europäerinnen und Europäer hat.
Es geht auch um das sehr wichtige Thema Trauma und innere Abspaltung, die es mit sich bringen kann, Täter/in oder Opfer zu werden, und um die Frage, ob und wie wir uns dabei unseren innersten Kern bewahren können. Damit haben beide Schwestern auf ihre Weise zu kämpfen, diese Stelle zeigt, was Dijana vermittelt wird, als sie sich entscheidet, mit der Waffe, die sie "Jana" nennt, um ihre Heimatstadt zu kämpfen:
"Jana denkt für dich, sie entscheidet für dich, sie tötet, nicht du. Ohne Waffe bist du wieder das friedliche Wesen von früher, unschuldig, gut, das Wesen, das liebt und beschützt. Du verteidigst nicht nur unsere Frontlinie und dein nacktes Leben, sondern auch dieses unschuldige Wesen, du bewahrst es für später, als Reserve, damit du, wenn du überlebst, weiterleben kannst. Pass auf dich auf, töte nicht aus Lust." (S. 219 im E-Book)
Ich kann dieses großartige Buch allen, die sich für das Thema interessieren nur wärmstens empfehlen, denn es hilft, zu verstehen, wie viel Trauma Menschen aus dieser Zeit bis heute mitschleppen, es lehrt Dankbarkeit für das, was uns in Mitteleuropa erspart blieb und Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine und weiteren Kriegsgebieten, die gerade in diesem Moment ähnliche Traumata erfahren müssen. Persönlich wünsche ich mir weitere Bücher von dieser tollen Autorin, die so gut schreiben kann und so viel zu sagen hat.